11. Februar 2025
Bundesweit führt die bis vor Kurzem noch totgesagte Partei einen Wahlkampf, der Hoffnung auf eine echte Erneuerung weckt. Nirgendwo ist diese Transformation sichtbarer als in dem Berliner Bezirk Neukölln.
Ferat Koçak beim Wahlkampf in Neukölln, 1. Februar 2025.
Nach Jahren sinkender Umfragewerte kann die Partei die Linke – vorsichtig – aufatmen. Der existentielle Kampf gegen die politische Bedeutungslosigkeit scheint vorerst gewonnen. Bei knapp 30.000 Neumitgliedern und einer Reihe von Umfragen, die die Partei wieder auf 5 oder gar 6 Prozent sehen, ist das, was vor wenigen Monaten noch unmöglich erschien, greifbar geworden: Die Linkspartei erlebt einen zweiten Frühling. Doch was genau macht die neue Stimmung aus, die die Partei erstmals seit Herbst 2023 in den Umfragewerten über die 5-Prozent-Hürde gehievt hat?
Es ist eine Mischung aus Themensetzung, Statistiken, »Organizing« und gutem altem Voluntarismus. Gerade das neu entdeckte Werkzeug des Haustürwahlkampfes ist hier das Mittel der Wahl. Zwar sind weder der Wiedereinzug in den Bundestag, geschweige denn der Umbau der Partei zu einer dynamischen, in der Gesellschaft verankerten Kraft ausgemachte Sache, aber die Erfahrungen der letzten Wochen lassen darauf hoffen, dass in der Geschichte der Linken gerade ein neues Kapitel beginnt.
Wer sich in den letzten Wochen bei der Partei eingebracht hat, hat sicherlich das Wort »Organizing« gehört. Der immer wieder auftauchende Begriff meint Parteiaufbau und den Versuch der Verankerung linker Politik in der Gesellschaft durch systematische Rekrutierung und Aktivierung der Basis. Ansätze zu einer solchen Praxis gab es in der Partei seit Jahren. Bereits 2009 gab es einen ersten, bescheidenen Versuch, im Wahlkampf auf Organizing-Methoden zu setzen, unterschiedliche lokale Akteure folgten dem Beispiel. Doch erst nachdem Austritt Sahra Wagenknechts und ihrer Anhänger am 23. Oktober 2023 erfolgte der Startschuss in der Partei für den »Fahrplan 2025«, der auf Organizing basiert.
Martin Neise, Mitarbeiter im Karl-Liebknecht Haus im Bereich Parteientwicklung, erklärt, der Plan sei im Herbst 2023 im Karl-Liebknecht Haus als noch recht formloses Papier entstanden, das vom Kampagnenteam und dem Bereich für Parteientwicklung erarbeitet wurde. Im Frühjahr 2024 wurde schließlich auch die Parteileitung überzeugt. Als sich im Spätsommer abzeichnete, dass Jan van Aken und Ines Schwerdtner die neuen Vorsitzenden werden würden, haben beide den Fahrplan 2025 von Beginn an unterstützt und zu einer zentralen Erzählung der Partei gemacht.
Auf dem Weg an die Haustüren. (© Nici Wegener, 2025)
Das Ende der Ampel-Regierung straffte den Zeitplan, doch die Gleise waren gelegt. »Der ursprüngliche Plan sah vor im Oktober zwanzig bis dreißig und im November achtzig Kreisverbände für den Haustürwahlkampf zu schulen um bis Februar die Befragung an den Haustüren zur Themenfindung zu machen. Aber dann schafften wir im Oktober 2023 bereits achtzig Kreisverbände und wenige Wochen später waren es schon 150. Mittlerweile hat die Partei weit über 200 Kreisverbände geschult«, erzählt Martin Neise.
Es wurden Kader gebildet, die in den Bezirks- oder Ortsverbänden den bundesweiten Haustürwahlkampf organisieren: Sie motivieren ihre Genossinnen und Genossen im Ortsverband für den Wahlkampf, klopfen in den Gegenden, bei denen die Partei mit Erfolg rechnen kann, an Haustüren, fragen Menschen nach ihren Problemen und katalogisieren ihre Reaktionen und Antworten. So entstanden in kurzer Zeit im ganzen Land linke Haustürwahlkampfzellen. Gleichzeitig wurden für den Wahlkampf spezifische Kernthemen der Linken festgelegt, unterfüttert von den Daten der ersten Welle der Haustürgespräche im Vorwahlkampf. Die Menschen sollen wissen, wofür die Linke steht, die Kernforderungen sind klar formuliert: bezahlbarer Wohnraum, bessere Lohn- und Arbeitsbedingungen, Frieden, und eine Absenkung der Lebenshaltungskosten.
Der Haustürwahlkampf hat in der Partei letztlich sein Nischendasein in verschiedenen Bezirken mancher Großstädte überwunden. Die Skepsis der alten Generation der Parteifunktionärinnen und Parteifunktionäre wurde weggefegt. Denn auch wenn die ältere Generation von Genossinnen und Genossen früher ihren eigenen Haustürwahlkampf führten – etwa in Form von lokaler Verankerung und Gesprächen in der Nachbarschaft –, so ist der Haustürwahlkampf von heute klarer strukturiert, erreicht mehr Menschen und wird mit statistischen Daten unterfüttert. Ein Novum in der Geschichte der Partei.
Ein besonderer Fokus im Wahlkampf liegt auf Berlin. Bundes- und Landesebene setzen dort auch auf den Haustürwahlkampf und organisieren bundesweit Aktive für die Bezirke Treptow-Köpenick, wo Gregor Gysi antritt, und Lichtenberg, wo Parteivorsitzende Ines Schwerdtner kandidiert. Wer sich mit dem Wahlkampf der Linken auseinandersetzt, kommt jedoch um Neukölln nicht herum, wo Direktkandidat Ferat Koçak, der seit 2021 für die Linke im Abgeordnetenhaus sitzt, um das Mandat kämpft. Vor dem Aktionswochenende vom 31. Januar bis zum 02. Februar wurde beispielsweise in Mitte an 13.700 Türen geklopft, in Lichtenberg an 9.000 und in Friedrichshain-Kreuzberg an 5.500. In Neukölln waren es über 43.000. Die Kampagne in Neukölln mobilisiert die mit Abstand meisten Aktiven in Berlin, wenn nicht in ganz Deutschland.
Eine ähnliche Fokussierung auf den Haustürwahlkampf hatte vor ihm schon Nam Duy Nguyen zu einem lawinenartigen Überraschungssieg mit 39,8 Prozent der Erststimmen verholfen. Er holte das Direktmandat für den Wahlkreis Leipzig 1 in der Landtagswahl in Sachsen. Die Methoden der jungen Wilden zahlen sich aus: Die Linke konnte in Leipzig 1 ihr Wahlergebnis bei den Erststimmen um ganze 17,7 Prozent steigern. Nams Erfolg war auch für Ferat Vorbild und Motivation. Sie sind miteinander befreundet, einige Aktive aus Nams Team arbeiten jetzt im Team von Ferat, Nam wiederum hat Ines beim Wahlkampf in Lichtenberg unterstützt.
Als ich für die Aktionswoche in Neukölln im Hauptquartier von Ferats Team ankomme, ist die Stimmung grandios. Die Menschen drängen sich zum Anmeldetisch, Menschen stehen vor dem Gebäude auf der Straße Schlange. Man merkt, dass in Neukölln etwas Besonderes in Gang ist. Die Aktivistinnen und Aktivisten sind mehrheitlich jung, doch auch viele Ältere engagieren sich. Der Anteil von Menschen mit Migrationshintergrund ist merklich höher als bei sonstigen Parteiveranstaltungen. Georg aus Ferats Team erzählt mir stolz vom Momentum des Wahlkampfs in Neukölln: »Die Leute rennen uns in der Basis die Bude ein. Wir kämpfen hier auch nicht nur ums Gewinnen, sondern auch darum, welche Linke ins Parlament einzieht. Und wenn Ferat das mit dieser Basisorganisation schafft, dann wird die Linke mehr auf Klassenpolitik ausgerichtet und propalästinensischer sein.«
Als Direktkandidat Ferat Koçak seine Rede hält, ist der Saal proppenvoll, die Stimmung kämpferisch. (Foto: © Nici Wegener, 2025)
Mittlerweile kommt auch Ferat an, er sei etwas angeschlagen: »Schlecht geschlafen«. In der Nacht zuvor jährte sich der Brandanschlag auf ihn und seine Familie zum siebten Mal. Die Tat reiht sich ein in eine ganze Serie von rechtsextremen Anschlägen, die über Jahre hinweg Linke in Neukölln ins Visier nahm und bis heute nicht vollends aufgedeckt ist. Ferat kämpft dennoch weiter. »Übrigens, hier ist noch ein türkischer Influencer mit 400.000 Followern, der will auch was.« Ein Kamerateam ist ebenfalls vor Ort und dreht eine Doku über Ferat.
Der Saal füllt sich bis zum letzten Platz, auch die Empore ist voll und im Flur drängen sich noch Leute. Der Aktionstag beginnt mit einer kämpferischen Rede Ferats. Er spricht über den Fall der Brandmauer durch Merz, den Rechtsruck im Land und zieht Verbindungen zu dem Brandanschlag auf ihn und seine Familie. Er spricht über Themen, die die Menschen in Neukölln umtreiben: die Miete, dass es im Kiez so dreckig sei, die allgemeine Teuerung, der schlechte ÖPNV. Zu allem hat er etwas zu sagen, auch zu seiner Kandidatur.
Er ist in Neukölln verwurzelt und immer spreche man von außen über diesen Bezirk, es sei jedoch an der Zeit, dass die Menschen sich selbst organisieren und einer von ihnen ihre Interessen im Bundestag vertrete. Er erzählt von seinem Großvater, dem als Gastarbeiter die Rente letztlich nicht reichte und der ihm bereits 2021 ins Gewissen redete, als er in das Abgeordnetenhaus einzog: »Vergiss nicht, wo du herkommst!«. Deshalb begrenze er sein Gehalt als Abgeordneter auf 2.500 Euro. »Lasst uns gemeinsam für eine starke Linke kämpfen! Lasst uns Neukölln, den Bundestag und die ganze Nation zum Beben bringen!«, ruft er entschlossen. Man fängt unweigerlich an, selbst daran zu glauben, dass Neuköllns Direktmandat für Ferat zum Greifen nahe ist.
Dichtes Gedränge vor dem Refugio in Neukölln, immer mittendrin: Ferat Koçak (Foto: © Nici Wegener, 2025)
Die weitere Organisation ist genau durchgetaktet. Kurz wird per Handzeichen erfragt, wer bereits Erfahrung hat. Es stellt sich heraus, dass gut die Hälfte der Anwesenden zum ersten Mal an die Haustüren geht und nicht aus Berlin kommt. Aktivistinnen und Aktivisten sind aus dem ganzen Bundesgebiet angereist, aus Hannover, Freiburg oder Köln.
In einer der Einführungsgruppen übt Eliseo das Gespräch an der Haustür. Er kennt Ferat aus einem Netzwerk von Parteimitgliedern mit Migrationsgeschichte, den Links.Kanax: »Er ist einfach ein cooler Typ und weiß wo er herkommt. Mein Opa war auch Gastarbeiter. Außerdem nennt er den Genozid in Gaza beim Namen, da gibt es zu viele Lücken in der Partei.«
Im Foyer steht Ferat an die Wand gelehnt, im Hoodie, mit Bauchtasche und friemelt mit einer Hand an dem Mikrofon herum, dass die Filmcrew ihm an seinen Schal geklemmt hat. Den Puschi seiner Großmutter, wie er stolz erklärt. Ferat ist tief in der kurdischen linken Bewegung verwurzelt, seiner ideologischen Heimat. Kurz macht er noch ein Video mit einem Dutzend Genossinnen und Genossen auf Türkisch. »Die sind von der TiP, die können nicht so gut Deutsch. Die gehen für mich an die Haustüren, um mit den Menschen auf Türkisch zu sprechen.« Ein Teil des Wahlmaterials ist ebenfalls auf Türkisch, teils auf arabisch. Ferat kennt seinen Wahlkreis.
Um ihn ist ständiger Trubel. Die ersten Teams gehen an die Haustüren, das Filmteam fragt, wann es losgeht. Ferat selbst hat nicht viel Zeit, muss bald zur Kundgebung zum Jahrestag des Brandanschlags: »Das ist keine Kampagne mehr, Dikka, das ist eine Bewegung!« Und mit Blick auf die AfD und den Rechtsruck im Land fügt er hinzu: »Und es ist für viele ein Überlebenskampf!«
Die Taschen sind gepackt, mit dabei ist auch eine Petition zur Unterstützung eines gerechten Friedens in Gaza. Wir ziehen los. Eine erfahrene Aktivistin, eine neue Genossin, Ferat und ich, begleitet vom Filmteam, das ab und an Aufnahmen macht. Am Haus angekommen klingelt Ferat. Und nochmal. Und wieder. »Ok, das sollt ihr jetzt nicht filmen.« Ferat lacht: Der Summer brummt und wir treten ein. Der Kiez um die U-Bahnstation Schönleinstraße ist arm. Leicht erkennt man das Bedürfnis der Neuköllner nach einem saubereren Kiez. Wir gehen ins Treppenhaus, das Kamerateam bleibt draußen. Das erste Gespräch ist recht schnell vorbei: »Keine Zeit, aber ich wähl dich eh. Tschüß.«
An der nächsten Tür öffnet uns ein älterer Herr, der von Politik nichts wissen will. Zu oft sei er enttäuscht worden. »Ich will einfach nur leben.« Beim nächsten Gespräch geht es schnell ans Eingemachte. »Wenn Sie etwas verändern könnten, was wäre das Erste, was Sie...«. Schnell antwortet der Anfang 60-jährige Mann. Der Asylstopp hätte durchgehen sollen. »Ich wohne 42 Jahre in Neukölln und was hier abgeht ist nicht normal. Meine Frau traut sich nach 18 Uhr nicht raus. Letztens wurde wieder einer in der Nähe abgestochen.« Ferat fragt ihn nüchtern, wie er es findet, dass die Mieten immer wieder steigen. Ob das für ihn auch ein Problem sei. Der Mann stutzt: »Ja … natürlich. Es wird immer dreckiger hier und die Mieten gehen immer höher!« Sie sprechen über die Mietenpolitik der Linken, aber auch die Stadtreinigung und deren chronische Unterfinanzierung. Der Mann nickt langsam. »Denken Sie nicht auch, dass die soziale Spannung hier im Kiez weniger wäre, wenn die sozialen Systeme funktionieren würden? Nicht alles so teuer und dreckig wäre? Wenn man mehr in Bildung investieren würde?« Er nickt immer noch.
Der Herr kommt aufs Gesundheitssystem zu sprechen, ein Freund müsse darum kämpfen, einen Rollstuhl zu bekommen, während ein Ukrainer nach vier Tagen einfach direkt einen elektrischen Rollstuhl erhalten habe. »Denken Sie da ist jetzt, den Ukrainer zu kritisieren oder das System?« Wieder stutzt der Mann kurz: »Ja, natürlich das System.« Ferat erklärt die Politik der Linken bezüglich der Gesundheitsversorgung, die Ungerechtigkeit des Zwei-Kassen-Systems. Wieder nickt der Mann. Dass Ferat selbst aus Neukölln stammt, kommt gut an, wie auch seine Gehaltsbegrenzung. Zuletzt reicht Ferat ihm seinen Flyer: »Sie können mich immer erreichen.« Der Mann scheint verblüfft.
Es lässt sich nicht bestreiten. In Neukölln bahnt sich etwas Großes an. Die Zahlen sagen dasselbe. An diesem Samstag waren in Neukölln 415 Aktive an 14.038 Haustüren. An dem gesamten Wochenende haben 887 Aktive an 22.195 Haustüren geklopft. Jede neue Zahl aus Neukölln bricht alle bisherigen Rekorde der Linken. In ganz Berlin wurde in diesem Wahlkampf bereits an über 200.000 Türen geklopft – in Neukölln alleine sind es knapp 115.000.
Der Abgang Wagenknechts einerseits und der Gruppierung um Klaus Lederer andererseits hat der Partei gut getan. Sie ist jünger und engagierter geworden. Die Bedeutung der Flügel und die Fokussierung auf die einstigen lähmenden internen Konflikte und Feindschaften haben abgenommen, die Partei ist im Jahr 2025 angekommen.
Neukölln ist dabei vielleicht das herausragende Beispiel, aber es handelt sich um eine bundesweite Dynamik, die die Linke förmlich gepackt hat. So war beispielsweise Ines Schwerdtner am selben Wochenende in Lichtenberg mit knapp 300 Aktiven an 13.400 Haustüren. Auch der Wahlkreis mit dem wohl längsten Namen Deutschlands, Friedrichshain-Kreuzberg-Prenzlauer Berg Ost, ist nach intensivem Haustürwahlkampf der lokalen Parteibasis für den Direktkandidaten Pascal Meiser in Schlagweite. Jüngsten Umfragen zufolge trennen Pascal nur noch 2 Prozent von den führenden Grünen.
Auch im Netz tut sich etwas, so hat die Spitzenkandidatin Heidi Reichinnek allein auf Tik Tok gut 450.000 Follower. Die Linke kommt gut an. In den letzten zwei Wochen traten über 11.000 Neumitglieder ein. Auch wenn die Linke noch beweisen muss, ob sie die alten Probleme und Querelen tatsächlich überwunden hat, ist eins offensichtlich: Es weht ein neuer Wind in der Partei.
Patrick Lempges ist Historiker mit einer Spezialisierung auf der Ideengeschichte des Sozialismus und vergleichender Faschismusforschung. Er hat unter anderem für ND.Die Woche geschrieben.