02. März 2021
Der harte Umbruch zur E-Mobilität könnte einen massenhaften Stellenabbau in den Daimler-Werken in Berlin-Marienfelde zur Folge haben. Gestern Nacht rief die IG Metall zu Warnstreiks auf. Denn die Beschäftigten wollen über ihre Zukunft mitentscheiden.
Streikaktion der IG-Metall vor den Werken in Marienfelde in der Nacht vom 01. auf den 02. März.
Es war schon immer da. Es war da, als Kaiser Wilhelm II. über die Wintermonate im Kronprinzenpalais in Berlin residierte, als die Mauer gebaut und als sie wieder eingerissen wurde. Das am längsten produzierende Daimler-Werk besteht seit fast 120 Jahren. Doch Ende 2020 wurde bekannt, dass der Berliner »große Stern« auszuglühen beginnt.
Das mögen romantisierende Worte sein – aber sie helfen, sich in den Frust und den Ärger einzufühlen, der tausende Arbeiterinnen und Arbeiter an einem kalten Wintertag Anfang Dezember vergangenen Jahres auf die Straße trieb. Einige Wochen zuvor räumte die Unternehmensführung der Daimler AG ein, dass sie am Standort in Berlin-Marienfelde in Zukunft nicht mehr in die Produktion investieren wird. Die pessimistischsten Szenarien gehen davon aus, dass von den 2.500 Angestellten in einigen Jahren nur noch rund 500 übrig sein werden. Doch trotz düsterer Prognosen gibt sich die Belegschaft kampflustig: Fast vollständig ist sie dem Streikaufruf der Industriegewerkschaft IG Metall am 9. Dezember gefolgt. Schließlich geht es um nichts geringeres als ihre Zukunft – und dabei möchte sie ein Wörtchen mitzureden haben.
»Ola, wir sind dein Kapital«, »Shame on you, Ola«, »Die Zukunft funktioniert nur mit uns« – neben zahlreichen Gewerkschaftsfahnen schweben auch einige Schilder mit wütenden und enttäuschten Botschaften über die Köpfe der mit Warnwesten und roten Masken bekleideten Menschen hinweg. An einer Seite der Marienfelder Fabrikhalle prangt ein Banner des Konzerns: »Aus Tradition Marienfelde«.
Neben der Belegschaft waren auch Anwohnerinnen und eher unerwartete Akteure wie Fridays for Future sowie Politiker von CDU, SPD und Linkspartei mit auf der Straße. Es macht nichts, dass im Lärm der Trillerpfeifen nicht jedes Wort der Rednerinnen und Redner zu verstehen ist. Denn die erste Reihe des Demonstrationszugs trägt ein Transparent, das die unterschiedlichen persönlichen Anliegen zu einer klaren Forderung zusammenfasst: »Unser Werk, unsere Arbeit, unsere Familien: Tradition bewahren, Zukunft machen!«
Die Marienfelder fühlen sich von ihrem Unternehmen im Stich gelassen – und damit sind sie nicht allein: Anderenorts führen die Einsparpläne des Daimler-Managements oftmals zu noch massiveren Arbeitsplatzverlusten. Weltweit rechnet der Konzern durch nicht neu vergebene Jobs und Stellenstreichungen mit bis zu 20.000 Arbeiterinnen und Arbeitern weniger. Das trifft in erster Linie Standorte, die auf die Fertigung von Produktionsteilen für den Verbrennungsmotor spezialisiert sind.
Rosig sieht es für die gesamte deutsche Automobilbranche nicht aus. So errechnete die Nationale Plattform Zukunft der Mobilität, die vom Bundesministerium für Verkehr und digitale Infrastruktur herausgegeben wird, dass bis zum Ende des Jahrzehnts in Deutschland aufgrund des Wechsels zur Elektromobilität etwa 410.000 Arbeitsplätze gefährdet sind. Schon heute ist in Deutschland jeder vierte Neuwagen ein E-Auto und in zehn Jahren – da sind sich die meisten Expertinnen und Experten einig – wird der Verbrenner hierzulande nur noch eine Randerscheinung sein. Die Zahlen zeichnen die Strategie der deutschen Automobilkonzerne vor: Es kündigen sich vermehrte Angriffe der Arbeitgeberseite auf die Arbeitsplätze an – und damit die gesellschaftlichen Herausforderungen, die uns in den nächsten Jahren bevorstehen.
Der Stellenabbau in Marienfelde ist in dieser Hinsicht exemplarisch: Die Unternehmensführungen entscheiden über die Köpfe der Arbeiterinnen und Arbeiter hinweg. Die Angestellten haben keine Kontrolle über ihr Einkommen oder ihre wirtschaftliche Sicherheit. Sie werden nicht in die Entscheidungen miteinbezogen, müssen aber als erste für die Versäumnisse der Konzernchefs geradestehen.
Trotz der gelungenen Kundgebung ist vielen Streikenden die Sorge ins Gesicht geschrieben. »Jeder hat natürlich Angst«, sagt eine Angestellte mit Mütze, Maske und einer mit Mercedes-Stern bedruckten Jacke in die Kamera des Filmemacherkollektivs labournet.tv. »Ich hätte mir schon noch mehr Arbeitskampf, Bänderstillstand und so weiter gewünscht« – aber während der Corona-Krise falle die Mobilisierung schwer: »Man hat nicht viele Chancen, sich groß miteinander auszutauschen.« Videokonferenzen können Gruppengespräche und persönliche Absprachen nur bedingt ersetzen. Sie selbst könne nicht viel ausrichten, schließlich sei sie ja nur »ein ganz kleines Licht, das ist halt so«.
Die Arbeiterinnen und Arbeiter sind vor allem deshalb frustriert, weil sie das Gefühl haben, übergangen worden zu sein. Gerade weil das Werk in Marienfelde eine so lange Tradition hat, haben die geplanten Stellenstreichungen schwerwiegende Folgen, fährt die Frau mit dem Mercedes-Stern fort: »Da stecken Existenzen dahinter. Leute haben hier Häuser gebaut, Familien gegründet – manche sind Alleinverdiener.«
Bis 2030 sind in Deutschland aufgrund des Wechsels zur Elektromobilität etwa 410.000 Arbeitsplätze gefährdet.
Die Angestellten in Marienfelde möchten vor allem eines: am Umbau teilhaben. Sie stellen sich nicht gegen die ökologische Wende und möchten auch den Verbrennungsmotor nicht bewahren. Doch sie fürchten um ihre Existenzen und Lebensentwürfe. Viele von ihnen fordern, dass im Zuge der Umstellung auf E-Mobilität neue Produkte im Werk gefertigt und Wege gefunden werden sollen, die Transformation mit – und nicht auf Kosten – der Belegschaft durchzuführen. »Wir sind ‘ne tolle Mannschaft, wir können das alles stemmen«, meint ein Mann mit roter IG-Metall-Maske. Die Angestellten »haben es verdient, ‘ne Chance zu bekommen, hier auch elektrische Sachen zu bauen« – so, wie es bald 40 Kilometer weiter in Grünheide geschehen wird.
Die deutsche Automobilindustrie wäre selbst vermutlich nie auf die Idee gekommen, im Sinne der Ökologie, der zukünftigen Generationen oder gar der Klimagerechtigkeit ihre Fahrzeugproduktion auf mehr Elektrobetrieb umzustellen. Die Autobauer um Daimler hätten wohl bis zum bitteren Ende am »German Engineering«, und dem in autoaffinen Kreisen beinahe als Kunstwerk verehrten Verbrennungsmotor festgehalten.
Es waren der von den Klimaprotesten angestoßene politische Druck auf der einen Seite und der vom rapiden Aufstieg des US-amerikanischen Konkurrenten Tesla befeuerte marktwirtschaftliche Druck auf der anderen Seite, die den späten und schleppenden Umstieg auf Elektroautos anstießen. Tesla hat sich unter der Führung von Elon Musk – dem seit neuestem reichsten Mann der Welt – innerhalb nur weniger Jahre zum Weltmarktführer der Autoindustrie entwickelt. Für die Belegschaft in Berlin sind die geplanten Stellenstreichungen auch deshalb unverständlich und zynisch, weil der US-amerikanische Konkurrent in Brandenburg gerade die erste europäische »Gigafactory« baut, die 10.000 neue Arbeitsplätze schaffen soll.
Tesla verzeichnete im vergangenen Jahr einen Wertzuwachs von 500 Milliarden Dollar und war Anfang 2021 an den Börsen zeitweise rund 680 Milliarden wert – also mehr, als die Summe der tradierten deutschen Automobilhersteller Volkswagen, BMW und Daimler. Genauer gesagt: etwa so viel wie Toyota, General Motors, Honda, Hyundai, Fiat Chrysler, Ford, Renault, Volkswagen, BMW und Daimler zusammen. Und das, obwohl Teslas Verkaufszahlen nur einen Bruchteil von denen seiner weniger wertvollen Konkurrenten ausmachen. Das Unternehmen ist damit nicht nur die derzeit wertvollste Wette auf die Zukunft. Tesla verkörpert zudem den grüner werdenden »Geist des Kapitalismus«.
Dahingehend ist die Belegschaft in Marienfelde wohl nicht so sehr überrascht, sondern vielmehr sauer, dass ihr ehemaliger Chef, Rene Reif, als Werksleiter zum US-amerikanischen Autobauer nach Grünheide wechselt. Den Arbeiterinnen und Arbeitern zufolge kündigte Reif noch bei der letzten Betriebsversammlung an, mit ihnen für den Erhalt des Werks kämpfen zu wollen. Die Nachricht über seinen Abgang habe er der Belegschaft dann lediglich per SMS mitgeteilt.
Offenbar tun es ihm nicht wenige gut ausgebildete Daimler-Ingenieure gleich: Mit bis zu einer Viertelmillionen Euro Ablösesumme bewerben sie sich bei Tesla. Während Beschäftigte aus der Verwaltung und teilweise auch Führungskräfte, Teamleiter und Meister einen Anspruch auf Abfindungen haben, bleibt den Arbeiterinnen und Arbeitern in der Produktion fast ausschließlich die Option der Altersteilzeit oder Frühpensionierung.
»In Marienfelde haben wir das Problem, dass die Unternehmensführung zunächst gar nichts Neues, also keine Elektrokomponenten reinbringen will«, erklärt Michael Brecht, Gesamtbetriebsratsvorsitzender der Daimler AG. Der Betriebsrat kämpfe aber dafür, dass das Werk in Berlin nicht fallengelassen wird. »Die Menschen haben jahrzehntelang die Treue zu unserem Unternehmen gehalten, oftmals sogar über Generationen«, erinnert Brecht. Die gesamte Automobilbranche stehe vor einem ihrer bisher schwierigsten Umbrüche. Brecht warnt die Unternehmensführung davor, den scheinbar einfachsten und billigsten Weg über massenhaften Stellenabbau zu gehen. Stattdessen müsse offen und fair mit den Arbeiterinnen und Arbeitern umgegangen werden.
»In Marienfelde haben wir das Problem, dass die Unternehmensführung zunächst gar nichts Neues, also keine Elektrokomponenten reinbringen will.«
Doch dass der Appell des Betriebsratsvorsitzenden erhört wird, ist äußerst unwahrscheinlich. Dem Daimler-Management geht es – insbesondere vor dem Hintergrund des seit 2018 schrumpfenden Automarktes – in erster Linie um den Profit. Die Logik des kapitalistischen Wirtschaftssystems wirkt auf dem Automarkt nicht anders als bei jedem anderen Produkt. Das Problem der deutschen Autobauer: Die Gewinne auf dem Markt der Verbrenner-Autos schrumpfen, während die Gewinne aus der E-Mobilität die Unternehmen noch nicht vollständig tragen können. In der Zwischenzeit gibt es deswegen nur Einsparungen auf der einen und Zukunftsversprechen auf der anderen Seite.
Jan Otto, erster Bevollmächtigter der IG Metall in Berlin, erklärt: »Wir wissen heute auch, dass wir nicht jeden Arbeitsplatz eins zu eins transformieren können. Man kann einen 58-Jährigen nicht zum IT-Experten ausbilden.« Ihm sei es nicht wichtig, ob eine Person in fünf Jahren dasselbe macht wie heute, solange sie eine Anstellung mit »einer guten Entlohnung und mit Perspektive« hat. Dennoch empfinden viele Menschen in Marienfelde Verzweiflung, Wut und Ohnmacht. Ein solcher Arbeitsplatz sichert nämlich nicht nur ein Einkommen – er schafft auch Identität.
Sowohl Otto als auch Brecht wissen, dass die Stellenstreichungen der Konzernführungen in der deutschen Automobilindustrie unumgänglich sind. Schon allein aufgrund des geringeren Personalaufwands, der mit dem Bau von Elektromotoren einhergeht: Weil ein E-Antrieb weitaus einfacher aufgebaut ist und aus weniger Einzelteilen besteht, kommt auf sieben Arbeitskräfte für einen Verbrennungsmotor nur eine für den Elektromotor. Insgesamt braucht es rund 30 Prozent weniger Arbeitsstunden, um ein E-Auto zusammenzubauen.
Eine Erkenntnis, die sich auch bei den Angestellten niederschlägt: Im Jahr 2020 haben in einer bundesweiten Beschäftigtenbefragung der IG Metall 96 Prozent angegeben, dass sie ihren Arbeitsplatz gefährdet sehen. Die Unsicherheit rührt auch daher, dass sich nur 44 Prozent der Beschäftigten hinreichend über die wirtschaftliche Lage und die Zukunftsaussichten ihres Betriebs informiert fühlen. Viele von ihnen sind sich der Tatsache bewusst, dass sie ohne großes Mitbestimmungsrecht diejenige Variable in der Gleichung sind, die am einfachsten verstellt werden kann.
Die angekündigten Stellenstreichungen der vergangenen Monate machen klar: Der Unternehmensführung von Daimler geht es nicht um die Sicherung von Arbeitsplätzen. Ihr Ziel ist die jährliche Kosteneinsparung von mehreren hundert Millionen Euro. Noch vor der Corona-Krise verlangte der neue Daimler-Chef Ola Källenius von seinen Angestellten, auf die geplante Tariferhöhung zu verzichten. Immerhin soll künftig auch das jährliche Gehalt des Vorstandsvorsitzenden auf zwölf Millionen Euro gedeckelt werden. Dabei geht es dem Konzern trotz Dieselaffäre und Corona-Krise alles andere als schlecht. 2020 verzeichnete der Autobauer einen Gewinn von vier Milliarden Euro. Der Staat finanzierte dabei rund 700 Millionen Euro in Form von Kurzarbeitergeld mit: Daimler profitierte, wie andere große Konzerne, besonders von den staatlichen Fördermitteln. Freuen werden sich darüber vor allem die Aktionärinnen und Aktionäre.
Wie hart die Disruption in der Automobilindustrie die Beschäftigten und ihre Familien letzten Endes trifft, wird sich im Laufe der kommenden Jahre zeigen. In Zukunft muss es aber vor allem darum gehen, Arbeiterinnen und Arbeiter zu schützen – und nicht Arbeitsplätze per se. In Marienfelde ist die Belegschaft überwiegend offen für neue Technologien. Vielen von ihnen ist es im Grunde egal, was sie produzieren – Hauptsache, sie haben Arbeit. Das bedeutet aber auch: Die Arbeiterinnen und Arbeiter müssen auf die immer komplexer werdenden Anforderungen vorbereitet werden. Obwohl der Bau eines E-Autos weniger Personal benötigt, werden die Aufgaben – etwa die Entwicklung der Software – immer anspruchsvoller.
So wichtig Streiks und Appelle an die Chefetagen auch sind: Der strukturelle Zwang des Kapitalismus wird die Unternehmen immer wieder dazu verleiten, ihre Macht gegen die Angestellten einzusetzen. Die Krise der deutschen Automobilindustrie zeigt, dass das Drängen der Märkte noch mächtiger ist als die stärksten und ältesten Unternehmen. Es ist die Aufgabe des Staates, wacher und vorausschauender in eine grüne Wende zu investieren – beispielsweise in den Ausbau des öffentlichen Personennahverkehrs, in die Infrastruktur des Fernverkehrs oder in erneuerbare Energien. Von 2009 bis 2019 gab die Bundesregierung rund zwanzigmal mehr Geld für die Entwicklung von Kraftfahrzeugen aus als für die der öffentlichen Verkehrsmittel. Mehr gezielte Investitionen in Sektoren jenseits der Automobilindustrie könnten die Jobs schaffen, die in der Privatwirtschaft gekürzt werden.
Geht es weiter wie bisher, dann werden Arbeiterinnen und Arbeiter immer wieder gegeneinander ausgespielt und dem erbarmungslosen Druck des Marktes ausgeliefert werden. Soziale Rechte – wie eine umfassendere Grundversorgung oder auch ein Recht auf Arbeit – könnten die Menschen davor schützen. Diese Rechte müssen aber erkämpft werden. »Kleine Lichter« sind die Arbeiterinnen und Arbeiter nur, wenn sie einzeln und allein sind. Organisiert und mobilisiert hingegen könnte die Arbeiterbewegung zukünftig wieder in die Offensive gehen und sich aus dem Griff des Marktes befreien. Starke Gewerkschaften, soziale Bewegungen wie Fridays for Future und gemeinnützige Vereine können das Kapital und den Staat unter Druck setzen. Doch das wird alles andere als einfach und kann nur gemeinsam gelingen – linke Allianzen sind dafür unerlässlich. In diesem Sinne: Kleine Lichter aller Länder, vereinigt euch!