07. Juli 2022
Kolumbiens neuer Präsident Gustavo Petro will die extreme Ungleichheit bekämpfen – ein Hoffnungsschimmer für das Land, das jahrzehntelang von Rechten regiert wurde. Um sein Ziel umzusetzen, steht ihm ein steiniger Weg bevor.
Am Wahltag herrschte unter Gustavo Petros Anhängern Aufbruchstimmung, Bogotá, 29. Mai 2022.
Am 19. Juni hat Kolumbien mit Gustavo Petro einen Linken zum Präsidenten gewählt. Dieser Sieg ist ein Durchbruch in der Geschichte des Landes, das seine Unabhängigkeit von Spanien erst 1819 erlangte. Denn lange Zeit schien es, als sei die kolumbianische Politik immun gegen den linken Aufbruch, der sich in anderen Teilen Lateinamerikas vollzog.
Petros Vizepräsidentin, Francia Márquez, ist die erste Afrokolumbianerin in diesem Amt, was den Wahlsieg noch bedeutender macht. Noch vor wenigen Jahren schien es undenkbar, dass in Kolumbien ein Linker die Wahlen gewinnt und das Amt des Präsidenten übernimmt. Damit werden Ungleichheit und Armut, Menschenrechte und Umweltschutz zum ersten Mal ganz oben auf der Agenda einer kolumbianischen Regierung stehen. Doch werden Petro und Márquez ihre Ziele auch umsetzen können? Um ihre Erfolgsaussichten einzuschätzen, lohnt sich ein Blick auf die kurz- und langfristigen Faktoren, die Petro zum Sieg verhalfen.
Die Stichwahl fiel knapp aus, das hatte sich bereits seit Wochen in Umfragen abgezeichnet. Gustavo Petro lag mit 11,2 Millionen Stimmen und 50,44 Prozent nur 3 Prozent vor seinem rechtskonservativen Herausforderer Rodolfo Hernández, der mit 10,6 Millionen Stimmen 47,31 Prozent erringen konnte. Obwohl Hernández seine autoritären Ambitionen offen aussprach und nur knapp unterlag, akzeptierte er seine Niederlage. Auch der amtierende Präsident Iván Duque und der Ex-Präsident Álvaro Uribe – beides Rechte – gratulierten Petro, obwohl sie sich ihm zuvor vehement entgegengestellt hatten.
Im Gegensatz dazu hatten etwa Donald Trump in den USA oder Keiko Fujimori in Peru ihre Wahlniederlagen auf vermeintlichen Wahlbetrug geschoben. Das erschwerte es Joe Biden und Pedro Castillo, ihre jeweiligen Länder als rechtmäßig gewählte Präsidenten zu regieren. Durch die Anerkennung des eigenen Misserfolgs unterscheidet sich die kolumbianische Rechte auch vom brasilianischen Präsidenten Jair Bolsonaro. Da er die bevorstehenden Wahlen im Oktober wahrscheinlich gegen den ehemaligen linken Präsidenten Lula verlieren wird, verbreitet Bolsonaro schon jetzt falsche Behauptungen, um Zweifel an der Integrität des brasilianischen Wahlsystems zu schüren.
Beim ersten Wahlgang am 29. Mai holte Petro in ärmeren Gegenden und größeren Städten besonders viele Stimmen. Hernández wiederum war in vielen kleineren Gemeinden stark, die hauptsächlich im Osten und im Zentrum des Landes liegen. In der ersten Runde lag Petro in 412 von insgesamt 1.124 Gemeinden vor Hernández, während er bei der Stichwahl am 19. Juni in nur 402 Gemeinden gewinnen konnte. Die zusätzlichen 2,7 Millionen Stimmen, die Petro in der Stichwahl erringen konnte, kamen überwiegend aus Gegenden, in denen er bereits in der ersten Runde ein gutes Ergebnis erzielt hatte.
Der Schlüssel zum Sieg von Petro und Márquez waren eindeutig städtische Ballungszentren. In der Hauptstadt Bogotá, die zugleich die größte Stadt des Landes ist, erhielt Petro beim zweiten Wahlgang fast 500.000 Stimmen mehr als beim ersten – das ist ein Zuwachs von über 23 Prozent. Aber auch in anderen, weniger urbanisierten Regionen, in denen Petro gut abgeschnitten hatte, wie in Magdalena im Norden des Landes, in Nariño im Südwesten und in Amazonas im Süden, konnte er Zugewinne erzielen. Lediglich im Osten des Landes, vor allem in Santander und Norte de Santander, wo die Unterstützung für Hernández größer war, konnte Petro kaum Stimmen dazugewinnen.
Gustavo Petro trat bereits 2018 zur Präsidentschaftswahl an. Damals verlor er in der Stichwahl gegen den jetzt scheidenden Präsidenten Duque. Im Vergleich dazu gewann Petro dieses Jahr die Unterstützung von 141 zusätzlichen Gemeinden (rund 10 Prozent aller Gemeinden). Die Wahlprognosen für Petro fielen für beide Wahlen sehr ähnlich aus (siehe Abbildungen 1 und 2). Doch der diesjährige Sieg ist das Ergebnis dramatisch erweiterter Vorsprünge, mit denen die Rechte nicht gerechnet hatte.
Das zeigte sich nirgendwo so deutlich wie in der Pazifikregion, dem ärmsten Landstrich Kolumbiens mit dem höchsten Anteil afrokolumbianischer und indigener Bevölkerungsgruppen. In insgesamt 34 Gemeinden erzielten Petro und Márquez ein Wahlergebnis von mehr als 90 Prozent. Dr. Manuel Rozental, ein Arzt und Aktivist aus der Region, schilderte Democracy Now seine Eindrücke: »Indigene Völker aus dem Dschungel der kolumbianischen Pazifikküste nahmen eine zwei Tage lange Reise auf sich und kamen in Kanus auf den Flüssen an, um bei dieser Wahl ihre Stimme abzugeben. Dieses Bild werden wir hier nie vergessen.«
Abbildung 1
Abbildung 2
Als Álvaro Uribe 2002 zum ersten Mal die Präsidentschaftswahlen gewann, zog Petro zum zweiten Mal für Bogotá in den Kongress ein. Während Uribes Amtszeit von 2002 bis 2006 war Petro einer der entschlossensten Gegner der rechtsextremen Uribe-Regierung. Er verurteilte die engen Verbindungen zwischen rechten Paramilitärs, der Armee und der Regierung. In den 1990er Jahren war Uribe Gouverneur des Verwaltungsgebiets Antioquia gewesen und direkt in diese Verwicklungen involviert, wie auch sein Bruder.
Petros öffentliche Ächtung des Uribismo zog die Aufmerksamkeit der Medien auf ihn, was wiederum sein nationales Profil stärkte. Im Jahr 2006 wurde er zum ersten Mal in den Senat gewählt. Petro stellte sich weiterhin entschlossen gegen die illegalen Beziehungen zwischen Paramilitärs und einem wachsenden Netzwerk von Kongressabgeordneten, Geschäftsleuten und Bürgermeistern. Die Beweise, die er vorgelegte, trugen dazu bei, dass dutzende ehemalige Abgeordnete verurteilt und inhaftiert wurden.
Petro forderte erfolgreich Gerechtigkeit für die Opfer des Falsos-Positivos-Skandals. Dass ihm das gelang, ist besonders bemerkenswert, da Kritik an der Uribe-Regierung in diesen Jahren riskant und nicht gern gesehen war. Der Skandal hatte aufgedeckt, dass die kolumbianische Armee Tausende Zivilisten hingerichtet und ihre Leichen anschließend in Kampfgebiete transportiert hatte, um sie als gefallene, linke Guerilla-Kämpfer auszugeben.
Nachdem Petro in den 2000er Jahren landesweite Bekanntheit erlangt hatte, trat er 2010 zum ersten Mal bei der Präsidentschaftswahl an. Sein Wahlkampf fiel in eine Zeit, als der bewaffnete Kampf mit der linken Rebellenarmee FARC (Fuerzas Armadas Revolucionarias de Colombia, Revolutionäre Streitkräfte Kolumbiens), noch immer die öffentliche Debatte beherrschte. Petro war in seiner Jugend selbst Mitglied einer Guerillaorganisation gewesen, der M-19 (Movimiento 19 de Abril, Bewegung 19. April). Später kam er jedoch zu dem Schluss, dass der bewaffnete Kampf die kolumbianische Linke letztlich in eine Sackgasse führte und unterstützte die Demobilisierung der M-19 in den späten 1980ern.
Uribe unterstellte seinen linken Gegnerinnen und Gegnern, einschließlich Petro, mit der »narco-terroristischen marxistischen« FARC in Verbindung zu stehen. Damit versuchte Uribe sein hartes politisches Vorgehen zu rechtfertigen und von seinen eigenen Verstrickungen in den Drogenhandel abzulenken. Die mit Uribe verbündete rechte Presse, die die kolumbianische Medienlandschaft lange dominierte, verstärkte diese Hetzkampagne gegen die Linke. Petro erreichte mit 9 Prozent der Wählerstimmen den vierten Platz – ein besseres Ergebnis als erwartet.
Auch bei der diesjährigen Wahl wurde Petro öffentlich denunziert. Die Mainstream-Medien nannten ihn durchweg einen »ehemaligen Guerillero«, obwohl er seine Waffen vor über dreißig Jahren niedergelegt hat und ihm Amnestie gewährt wurde. Die Presse versuchte dennoch, die demokratische Linke mit dem bewaffneten Widerstand gleichzusetzen.
Nur einen Tag vor der Stichwahl prangte auf der Titelseite der Semana, einem einflussreichen rechten Nachrichtenmagazin, die Frage: »Die Wahlen: Ex-Guerrilla oder Ingenieur?« In dieser Gegenüberstellung erscheint der Rechtspopulist Hernández der vertrauenswürdigere Kandidat zu sein, obwohl er im Wahlkampf verkündet hatte, den Ausnahmezustand auszurufen und den Kongress aufzulösen, sollte Petro die Wahl gewinnen.
Während des lang anhaltenden bewaffneten Konflikts in Kolumbien wurde diese Rhetorik gezielt genutzt, um linke Politikerinnen und Politiker zur Zielscheibe von Gewalt und Mord zu machen. Bei den Präsidentschaftswahlen 1990 wurden drei Kandidierende der linken Opposition von Paramilitärs und Drogenhändlern ermordet. Unter den Opfern waren Carlos Pizarro, ehemaliges Mitglied der M-19, und Bernardo Jaramillo Ossa, der Vorsitzende der linken Partei UP (Unión Patriótica, Patriotische Union). In den Jahren zwischen 1984 und 2002 wurden über 4.000 Parteimitglieder der UP getötet, darunter Kongressabgeordnete, Gemeinderätinnen und Bürgermeister.
Staatsanwälte, die diese Verbrechen untersuchten, deckten 2014 auf, dass die Ermordung von Parteimitgliedern der UP systematisch erfolgte. Rechte Paramilitärs, Politiker und Mitglieder der Armee waren daran beteiligt. Nachdem die kolumbianische Regierung und die FARC im Jahr 2016 ein Friedensabkommen unterzeichneten, wurde die sogenannte Sondergerichtsbarkeit für den Frieden eingerichtet. Diese stufte die Morde an UP-Mitgliedern als völkermörderisch ein, da sie die völlige Auslöschung einer demokratischen Opposition beabsichtigten.
Solche Drohungen und Denunziationen sind bis heute nicht verstummt. Doch das Friedensabkommen von 2016 und die Demobilisierung der FARC haben den Hetzkampagnen gegen Linke den Wind aus den Segeln genommen. Erst das ermöglichte es, in der öffentlichen Debatte drängendere Themen zu setzen, wie etwa soziale Ungleichheit und Armut.
Petro knüpfte an seinen ersten Präsidentschaftswahlkampf an und kandidierte 2011 mit Erfolg für das Amt des Bürgermeisters von Bogotá. Der Widerstand der Rechten ließ nicht lange auf sich warten. Petro wurde schließlich von Generalstaatsanwalt Alejandro Ordoñez seines Amtes enthoben. Ordoñez ist ein Rechtsextremer, der aktuell als Duques Botschafter in der Organisation Amerikanischer Staaten agiert.
Er leitete das Amtsenthebungsverfahren ein, als Petro die privatisierte Müllabfuhr Bogotás durch ein öffentliches Unternehmen ersetzen wollte, das Menschen, die informell Müll von der Straße aufsammelten, eine reguläre Arbeitsstelle bieten sollte. Die Übergangsphase von privater zur öffentlicher Verwaltung war jedoch schlecht organisiert; tagelang sammelte sich Müll auf den Straßen an. Daraufhin entschied Ordoñez, dass Petro die Verantwortung für die Müllabfuhr an ein inkompetentes Unternehmen übertragen, gegen die Regeln des freien Markts verstoßen und die öffentliche Gesundheit und die Umwelt gefährdet hatte.
Dieses Vorgehen war eindeutig politisiert, ganz unabhängig davon, ob die Kritik an Petro berechtigt war oder nicht. Denn der Generalstaatsanwalt, der Petro absetzte, war nicht einfach nur ein Richter, sondern ein ideologischer Gegner des linken Bürgermeisters. Einige Monate später entschied ein kolumbianisches Gericht, dass Petro sein Amt wieder aufnehmen durfte. Im Jahr 2020 wurde das Amtsenthebungsverfahren vom Interamerikanischen Gerichtshof für Menschenrechte für rechtswidrig erklärt, da Petro die Unschuldsvermutung und das Recht, sich vor Gericht verteidigen zu dürfen, nicht gewährt wurde.
Für Petro hatten diese Strapazen aber auch einen positiven Effekt. Denn diese Auseinandersetzung stellte sich für die Öffentlichkeit als ein Kampf zwischen dem führenden Politiker der lange unterdrückten kolumbianischen Linken und dem autoritären rechten Establishment dar. Der Vorfall hatte Petros politischer Karriere kein Ende gesetzt, sondern ihm größere Bekanntheit verschafft – und so startete er 2018 seine zweite Präsidentschaftskampagne. Auch dieses Mal übertraf Petros Ergebnis alle Erwartungen und er trat in der Stichwahl gegen Uribes Schützling Iván Duque an, dem er jedoch unterlag.
Vor der Wahl von 2018 hatte der Kongress ein Gesetz verabschiedet, das dem zweitplatzierten Kandidaten einen Sitz im Senat gewährt. In der Folge trat Petro seine zweite vierjährige Amtszeit als Senator an. Der Senat erwies sich als geradezu ideale Plattform für den nun prominenten Gegenspieler der Duque-Regierung. Petro fiel als charismatischer Redner auf und konnte seine Expertise hinsichtlich der drängendsten sozialen Probleme Kolumbiens unter Beweis stellen.
Gleichzeitig begann er, linke Kräfte in einer neuen politischen Partei, dem Pacto Histórico (Historischer Pakt), zu vereinen. Der Pacto Histórico ist eine breite Koalition unterschiedlicher linker Strömungen und Ideologien, die gemeinsam Lösungen für die Probleme Kolumbiens erarbeiten.
Stimmenanteil für Gustavo Petro bei Präsidentschaftswahlen, 2010-22. (Der Prozentsatz für die Vorwahlen wurde berechnet, indem alle gültigen Stimmen für die Vorwahlkandidaten jeder Partei zusammengerechnet wurden).
Schaubild 1 zeigt Petros Weg zur Präsidentschaft, der ähnlich verläuft wie der Aufstieg der kolumbianischen Linken insgesamt. Ähnlich wie Lula in Brasilien, der seine politische Karriere unter einer Militärdiktatur begann, war ein Wahlsieg für die kolumbianische Linke lange nicht in Sicht. Auch Lula kandidierte viermal bei den Präsidentschaftswahlen (1989, 1994, 1998 und 2002), Petro dreimal (2010, 2018 und 2022).
Die Weigerung rechter Regierungen, soziale Forderungen der Bevölkerung zu adressieren, hat Petros Aufstieg erleichtert, insbesondere während der Amtszeit von Duque. Letzterer reagierte 2021 auf massive landesweite Proteste mit gewaltsamer Repression. Es waren besonders die Jüngeren, die gegen die anhaltende Armut und Ungleichheit, die sich durch die Pandemie noch verschärften, auf die Straße gingen.
Der Sieg von Petro und Márquez folgt auf die Kongresswahlen vom März dieses Jahres, bei denen der Pacto Histórico stärkste Kraft wurde. Die verschiedenen ethnischen Minderheiten Kolumbiens, einschließlich der afrokolumbianischen Bevölkerungsgruppen und der indigenen Völker, haben nun zum ersten Mal in der Geschichte eine echte politische Vertretung in der Regierung. Und zum ersten Mal seit Jahrzehnten wurde ein Präsidentschaftskandidat unter anderem deswegen gewählt, weil er versprach, hohe Einkommen stärker zu besteuern.
Zwar hat auch Uribe eine Vermögenssteuer eingeführt, allerdings nur, um die Einnahmen ins Militär zu investieren, weshalb er diese Steuer auch als »Kriegssteuer« bezeichnete. Ehemalige Präsidenten wie Juan Manuel Santos und Duque wurden ins Amt gewählt, nachdem sie versprachen, die Steuern nicht zu erhöhen. Santos beteuerte im Jahr 2010 sogar, dieses Versprechen in Stein zu meißeln. Duque zog mit dem Slogan »höhere Löhne, weniger Steuern« in den Wahlkampf. Petro hingegen macht genau das Gegenteil. Denn die breite Bevölkerung will die extreme sozioökonomische Spaltung nicht länger hinnehmen und ist sich darüber im Klaren, dass eine Haushaltspolitik, die höhere Steuereinnahmen zur Finanzierung von Sozialausgaben aufwendet, diese Ungleichheit mildern kann.
Petros Steuerpolitik ist gut durchdacht und scheint ausreichend politische Unterstützung zu haben, um auch umgesetzt zu werden. Einige seiner anderen politischen Vorhaben werden es schwieriger haben. Etwa will Petro eine schnelle Abkehr von fossilen Brennstoffen einleiten. Dieser ambitionierte Plan ist jedoch von Faktoren abhängig, die sich teilweise der Kontrolle der Regierung entziehen, etwa der umfassende Einsatz erneuerbarer Energien. Ironischerweise versucht die kolumbianische Rechte Petro zu diskreditieren, indem sie behauptet, er würde das »venezolanische Modell« nach Kolumbien holen – dabei ist der wirtschaftliche Kollaps, den Venezuela im letzten Jahrzehnt durchlebte, vor allen Dingen auf die übermäßige Abhängigkeit von der Ölproduktion zurückzuführen.
Petro will zudem die Außenpolitik seines Landes auf den Prinzipien sozialer und ökologischer Gerechtigkeit gründen – ein lobenswertes und ungewöhnliches Ziel für eine sich entwickelnde Wirtschaft mit mittlerem Einkommen. Es wird aber schwierig sein, es auch umzusetzen. Dies gilt insbesondere für die wichtigen Beziehungen zu den USA, die stark militarisiert sind, seit der sogenannte Plan Colombia eingeführt wurde [Anm. d. Red.: von den USA unterstütztes Regierungsprogramm, das 1999 etabliert wurde, um mit militärischer Hilfe den Drogenhandel und linke Guerillas zu bekämpfen].
Für die USA war Kolumbien lange ein verlässlicher konservativer Verbündeter. Angesichts des linken Wahlsiegs fiel die Reaktion der US-Regierung dementsprechend verhalten aus, auch wenn Biden Petro gratulierte und Zusammenarbeit in Aussicht stellte. Es ist zudem zu erwarten, dass die Republikanische Partei die bevorstehenden Zwischenwahlen zum US-Kongress im November gewinnen wird. Bei dieser Wahl tritt unter anderem der Republikaner Ron DeSantis an – Gouverneur von Florida und ein aufstrebender Star der Partei –, der Petro einen »ehemaligen Narkoterroristen« genannt hat und dessen Sieg für »sehr, sehr beunruhigend« hält.
Es kann gut sein, dass Biden zu sehr von innenpolitischen Angelegenheiten und dem Krieg in der Ukraine vereinnahmt ist, um den ersten demokratisch gewählten linken Präsidenten des drittgrößten Landes Lateinamerikas gezielt zu schwächen. Doch die Republikaner werden Biden vermutlich dazu treiben, Petro Steine in den Weg zu legen, indem sie tatsächliche und vermeintliche Versäumnisse der neuen Regierung hart kritisieren, wohingegen sie Duque in seiner Amtszeit alles durchgehen ließen. Diese Doppelmoral ist Ergebnis einer Feindseligkeit, mit der die Medien und die Regierung der USA der lateinamerikanischen Linken seit langem begegnen.
Petros Regierung wird auch im Inland auf scharfe Opposition vonseiten der Rechten und der Mainstream-Medien treffen. Als erstes steht der neue Präsident jedoch vor der Herausforderung, ein standfestes und kompetentes Kabinett zu bilden, das in der Lage ist, in der von Gewalt gezeichneten politischen Landschaft Kolumbiens zu agieren. In seiner Amtszeit als Bürgermeister von Bogotá gab es unter Petros Kabinettsmitgliedern eine hohe Personalfluktuation. Als Präsident muss er selbiges vermeiden.
Der Pacto Histórico hat im Kongress keine Mehrheit. Wenn Petro seine wichtigsten Reformen durchsetzen will, wird seine Regierung hart verhandeln und Kompromisse mit unabhängigen oder sogar oppositionellen Kongressabgeordneten und Senatorinnen eingehen müssen. Um ein gewisses Maß an politischer Stabilität gewährleisten zu können, ist Petro auf breite politische Unterstützung angewiesen. Dass er sich dessen durchaus bewusst ist, zeigen die jüngsten Einigungen, die er mit verschiedenen politischen Parteien – selbst mit der Rechten – erzielt hat. Erschwerend kommt hinzu, dass ihn die Vorgängerregierung mit einer kriselnden nationalen und internationalen Wirtschaftslage, hoher Inflation und Haushaltsdefiziten beerbt.
Doch selbst wenn es Petro gelingt, seine Gesetzesvorschläge durch die Legislative zu bringen, könnten sie die aktuell hohe Inflationsrate kurzfristig noch weiter anziehen. Petro will etwa die Zölle auf importierte Lebensmittel, Textilien und Leder um 50 Prozent erhöhen, was die Preise für Verbraucherinnen und Verbraucher weiter verteuern könnte. Auch die geplante Erhöhung der Sozialausgaben könnte eine inflationäre Wirkungen entfalten, wenn diese Programme nicht sorgfältig geplant und umgesetzt werden.
Nach dem historischen Wahlsieg werden viele Kolumbianerinnen und Kolumbianer sehr hohe Erwartungen an ihre neue Regierung stellen. Damit werden Petro and Márquez umgehen müssen. Wählerinnen und Wähler, die für ihre dringendsten Probleme zügige Abhilfe erwarten, können schnell frustriert werden und der Regierung ihre Unterstützung entziehen, so wie es in der Vergangenheit bereits in Chile, Peru und Honduras geschehen ist.
Mit diesem Dilemma sind viele linke Politikerinnen und Politiker konfrontiert, die in ein Amt gewählt wurden und die Grundsteine für einen demokratischen Sozialismus legen wollen. In seiner Siegesrede ging Petro direkt darauf ein: »Wir werden den Kapitalismus in Kolumbien entwickeln, aber nicht weil wir ihn verehren, sondern weil wir in Kolumbien zuerst die Vormoderne überinwinden müssen, also den Feudalismus und die moderne Sklaverei. Wir müssen die Mentalitäten und Verhaltensweisen der Vergangenheit, die mit dieser Welt der Sklaverei verbunden sind, hinter uns lassen.«
Kolumbianische Präsidenten sind für vier Jahre im Amt und können nicht wiedergewählt werden. Angesichts dessen steht Petro unter besonders hohem Druck, denn er muss die Grundlagen für die Erfolge künftiger linker Kandidatinnen und Kandidaten schaffen. Das kann nur gelingen, wenn Petro und Márquez die Bevölkerung für ihre Agenda mobilisieren können und gleichzeitig zeigen, dass sie willens und fähig sind, die dringendsten Probleme des Landes anzugehen – und wenn sie verhindern können, dass der Widerstand und die Gewalt der extremen Rechten sie blockiert.
Mikael Wolfe lehrt Geschichte an der Stanford University. Christian Robles-Baez promoviert in Geschichte an der Stanford University.
Mikael Wolfe lehrt Geschichte an der Stanford University.
Christian Robles-Baez promoviert in Geschichte an der Stanford University.