05. Juni 2023
Die jüngsten Umfragerekorde der AfD sollten kein Anlass zum Verzweifeln sein, sondern ein Aufruf zum Handeln – Antifa heißt Wohlfahrtsstaat.
Die AfD gewinnt nicht, weil ihre Konzepte überzeugen, sondern weil die Politik der Ampel den Menschen nichts anbietet.
IMAGO / Jacob SchröterDie AfD ist gleichauf mit der SPD. Das zeigen gleich zwei Umfragen. Beide Parteien liegen bei 18 und 19 Prozent, bundesweit. Im Osten sind die Zahlen noch einmal drastischer. So ergab eine weitere Umfrage zum Bundestrend, dass die AfD im ganzen Osten mittlerweile stärkste Kraft ist. In Sachsen sogar dreimal so stark wie die SPD. Doch auch im Süden gewinnt die AfD dazu; in weiten Teilen Bayerns und Baden-Württembergs ist sie nach Umfragen die zweitstärkste Kraft.
Diese Zahlen sind brisant. Denn es stehen etliche Landtagswahlen an. In Bayern, wo die AfD derzeit bei 12 Prozent steht, im Herbst 2023. Bei der letzten Wahl waren es noch 10 Prozent. Im Herbst 2024 wählt der halbe Osten. In Sachsen und Thüringen führt die AfD mit rund 28 Prozent die Umfragen an. In Brandenburg liegt sie mit rund 24 Prozent gleichauf mit SPD und CDU. Bei all diesen Wahlen droht die AfD nicht einfach nur dazuzugewinnen, sondern stärkste Kraft zu werden.
Das würde nicht nur reihenweise Faschisten in die Parlamente befördern, es könnte auch eine ganz neue Dynamik entfesseln, in der die AfD die anderen Parteien vor sich hertreibt – sei es als Anführerin einer Koalition mit der CDU, zu der diese gedrängt wäre, oder als bei weitem stärkste Opposition gegen schwache Regierungen aus vielen Parteien. Ein Kipppunkt der bundesdeutschen Geschichte, ausgelöst durch Jahrzehnte neoliberaler Politik und anschließender Verwaltung der Schäden.
Die AfD gewinnt vor allem mit Angstmache. Doch ihre Strategie scheint sich verschoben zu haben – von der Gesellschaftspolitik zur Wirtschaftspolitik. Während sie jahrelang mit der Angst vor Geflüchteten gewann und ihren bisherigen Höhepunkt nach 2015 erreichte, gelang es ihr bei den Auflagen der Coronapolitik schon nicht mehr, die Wut über die Regierung in wachsende Zustimmung für die AfD zu übersetzen. In den letzten Jahren wuchs sie vor allem während zwei Phasen: im Sommer und Herbst 2022, als durch die steigenden Preise die Abstiegsängste zunahmen und nun im Frühjahr 2023, wo die Abstiegsängste wahr zu werden scheinen und neue Kämpfe in der Ampelregierung auch medial enorm aufgeheizt werden. Stichwort Heizungsgesetz.
Die AfD legt also immer dann zu, wenn die regierende Politik es unterlässt, soziale oder ökonomische Unsicherheiten abzufedern, und auch, wenn vor allem konservative und liberale Politikerinnen und Politiker durch ihren Rechtsdrift selbst die vermeintliche Brandmauer einreißen und damit der AfD den Weg freimachen. Das neoliberale Zentrum um SPD und Grüne macht es der AfD dadurch leicht, dass es den Status quo lediglich verwaltet. Insbesondere die Grünen bieten sich sogar als die neuen Hauptfeinde der Rechten an, indem sie wie beim Heizungsgesetz unsozial und von oben herab regieren.
Zwar war die mediale Schlacht um die »Verbotspartei« schon immer etwas überzogen, doch die Abneigung gegen grüne Eliten ist in der Bevölkerung tief verwurzelt und wird durch jedes Gesetz, das den Bürgerinnen und Bürgern aufgepfropft wird, bloß noch verstärkt. Einige meinen, es handle sich bloß um einen schlechten Kommunikationsstil der grünen Ministerinnen und Minister. Doch das lässt die Klassenstruktur der grünen Wählermilieus außer Acht. Diese Wählerinnen und Wähler erhalten genau die Politik, die sie sich wünschen: eine grüne Verwaltung des Kapitalismus. Der AfD hingegen laufen dadurch mehr Arbeiterinnen und Angestellte zu. Nicht die Kommunikationsstrategie ist das Problem der Politik der Grünen, sondern ihre reale Abkopplung von der Lebensrealität der arbeitenden Bevölkerung.
»Es braucht sofort eine höhere Mindestrente, einen höheren Mindestlohn und eine höhere Mindestsicherung.«
Diese Abkopplung fand auch auf Seiten der Linken statt, die mit der PDS immerhin eine Volkspartei im Osten stellte und bei Wahlen beständig Arbeiterinnen und Arbeiter und sogar Gewerkschaftsmitglieder an die AfD verliert. Die gesellschaftliche Linke wie die Linkspartei verlor so in den letzten Jahren ihre gesellschaftliche Machtbasis, wie auch Dietmar Bartsch zugibt. Der Rückzug der demokratischen Parteien aus einigen Regionen habe erst die Lücke geschaffen, in die nun die AfD stoßen konnte.
Diesem politischen Vakuum gingen Jahrzehnte neoliberaler Politik voran, die von den Parteien teils mitgetragen wurden oder jedenfalls nicht verhindert werden konnten. Ob man nun auf die Schocktherapie der Wiedervereinigung blickt, die statt blühenden Landschaften Ruinen brachte. Ob man sich Regionen ansieht, deren Kommunen unter der Schuldenlast erdrückt werden, wodurch die Aufnahme von Geflüchteten auf Kosten anderer staatlicher Leistungen geht. Oder ob man sich die Menschen ansieht, die kaum genügend Geld zum Leben haben. Das alles sind Folgen einer Wirtschaftspolitik auf Kosten der Vielen und zu Gunsten der Wenigen.
Die AfD, die im Kern auch nach zehn Jahren voller Flügelkämpfe immer noch eine neoliberale Partei ist, kann sich dennoch als die Kraft gegen die neoliberalen Eliten inszenieren. Sie profitiert vom rechten Kulturkampf der CDU, der sie gesellschaftspolitisch stärkt, und von der Aushöhlung der Daseinsvorsorge, obwohl sie selbst sozialpolitisch und programmatisch den Menschen nichts zu bieten hat außer Ängste zu schüren und eine wie auch immer geartete nationale Identität anzurufen.
So scheint es. Denn die Ampel verwaltet auch nur die neoliberale Politik, die den Leuten das Leben schwer macht. Indem Lindner auf seiner Sparpolitik beharrt, fallen weitere Entlastungen, ein ordentlicher Sozialstaat oder wirtschaftliche Entwicklung im Osten fast komplett raus. Auch eine weitere politische Mindestlohnerhöhung scheint es nicht zu geben. Dabei wäre dies eine Maßnahme, die Millionen von Menschen unmittelbar mehr Geld am Ende des Monats geben und den Staat quasi nichts kosten – ja ihm sogar noch höhere Steuereinnahmen bescheren würde.
Dazu kommt noch Habecks Wirtschaftspolitik. Bei der Gasumlage wollte er kurzzeitig Milliardenbeträge an Krisenkosten auf die Bevölkerung abwälzen. Eine solche politisch verursachte Abstiegsangst spielt der AfD direkt in die Hände. Ähnlich ist es bei Habecks Heizungsgesetz, das die Wärmewende beschleunigen soll. Die soziale Abfederung des Gesetzes ist weiterhin mehr als ungewiss. Denn nach dem derzeitigen Plan der Ampel sollen alle Menschen auf 60 Prozent der Umbaukosten sitzen bleiben. Viele Tausende Euro Kosten für die Menschen – ein politisches Fiasko mit Ankündigung.
Und der Regierungsstreit wird sich weiter an allen Maßnahmen entzünden, die die grüne Transformation betreffen. Da sie nicht in der Lage und willens ist, die nötigen Investitionen zu tätigen und für eine planbare und sichere Industriepolitik besonders im Osten zu sorgen, dem die Angst vor dem Arbeitsplatzverlust seit den 1990er Jahren in den Knochen steckt, wird diese erneute Transformation voraussichtlich wie eine Treuhand 2.0 empfunden werden. Das Ergebnis ist eine starke AfD. Doch das ist kein Naturgesetz.
Viele mutige Menschen in Ost und West stellen sich der AfD entgegen – gegen Hetze, für eine offene Gesellschaft und einen grundlegenden Humanismus. All diese Initiativen sind essenziell, um demokratische Werte und Institutionen zu schützen, gerade dann, wenn die staatlichen Repressionen auch gegen migrantische Menschen und Linke stärker werden. In dieser gesellschaftlichen Solidarität liegt die Keimzelle eines neuen Antifaschismus.
Aber Liberale und Linke unterscheiden sich darin, dass letztere sich nicht mit dem Abwehrkampf zufriedengeben, sondern in die Offensive kommen wollen. Es reicht eben nicht, abstrakte Werte zu verteidigen – eine antirassistische Linke muss die materielle Basis des AfD-Erfolgs angehen und auflösen. Wer der AfD die Grundlage entziehen will, muss sich für eine andere Wirtschaftspolitik einsetzen. Nur so kann den Menschen die Abstiegsangst genommen und materielle Sicherheit gegeben werden. Es braucht sofort eine höhere Mindestrente, einen höheren Mindestlohn und eine höhere Mindestsicherung.
Auf längere Sicht braucht es außerdem eine Jobgarantie, die vielen Menschen nachhaltig die Abstiegsangst nimmt und vielen auch eine Aufstiegsperspektive bietet. Im Osten werden gerade neue Fabriken gebaut, die von internationalen Investoren abhängig sind, etwa die neuen Chip-Fabrik bei Magdeburg, bei der tausende Arbeitsplätze auf dem Spiel stehen. Hier muss der Staat planend vorgehen und industrielle Sektoren schützen, öffentliche Mittel für öffentliches Eigentum verwenden und mit der Absicherung von Standorten und Arbeitsplätzen verbinden. Gerade mit der Angst vor der Deindustrialisierung kann die AfD Politik machen, obwohl sie selbst außer neoliberalen Rezepten nichts vorzuweisen hat. Hier braucht es eine starke Linke, die vorsorgend und planerisch vorgeht und dem kleinen grünen Staat zugunsten des Kapitals und zulasten der großen Mehrheit einen großen grünen Staat mit Garantien für die breite Bevölkerung entgegenstellt.
Kurzfristig könnten neue Einmalzahlungen beschlossen, der Preis des Deutschlandtickets abgesenkt oder die Mehrwertsteuer auf Lebensmittel gestrichen werden. Mittelfristig muss es vor allem Lohnwachstum geben, das man durch stärkere Gewerkschaften oder das Ankurbeln der Wirtschaft fördern kann.
Nur mit einer solchen Politik, die Wohlstand für alle bringt und ihn auch in der Zukunft sichert, kann man die AfD besiegen – und die Demokratie vor dem Ruin bewahren. Diese Politik braucht es jetzt. Denn die Wahlen im Osten sind bereits im nächsten Jahr.
Ines Schwerdtner ist seit Oktober 2024 Bundesvorsitzende der Linkspartei. Von 2020 bis 2023 war sie Editor-in-Chief von JACOBIN und Host des Podcasts »Hyperpolitik«. Zusammen mit Lukas Scholle gab sie 2023 im Brumaire Verlag den Sammelband »Genug! Warum wir einen politischen Kurswechsel brauchen« heraus.
Lukas Scholle ist Ökonom und Kolumnist bei JACOBIN.