06. Mai 2021
16 Jahre lang schien Angela Merkel alternativlos. Am Ende ihrer Amtszeit wirkt der Übergang zu Schwarz-Grün unvermeidlich. Doch wie es nach der Ära Merkel weitergeht, ist noch nicht entschieden.
Die letzten Tage des Merkelismus sind gezählt. Die Bilanz zeigt: Auf Prognosen ist nicht immer Verlass.
Mit Olaf Scholz, Annalena Baerbock und Armin Laschet stehen nun die Kanzlerkandidaturen von SPD, Bündnis 90/Die Grünen und CDU/CSU fest. Aber in welcher Lage geht das Land in diese Wahl? Welche gesellschaftlichen Entwicklungen werden sich in der bevorstehenden Jahresmitte besonders niederschlagen?
In einer Spitzenrunde der CDU soll der unterlegene Kandidat für den Parteivorsitz Norbert Röttgen gesagt haben, es ginge bei der Wahl des Kanzlerkandidaten der Unionsparteien nicht bloß um die anstehende Bundestagswahl. Verliere die Union die Wahl, werde die politische Landkarte in Deutschland insgesamt neu gezeichnet. Mit der erstmaligen und durchaus nicht aussichtslosen Nominierung einer grünen Kanzlerkandidatin können wir bereits beobachten, wie sich die Konturen dieser Landkarte vor unseren Augen verändern. Voreilige Schlüsse sollte man jetzt dennoch nicht ziehen. Denn wenn uns die Ära Merkel eines gelehrt hat, dann dass Wählerinnen wie auch Parteien mitunter sehr eigensinnig und unbeständig agieren.
Das veränderte Wahlverhalten führte dazu, dass innerhalb eines Jahrzehnts Parteien wie die FDP, die 2009 ihr bestens Bundestagswahlergebnis erzielte, krasse Aufstiege erlebten aber auch heftigste Abstiege – so flog die FDP 2013 erstmals aus dem Bundestag. Gekrönt wurde diese wechselhafte Entwicklung nur noch von einem der seltsamsten Comebacks der Politik, dem Hype um Christian Lindner im Jahr 2017. Zugleich überraschten die Parteien, als sie sich weigerten, sich ihrer erwarteten Rolle zu fügen – etwa als sich die FDP aus den Sondierungsgesprächen für eine Jamaika-Koalition verabschiedete oder als die SPD trotz heftigster innerer Widerstände ihren Wiedereintritt in die schwarz-rote Koalition bekannt gab.
Schon vor dem Ende der Ära Merkel begann die Erosion des »Merkelismus«. Gemeint sind damit nicht nur Stil und Methoden des Regierens von Angela Merkel, sondern vielmehr das Verhältnis der regierten Bevölkerung zu ihr. So wurden im »Merkelismus« alle erdenklichen politischen Entwicklungen ursächlich Merkel zugeschrieben – ganz gleich, ob die Kanzlerin für sie verantwortlich war oder nicht. Trotz einigen Raunens fühlte sich die CDU damit im Grunde ganz gut, denn solange Merkel weiten Teilen der Bevölkerung als alles absorbierende Projektionsfläche diente, konnten sich die Unionsparteien sicher sein, das Kanzleramt zu besetzen.
Dafür wurde auch in Kauf genommen, dass es stets Merkels oberste Priorität war, bestehende und potenzielle gesellschaftspolitische Konflikte möglichst schnell zu glätten. So ließ sie etwa Positionen der SPD zur Mietpreisbremse, zum Mindestlohn oder zur Ehe für alle durch und nahm sich heraus, andere Probleme solange »auszusitzen«, bis der Handlungsdruck tatsächlich zu groß wurde. Ihrem Vor-Vorgänger Helmut Kohl war sie darin sehr ähnlich.
Spätestens seit der »grünen Welle« bei den Landtagswahlen von 2018 wurde deutlich, wie schlecht es um die Christdemokratie tatsächlich steht. Nicht erst der plötzliche Rücktritt von Merkels erster Nachfolgerin Annegret Kramp-Karrenbauer offenbarte die Widersprüche innerhalb der CDU. Die Defizite zeigten sich auch bereits an dem nur knappen Scheitern von Friedrich Merz bei der Wahl um den Unionsvorsitz. Mit Friedrich Merz hatte Annegret-Kramp-Karrenbauer nur knapp einen faktischen Zombie-Kandidaten übertrumpft.
Die Glanzjahre von Merz waren um die Jahrtausendwende, als der offensive Neoliberalismus zu Hochformen auflief. Mit der Weltfinanzkrise hatte er dann aus Frust über die angebliche »Sozialdemokratisierung« der CDU unter Merkel das Handtuch geworfen. Wie konnte jemand, dessen politisches Profil gesamtgesellschaftlich so sehr aus der Zeit gefallen war, noch so viel Unterstützung in der Partei finden?
Noch deutlicher wurde die inhaltliche und personelle Auszehrung der CDU im zweiten Anlauf der Merkel-Nachfolge. Armin Laschet war weder beim Rennen um den Vorsitz noch beim Ringen um die Kanzlerkandidatur der »Kandidat der Herzen«. Er war lediglich der einzige Aussichtsreiche, um Friedrich Merz als CDU-Oberhaupt zu verhindern. Mit Laschet hoffte man auch, den Charakter einer »Volkspartei« nicht noch weiter einzubüßen und sich als Bündnispartner für die Grünen in Stellung bringen zu können.
Konservative und christdemokratische Parteien profilieren sich oftmals weniger durch eigene Inhalte als durch Auseinandersetzungen mit ihren fortschrittlichen Gegnerinnen und Gegnern. Jetzt aber rächte sich, dass SPD und Bündnisgrüne die Kanzlerin während der gesamten Ära Merkel nur mit Samthandschuhen angefasst haben – abgesehen von peinlichen Patzern wie Martin Schulz’ missglücktem Vorwurf vom »Anschlag auf die Demokratie«, den ihm seine Beraterinnen und Berater während des Wahlkampfes 2017 in den Mund legten.
Die SPD ist als Spätfolge ihrer bald 16-jährigen Selbstverzwergung auf um die 15 Prozent in der Sonntagsfrage abgesunken. Bündnis 90/Die Grünen dagegen umgibt eine Aura der Unverwüstlichkeit, als hätten sie Angela Merkels politischen Teflon-Mantel geerbt. Während sie 2013 mit ihrem moderaten Umverteilungsprogramm bei der Bundestagswahl auf damaliges »Normalmaß« zurechtgestutzt wurden, können den Grünen in ihrem derzeitigen Höhenflug bisher sämtliche Vorwürfe, sie würden deutlich nach links rücken, scheinbar nichts anhaben.
Die CDU wird derweil in ihrem politischen Bewegungsspielraum durch die Entwicklung der AfD eingeschränkt. Nach mehreren Häutungsprozessen hat sich diese deutlich in eine radikal rechte Björn-Höcke-Partei entwickelt. Eine Zusammenarbeit mit ihr hätte einen bundesweiten Skandal, zahlreiche Parteiaustritte und allergrößte innerparteiliche Verwerfungen zur Folge, wie die vorübergehende Wahl von Thomas Kemmerich zum thüringischen Ministerpräsidenten 2020 bereits andeutete.
Vor all diesen Problemen konnte sich die CDU über das gesamte erste Jahr der Corona-Pandemie wegducken. Corona reaktivierte noch einmal die wahrscheinlich wichtigste Motivation, die hinter der Wahl der CDU steht: »Keine Experimente!« In den Umfragen sprachen zwischen 35 und 40 Prozent der Befragten den Unionsparteien ihr Vertrauen aus – ein Wert, der noch zuvor kaum für möglich gehalten wurde. Vielleicht wollten sich die Wählerinnen und Wähler die CDU auch einfach nur schönreden. Schließlich ist es beruhigender, darauf zu vertrauen, dass sie die stärkste Regierungspartei schon heil durch diese Krise führen werde. So hatte die CDU schon zu früheren Zeite ihre Siege eingefahren: Im Sinne einer selbsterfüllenden Prophezeiung war sie erfolgreich, weil sie erfolgreich war. Das funktionierte so lange die Wählerinnen und Wähler nicht mehr erwarteten, als dass die CDU/CSU Handlungsbereitschaft signalisierte und nicht wirksam politisch herausgefordert wurde, etwa durch einen fortschrittlichen Block.
Eben diesen zu bilden, hatten SPD und Bündnis 90/Die Grünen für die meiste Zeit der Ära Merkel stur verweigert, was sich vor allem durch ihre Ausgrenzung der LINKEN zeigte. Der zeitweise Höhenflug der CDU/CSU im Zuge des Pandemie-Managements schaffte allerdings für die Christdemokratie eine Fallhöhe, von der es irgendwann nur noch bergab gehen konnte. Und das erfolgte dann überraschend schnell. Mit dem weltweiten Beginn der Impfkampagnen wurde im Vergleich schnell ersichtlich, dass andere Länder diese Ausnahmesituation scheinbar besser bewältigten und die diversen Auflagen zur Corona-Eindämmung schneller würden aufheben können. Die CDU/CSU hatte nicht »geliefert« und fiel daraufhin in der Gunst der Wählerschaft auf Umfragewerte von Vor-Corona-Zeiten zurück.
Während sich Merkel bei vormaligen Krisen durch ihr Veto in der EU behaupten konnte, fand sich die Kanzlerin nun in einer Lage wieder, in der sie allein wenig ausrichten konnte: Im Kontext des deutschen Föderalismus war nun sie diejenige, die um politische Schlüsse werben musste. Umzingelt von Ministerpräsidentinnen und Ministerpräsidenten musste sie vor allem Appelle aussprechen – und das tat sie mehr schlecht als recht. Wie dünn die Basis der Umfrage-Erfolgsserie der CDU gewesen war, zeigte sich indessen bereits an den Wahlergebnissen auf Kommunal- und Landtagsebene. Denn vom Nimbus der Krisenmanagerin profitierte Merkels Partei keinesfalls.
Vor diesem Hintergrund verwundert auch nicht, mit welcher Heftigkeit der Kampf um die Kanzlerkandidatur im April 2021 innerhalb und zwischen den Unionsparteien ausgefochten wurde. Markus Söder hatte bis zum letzten Moment immer abgestritten, Kanzlerkandidat werden zu wollen. Nachdem er sich dann doch dazu bereit erklärte, verteidigte er seine unionsinterne Bewerbung lange ohne Rücksicht auf Verluste. Söder ließ sich in der Bundestagsfraktion von einer deutlichen Mehrheit der Wortmeldungen als der geeignetere Kandidat begrüßen.
Während die CDU-Spitze Armin Laschet bevorzugte, wandte sich Söder – am Gremium vorbei – an die unteren Parteifunktionäre. Im Stile der rechtspopulistischen Beschwörung einer »schweigenden Mehrheit«, gab Söder vor, für die »Basis« zu sprechen – und forderte, eben diese zu befragen. Am Ende gab sich Söder (nicht ohne die CSU-üblichen, wenig subtilen Seitenhiebe gegen die größere Schwesterpartei) erst geschlagen, nachdem er bereits das Bild der Geschlossenheit von CDU/CSU und das durchsetzungsfähige Image von Armin Laschet empfindlich beschädigt hatte. Um den Söder-Zug zu stoppen, musste Laschet das Präsidium und den Parteivorstand der CDU zu einer Notsitzung berufen, die ihn zu spätester Stunde zum Kanzerkandidaten kürte.
Für Unionsverhältnisse ist dies eine ungewöhnlich »ehrliche« Kandidatur insofern, als der tatsächliche Kandidat im Schatten eines »Kandidaten der Herzen« steht, wie Söder aus der CSU heraus getauft wurde. Söder kann nun eigentlich nicht mehr verlieren, Laschet dagegen muss gewinnen. Andernfalls wird die von Norbert Röttgen befürchtete Veränderung der »politischen Landkarte« sehr wahrscheinlich dem Scheitern des CDU-Vorsitzenden zugerechnet werden.
Laschet und Söder gerieten aneinander, weil am Ende der Ära Merkel erstmals auseinanderfiel, was sonst meist eine Einheit bildete: Auf der einen Seite standen die Umfragemehrheiten und Kompetenzzuschreibungen zugunsten eines Kandidaten sowie die Aussicht vieler Bundestagskandidatinnen und -kandidaten, ihre durch den Erfolgskurs der Bündnisgrünen wackelig gewordenen Direktwahlkreise doch noch gewinnen zu können; auf der anderen Seite befürchtete die Union, das Ansehen des gerade erst gewählten Vorsitzenden, der als der politische Erbe der Ära Merkel gilt, durch fehlende Unterstützung zu beschädigen. Unterm Merkelismus waren Kontinuität und machtpolitisch sichere Wahlentscheidungen noch in einer Person vereint – heute nicht mehr.
Inhaltlich musste Laschet sich ein neues Profilierungsfeld suchen. Denn die Agenda einer gesellschaftspolitischen und vor allem einer migrations- und integrationspolitischen Öffnung, die er als Landesminister unter Jürgen Rüttgers in Nordrhein-Westfalen zwischen den Jahren 2005–2010 vorangetrieben hatte, ist weitgehend eingelöst. Deswegen hat der Aachener umgesattelt. Dieser Tage tritt er als Schutzpatron der Unternehmen auf, um diese vor angeblich zu hohen Belastungen zu schützen. Dahinter steckt vielleicht die Hoffnung, den alten Ruf der »Wirtschaftskompetenz« der Union wiederzubeleben. Allerdings ist mehr als fraglich, ob Laschet damit sehr weit kommt. Selbst in der eigenen Partei kauft man ihm sein neues wirtschaftspolitisches Profil nicht ohne Abstriche ab.
Zudem ist ungewiss, ob »Zurück zur Normalität« tatsächlich eine Message ist, mit der man die Herzen und Köpfe der Wählerinnen und Wähler gewinnen kann. Denn zur Bewältigung der Corona-Pandemie wurden zuletzt erst massive wirtschaftspolitische Interventionen vorgenommen. Auch sollte Laschet aus der Erfahrung Merkels von 2005 sowie der FDP von 2009 gelernt haben: Wenn Laschet durch sein Auftreten tatsächlich bei einem relevanten Teil der Wählerinnen und Wähler wirtschaftsliberale Erwartungen weckt – mit wem will er sie einlösen? Eine schwarz-gelbe Mehrheit im Bund ist aussichtslos, und in allen übrigen Koalitionskonstellationen im Bund müsste Laschet die Versprechen von Deregulierungen und Steuersenkungen ziemlich sicher enttäuschen.
In der Gegenüberstellung der Ausgangskonstellation vor Beginn und vor Ende der Ära Merkel sticht eine Ähnlichkeit ins Auge: Auch Angela Merkel wurde 2005 mehr aus der Not der Lage heraus – angesichts eines vorzeitig aufgelösten Bundestages – denn aus inbrünstiger Überzeugung ihrer Partei zur Kanzlerkandidatin gekürt. Im Unterschied zu heute standen aber damals alle Bundestagsparteien im Bann des Neoliberalismus und vertraten unterschiedliche Varianten der Agenda 2010. Am Ende der Ära Merkel hat sich der Neoliberalismus abgewirtschaftet, das Friedrich Merz-Programm ist ein Verlierer-Ticket. Selbst die stärksten Hinterlassenschaften der Agenda 2010 – die Schuldenbremse, Hartz IV und die Verschlechterungen der gesetzlichen Rente – stehen heute zur Disposition. Sie werden nicht mehr aus einer Minderheitenposition heraus kritisiert, wie noch im Jahr 2005 von der LINKEN. Heute reicht die Kritik bis weit in SPD und Bündnisgrüne hinein.
Offen bleibt am Ende der Ära Merkel die Frage nach der Zusammensetzung der nächsten Bundesregierung. Selbst linke und linksliberale Beobachterinnen und Aktivisten scheinen das Rennen schon verloren zu glauben und rechnen felsenfest mit Schwarz-Grün. Selbstredend würde das den Unionsparteien in den Kram passen – vorausgesetzt es wird wirklich Schwarz-Grün und nicht Grün-Schwarz. So wäre der CDU ihr Sitz im Kanzleramt gesichert. Auch bei den Bündnisgrünen gibt es trotz wenig begeisternder Erfahrungen in eben dieser Konstellation in Hamburg oder Baden-Württemberg genug Protagonistinnen und Protagonisten, die sich davon Einiges versprechen. Doch noch ist nichts entschieden.
Auch 2005 prognostizierten die allermeistens Beobachterinnen und Beobachter überzeugt eine bestimmte Regierungsmehrheit – namentlich Schwarz-Gelb. Dann kam es anders. Und als Schwarz-Gelb im Jahr 2009 tatsächlich zum bisher letzten Mal Wirklichkeit wurde, begann die Koalition in beeindruckendem Tempo mit einer Selbstzerfleischung, die bis zu Christian Lindners legendärem Rückzug von den Koalitionsverhandlungen 2017 nachwirkte. Es gibt kein grün-schwarzes oder schwarz-grünes »Projekt« – wie auch, bei einer CDU, die sich in zwei Jahren zwei Mal fast für den letzten Neoliberalen, Friedrich Merz, entschieden hätte und einer bündnisgrünen Partei, deren Programm die bürgerlichen Medien einen gefährliche Linksdrift bescheinigen?
Wenn Schwarz-Grün aktuell als wahrscheinlichste Variante erscheint, dann in Ermangelung von Alternativen. Weder die Mehrheitsverhältnisse in den Bundesländern, noch die Programmatik der Parteien verweisen unvermeidlich in Richtung Schwarz-Grün. Es ist und bleibt Aufgabe von Linken in Parteien und Bewegungen, politische Alternativen deutlich zu machen. Nur dann ließe sich Schwarz-Grün als selbsterfüllende Prophezeiung noch ausbremsen.
Alban Werner ist Politikwissenschaftler. Er war von 1999 bis 2004 Mitglied bei der SPD. Seit 2005 ist er bei der Linkspartei aktiv. Seine Texte erschienen unter anderem in »Das Argument« und »Sozialismus«.
Alban Werner ist Politikwissenschaftler. Er war von 1999 bis 2004 Mitglied bei der SPD. Seit 2005 ist er bei der Linkspartei aktiv. Seine Texte erschienen unter anderem in »Sozialismus« und »Das Argument«.