05. Juli 2022
Ukraine-Krieg, Inflation und steigende Energiepreise haben das deutsche Wirtschaftsmodell auflaufen lassen. Um Abhilfe zu schaffen, will Scholz die Gewerkschaften und die Arbeitgeber auf einen neuen Klassenkompromiss einschwören. Das reicht vorne und hinten nicht.
DGB-Vorsitzende Yasmin Fahimi, BDA-Präsident Rainer Dulger und SPD-Kanzler Olaf Scholz bei der Pressekonferenz zur Konzertierten Aktion, Berlin, 4. Juli 2022.
Vor wenigen Wochen kündigte Olaf Scholz an, es würde in Reaktion auf den Ukrainekrieg, die Energieknappheit und die steigenden Preise eine sogenannte Konzertierte Aktion geben – also eine abgestimmte Verhandlung der Tarifpartner, die über ihre üblichen Aushandlungen hinausgeht. Die gegenwärtige Lage ist so historisch wie bei der ersten Konzertierten Aktion von 1967, als über Investitionsprogramme beraten wurde, um die Konjunktur anzukurbeln.
Gleichzeitig ist die Situation heute ungleich dramatischer, was auch ein Grund dafür sein mag, weshalb die Regierung zu dieser Großmaßnahme greifen möchte. Das deutsche Wirtschaftsmodell mit geringer Binnennachfrage und massiven Exporten bei günstigen Energiepreisen gerät unter Druck. Es war klar, dass dieses Modell an sein Ende kommen würde, nicht aber, dass es so schnell einbrechen würde. Es geht bei dieser Konzertierten Aktion, die gestern ihren Anfang nahm und sich noch über Wochen als »Prozess« der Aushandlung hinstrecken wird, um nicht weniger als einen neuen Klassenkompromiss. Zunächst sollen die steigenden Energie- und Lebensmittelpreise abgemildert werden, mittelfristig geht es aber um mehr als Güter des täglichen Bedarfs. Die Gewerkschaften hatten das Angebot einer Einmalzahlung zurecht abgelehnt und mit ihrer Begründung den richtigen Ton gesetzt: Mit ein paar Brotkrumen ist den Menschen nicht geholfen.
»Der faire Ausgleich zwischen den Interessen in einem Geist der Gemeinsamkeit prägt unser Land. Diesen Geist gilt es zu erhalten und auch zu stärken.« Mit diesen vollmundigen Worten begann Scholz seine gestrige Pressekonferenz. Wenig später spricht er von einem »großen gemeinsamen Dialog«. Er wirkt sichtlich bemüht darum, dem Treffen historische Bedeutung zu verleihen und die Konzertierte Aktion in die lange Linie der Klassenkompromisse einzureihen. Er weiß, dass die bisherigen Entlastungspakete, von denen bei der Pressekonferenz auch die Rede ist, bei weitem nicht ausreichen werden, wenn sich die Energiekrise weiter zuspitzt.
Auch die neue DGB-Vorsitzende Yasmin Fahimi spricht von einem »historischen Präzedenzfall, in dem es eine gemeinsame Kraftanstrengung braucht«. Mit dem Wörtchen »Präzedenzfall« jedoch widerspricht sie Scholz, der ja eine Neuauflage der Konzertierten Aktion der 1960er im Sinn hat. Damals ging es darum, Lohnforderungen zurückzuhalten, um eine Lohn-Preis-Spirale zu verhindern. Fahimi stellt dagegen klar: Eine solche Lohn-Preis-Spirale ist faktisch nicht gegeben. Damit deutet sie an, dass die Gewerkschaften, anders als 1967, nicht auf Lohnforderungen verzichten werden. Gleichwohl stimmt die Vorsitzende in den Chor des wirtschaftlichen Gesamtinteresses ein und spricht davon, eine »Rezession zu verhindern, Standorte zu stabilisieren, Wertschöpfungsketten zu erhalten und Beschäftigung zu sichern«.
Ähnlich spricht auch Arbeitgeberpräsident Rainer Dulger davon, den »gesellschaftlichen Frieden« wahren zu wollen. Dabei hatte er selbst noch vor wenigen Tagen von einer 42-Stunden-Woche und einer längeren Lebensarbeitszeit schwadroniert und sich zu der hämischen Äußerungen hinreißen lassen: »Die fetten Jahre sind vorbei«. Überraschenderweise ist selbst Dulger der Meinung, »Löhne sind aktuell kein Inflationstreiber«. Wenn selbst die Unternehmer eingestehen müssen, dass nicht die Lohnforderungen das Problem sind, muss die Lage dramatisch sein. Was Dulger unterschlägt: Statt einer Lohn-Preis-Spirale erleben wird gerade eine Profit-Preis-Spirale. Und um diese auszusetzen, wäre mehr nötig als ein Treffen der Tarifpartner.
Die Ampel möchte erste Ergebnisse mit den Tarifpartnern im Herbst vorstellen. Das Problem: Die hohen Preise belasten die Menschen schon jetzt. Und wenn der Staat den parlamentarischen Prozess erst im Herbst beginnt, dann kommen die Entlastungen erst im Spätherbst. Bis sie dann ausgezahlt werden, könnte schon Frühwinter sein. Für alle, deren Monat zu viele Tage hat, dürfte diese Hilfe viel zu spät kommen.
Doch es gibt noch weitere Probleme: Christian Lindner will ab 2023 die Schuldenbremse wieder einhalten. Spätestens dann wird der Staat kaum noch finanziellen Spielraum haben, um zur Konzertierten Aktion irgendetwas Nennenswertes beizutragen. Lindner blockiert schon jetzt, um sicherzugehen, dass auch in diesem Jahr jeder vernünftigen Maßnahme der Geldhahn abgedreht wird. Weitere Schulden für dieses Jahr hat er bereits ausgeschlossen. Dabei wären massive Entlastungen und Investitionen gerade jetzt nötig, um Lindners Verarmungsprogramm aufzuhalten und die verschlafenen Energiewende zu beschleunigen.
Um die Menschen vor der kommenden Energiekrise zu schützen, braucht es mehr als Formelkompromisse. Sowohl in der Sozialpolitik als auch in der Wirtschafts- oder der Finanzpolitik müssen große Schritte gemacht werden. Eine steuerfreie Einmalzahlung ist keine Lösung. Im Gegenteil, sie erzeugt sogar mehr Probleme. Die Preise werden auf absehbare Zeit nicht mehr sinken. Ohne Tariferhöhung würden die Gewerkschaften bei der nächsten Verhandlung daher umso höhere Steigerungen verlangen müssen. Daher beschrieb Ver.di-Chefökonom Dierk Hirschel die steuerfreien Einmalzahlungen von den Arbeitgebern als »vergiftetes Geschenk«. Um wirklich Abhilfe zu schaffen, brauchen die arbeitenden Menschen ordentliche Tarifabschlüsse, und zwar in allen Sektoren.
Klar ist auch, dass es darüber hinaus auch eine neues Entlastungspaket braucht, dass vor allem denjenigen zugute kommt, die nicht arbeiten gehen. Millionen Armutsrentner wurden bislang komplett vergessen und die Ärmsten wurden nicht genug entlastet. Da die Schuldenbremse ausgesetzt ist, könnte der Staat durch eine Einmalzahlung problemlos verhindern, dass Armutsrentnerinnen tagtäglich durch höhere Kosten leiden, weil ihnen das Geld ausgeht. Dass die Ampel das hinnimmt, ist eine politische Entscheidung. Grundlegende Reformen wie notwendige Verbesserungen bei der Mindestsicherung, die Anhebung der Renten, eine Mobilitätsprämie oder eine Abschaffung der Mehrwertsteuer auf Grundnahrungsmittel würde eine solche Einmahlzahlung nicht ersetzen. Doch auch dafür braucht es auch in der Zukunft finanziellen Spielraum. Deswegen plädiert auch DIW-Präsident Marcel Fratzscher dafür, die Schuldenbremse auch für 2023 auszusetzen. Damit auch dann nicht der Kürzungshammer droht, müsste man sie weitgehend reformieren und Vermögende stärker besteuern.
Ebenso braucht es einen vernünftigen Energiepreisdeckel, um den Preis für den Grundbedarf zu deckeln. Dadurch würden der Herbst und Winter wieder planbar werden. War dieses Instrument zu Beginn des Jahres noch als sozialistisches Hexenwerk verschrien, so fordert mittlerweile selbst Jens Spahn preisgebundene Grundkontingente. Damit könnte man die überbordenden Preise auf ein sozialverträgliches Maß reduzieren und die Angst vor einem Kälte-Winter verringern.
Die Energiebranche zu vergesellschaften und unter demokratische Kontrolle zu bringen, wäre ein weiterer notwendiger Schritt, um die Versorgung und die Preise dauerhaft zu kontrollieren. Die zwangsläufigen Enteignungen von Gazprom-Tochterfirmen weisen in diese Richtung, werden aber natürlich nur zaghaft von Robert Habeck umgesetzt. Sie zeigen aber, dass es durchaus möglich wäre.
Für all das muss die Ampel aber mindestens ihre freiwillige Austerität aufgeben. Sonst ist die Verarmung der Bevölkerung vorprogrammiert und die Konzertierte Aktion scheitert, ehe sie richtig angefangen hat.
Ines Schwerdtner ist seit Oktober 2024 Bundesvorsitzende der Linkspartei. Von 2020 bis 2023 war sie Editor-in-Chief von JACOBIN und Host des Podcasts »Hyperpolitik«. Zusammen mit Lukas Scholle gab sie 2023 im Brumaire Verlag den Sammelband »Genug! Warum wir einen politischen Kurswechsel brauchen« heraus.
Lukas Scholle ist Volkswirt, Wissenschaftlicher Mitarbeiter für Finanzpolitik im Deutschen Bundestag und Kolumnist bei JACOBIN.