17. November 2024
Unsere ehemalige Chefredakteurin Ines Schwerdtner ist Co-Vorsitzende der Linkspartei geworden – und direkt in den Wahlkampf eingestiegen. Im Gespräch erklärt sie, wie sie die Partei wieder ins Parlament und darüber hinaus führen will.
Ines Schwerdtner ist seit Oktober 2024 Co-Vorsitzende der Linken zusammen mit Jan van Aken.
Vor etwas mehr als einem Jahr gab Ines Schwerdtner bekannt, als Chefredakteurin von JACOBIN aufzuhören, um sich neuen politischen Herausforderungen zu stellen. Wenige Monate später erkämpfte sie als frisch eingetretenes Mitglied der Linken einen Listenplatz bei der Europawahl, und ist nun im Oktober zusammen mit Jan van Aken zur Co-Vorsitzenden der Partei gewählt worden. Doch ihr Plan, die Zeit vor der Wahl zu nutzen, um die Partei neu aufzustellen, wurde durchkreuzt – denn jetzt stehen die beiden vor der Aufgabe, innerhalb kürzester Zeit einen vorgezogenen Bundestagswahlkampf zu führen.
Man könnte denken, das Scheitern der sogenannten »Fortschrittskoalition« wäre ein Geschenk für eine fortschrittliche Partei wie die Linke – doch Jahre der Selbstblockade und Zerstrittenheit haben Narben hinterlassen. Seit der Abspaltung des BSW verliert die Linke eine Wahl nach der anderen und die Fliehkräfte zwischen dem sogenannten Reformerflügel und dem Rest scheinen wieder zuzunehmen. Kann ein verstärkter Fokus auf Basisarbeit und Klassenpolitik einen Ausweg bieten?
Am Dienstag hat sich David Broder mit Schwerdtner im Karl-Liebknecht-Haus getroffen, um für JACOBIN über die Aussichten der Linken zu sprechen. Sie diskutierten über die Auswirkungen von Trumps Sieg auf die deutsche Politik, den fehlenden Rückhalt der Linken in der Arbeiterklasse und darüber, was getan werden kann, um die Partei drei Monate vor der Bundestagswahl wiederzubeleben.
Wir führen dieses Interview eine Woche nach Donald Trumps Wiederwahl in den USA und sechs Tage nach dem Auseinanderbrechen der Ampel in Deutschland. Wie würdest Du diese beiden Entwicklungen analysieren? Und kann man Vergleiche zwischen ihnen ziehen?
In beiden Fällen ist klar, dass die politische Mitte verloren hat, weil sie einfach den Kontakt verloren und nicht vorausgesehen hat, was auf sie zukommt. Meiner Meinung nach haben die liberalen Medien in den USA, aber auch in Deutschland, völlig versagt. Sie haben nicht verstanden, warum die Wählerinnen und Wähler aus der Arbeiterklasse erneut für Trump stimmen könnten – und am Ende waren sie dann schockiert. Aus den vergangenen Jahren wurde nichts gelernt. Bernie Sanders hat das Ganze gut zusammengefasst: Er kritisierte, man dürfe sich halt nicht wundern, dass man verliert, wenn man nicht wirklich im Interesse der Arbeiterklasse arbeitet.
Der Ampel-Koalition in Deutschland ist derselbe Fehler unterlaufen. Allerdings gibt es einen Unterschied: Nach dem Koalitionsende und mit Blick auf die Neuwahlen versuchen die SPD und die Grünen nun, die ganze Schuld auf Christian Lindner zu schieben. Er wird als dieser Bösewicht hingestellt, der dabei versagt hat, vernünftige Regierungsarbeit zu leisten. Keine Frage: Lindner ist ein fieser Typ. Das grundlegende Problem ist aber, dass die gesamte Koalition in ihren Kernüberzeugungen neoliberal war, nicht nur er. Die gesamte Regierung war nicht in der Lage, die Interessen der arbeitenden Bevölkerung in den Vordergrund zu stellen.
Einige Zentristen sehen in Trumps Wahlsieg nun eine Chance für ein Wiedererstarken Europas. Im September hatte Mario Draghi seinen Bericht darüber vorgelegt, wie die EU wieder wettbewerbsfähig werden soll. Einige fordern, nun sei der Zeitpunkt, diesen Plan in die Tat umzusetzen. Wie könnte sich die zukünftige Trump-Regierung Deiner Meinung nach auf die Politik in Deutschland auswirken – zum Beispiel, wenn die EU möglicherweise mehr in die eigene Verteidigung investiert?
Durch die Wahl von Trump verstärkt sich eine Dynamik, die schon zuvor zu beobachten war. Wenn Sozialdemokraten und Grüne von einem »souveränen Europa« sprechen, meinen sie damit höhere Ausgaben für Verteidigung und Militär. Genau das haben Kanzler Scholz und auch Robert Habeck immer wieder betont. Da es nun zu Neuwahlen kommen wird, erklären sie, dass wir Ausnahmen von der Schuldenbremse brauchen, um noch mehr für das Militär ausgeben zu können. Die Grünen reden von 500 Milliarden Euro zusätzlich. Das ist eine ungeheure Summe. 500 Milliarden – nicht für Infrastruktur, nicht für Schulen, für Gebäude und Brücken, sondern ausschließlich für militärische Zwecke.
»In Deutschland gibt es nach wie vor Bedarf an einer sozialistischen Partei, die sich an der Arbeiterklasse orientiert. Deshalb wollte ich Co-Vorsitzende von Die Linke werden.«
Ich gehe davon aus, dass es in diesem kurzen und harten Wahlkampf viel um die Verteidigung Europas, um die Verteidigung Deutschlands und um eine Sicherheitspolitik gehen wird, die stets in militärischen Kategorien diskutiert wird. Das ist erschreckend. Wenn die politische Mitte »souveränes Europa« sagt, dann meint sie das ausschließlich im Sinne Emmanuel Macrons mit seinem Ziel, eine europäische Armee aufzubauen. Wir haben im EU-Wahlkampf im Sommer unterstrichen: Ja, wir brauchen ein souveränes Europa und eine souveräne Europäische Union – aber im Sinne von Wirtschafts- und Sozialpolitik. Das bedeutet auch, weder unter der Knute der USA noch unter der Knute Chinas zu agieren.
Bei den EU-Wahlen im Juni und den Landtagswahlen in Ostdeutschland im September haben die Parteien, die weitere Militärhilfe für die Ukraine ablehnen – namentlich AfD und BSW – gut abschnitten, während Die Linke an Stimmen verlor. Man könnte nun argumentieren, dass es eher ökonomische Faktoren wie Gaspreise und Inflation sind, die dahinterstecken. Doch selbst diese Themen können mit Blick auf den Krieg gelesen werden – dass die nationalen Interessen Deutschlands vernachlässigt werden, dass die Eliten beim Thema Nord Stream lügen et cetera. Die Linke sagt, sie wolle Sozialausgaben statt weiterer Aufrüstung. Wie kann man diesen anderen Parteien etwas entgegensetzen und umfassend erklären, was gerade passiert?
Wir haben kürzlich auf unserer Pressekonferenz daran erinnert, dass die europäischen NATO-Staaten, also ohne die USA, etwa doppelt so viel für ihr Militär ausgeben wie Russland, selbst unter Berücksichtigung der Kaufkraft. Wenn man davon ausgeht, dass Wladimir Putin oder die russische Regierung rationale Akteure sind, ist die Ansicht, Russland stehe kurz vor weiteren Angriffen, nicht wirklich glaubwürdig. Wir müssen die Ängste der Menschen ernst nehmen, aber wir dürfen nicht in diesen Diskurs der Liberalen verfallen, dass wir immer mehr Geld für das Militär ausgeben müssen.
Das Problem mit irgendeiner »Friedenskoalition« à la BSW und AfD ist, dass dort die Vorstellung herrscht: Wenn wir Nord Stream noch hätten, wäre alles gut. Das stimmt aber nicht. Man kann die rückläufige Entwicklung der deutschen Industrie im Übrigen nicht allein auf die höheren Energiepreise zurückführen. So einfach ist das nicht. Wir haben ein generelles Problem mit zu geringen Investitionen und fallen bei zahlreichen Technologien immer weiter zurück.
Wir sehen uns zwei Fake-News-Lagern gegenüber, die beide von sich behaupten, die gesamte Problematik auf einen Schlag lösen zu können – entweder, indem Putin geschlagen wird, oder indem man einfach einen Deal mit ihm macht. So funktionieren Geo- und auch Industriepolitik aber nicht. Unsere heutigen Probleme haben viel mit einer breiteren wirtschaftlichen Interdependenz zu tun. In einem medialen Diskurs, der stark zwischen den Lagern gespalten und polarisiert ist, ist es natürlich viel, viel schwieriger, so eine Sicht zu kommunizieren.
Als sozialistische Partei sagen wir: Naja, wir könnten Energie ja auch aus anderen Quellen als Gas und Öl gewinnen. Doch solange wir diese Alternative den Menschen nicht wirklich vermitteln können – und das ist unsere Aufgabe –, ist es eben viel einfacher, sich vorzustellen, dass alles in Ordnung wäre, wenn nur Nord Stream laufen würde. Das ist einfacher, als zu sagen: Wir wollen 500 Milliarden Euro für die benötigte Infrastruktur, um künftig saubere Energie unter öffentlicher Kontrolle zu haben. Meiner Ansicht nach müssen wir daher an einem linken Populismus arbeiten, der diese Art von positiven Alternativen aufzeigt, dabei aber auf festem Boden steht und realistisch erscheint – und nicht wie leere Worthülsen irgendwelcher weltfremden Träumer.
»Das Problem mit irgendeiner ›Friedenskoalition‹ à la BSW und AfD ist, dass dort die Vorstellung herrscht: Wenn wir Nord Stream noch hätten, wäre alles gut. Das stimmt aber nicht.«
Nun droht Volkswagen, für das rund 120.000 Menschen in Deutschland arbeiten, (mindestens) drei seiner Standorte im Land zu schließen. Denen, die ihren Job behalten, drohen Einkommenseinbußen. Es ist klar, dass Die Linke auf der Seite der Beschäftigten stehen wird. Aber was genau ist euer alternativer Vorschlag? Selbst wenn Deutschland beim Umstieg auf die Produktion von E-Autos mit China mithalten könnte, würde dieser Übergang sicherlich mit einem erheblichen Verlust von Arbeitsplätzen einhergehen. Was also hat Die Linke den Volkswagen-Angestellten mitzuteilen?
Wir arbeiten derzeit gemeinsam mit der IG Metall und dem VW-Betriebsrat an einer Strategie. Die Arbeiterinnen und Arbeiter sollen nun für die Versäumnisse der Volkswagen-Geschäftsführung der letzten fünf bis zehn Jahre bezahlen. Und auch die Regierung hat versagt. Als es das letzte Mal eine solche Krise gab, spendierte der Staat mit seiner Abwrackprämie 5.000 Euro pro Neuwagenkauf. Angesichts der tiefgreifenden Deindustrialisierung, die wir gerade in Deutschland erleben – und wo die Automobilindustrie offensichtlich das Rückgrat der Industrie ist –, reicht eine solche Maßnahme aber nicht aus.
Wir bestehen darauf, dass staatliche Beihilfen nur im Austausch gegen Unternehmensanteile gewährt werden sollten. Wenn man staatliche Investitionen tätigt, braucht es auch staatliche Kontrolle. Das bedeutet nicht, dass man Volkswagen von heute auf morgen verstaatlichen soll. Der Staat und die Arbeiterschaft müssen aber mehr Kontrolle über Entscheidungen im Unternehmen haben. Das war schon immer unsere Linie. Wir müssen jetzt konkreter werden und mit der IG Metall und dem Betriebsrat zusammenarbeiten. Wie Isabella Weber sagt: Es braucht Industriepolitik mit einem Plan, der fünf, zehn Jahre in die Zukunft blickt, damit die Industrie eine gewisse Perspektive hat.
Es wird auch immer wieder über einen »Green New Deal« gesprochen. Meine Erfahrung ist: viele Menschen stimmen zwar zu, dass der grünen Wandel mit der Schaffung neuer Arbeitsplätze verknüpft werden muss, aber es ist schwierig, konkrete Beispiele zu finden, die den Menschen Zuversicht geben, dass damit auch die Probleme gelöst werden, die ihren eigenen Arbeitsplatz betreffen.
Das stimmt. In Deutschland herrscht allerdings noch die Meinung vor, dass der Staat beispielsweise in der Stahl- oder Automobilindustrie eine Rolle spielen sollte. Die Idee einer Art Wohlfahrtsstaat und einer gewissen öffentlichen Kontrolle ist hier verankert. In der Satzung der IG Metall wird auch eine Vergesellschaftung der wichtigsten Industrien erwähnt, falls dies notwendig würde. Niemand glaubt, dass dies morgen passieren wird, aber diese politische Einstellung ist unter den Arbeiterinnen und Arbeitern nach wie vor präsent; da wird tagtäglich drüber gesprochen. Ich denke, wir sollten mit diesem Thema mobilisieren, und zwar viel mehr als in der jüngeren Vergangenheit. Andererseits wählen uns unter den Industriearbeitern nur 1 oder 2 Prozent, sprich: sehr wenige. Damit darf sich eine sozialistische Partei nicht zufriedengeben.
»Meiner Ansicht nach müssen wir an einem linken Populismus arbeiten, der diese Art von positiven Alternativen aufzeigt, dabei aber auf festem Boden steht und realistisch erscheint.«
Ich habe kürzlich mit Peter Mertens von der Belgischen Arbeiterpartei (PTB) gesprochen, unter anderem darüber, wie man die Menschen in den Fabriken erreicht. Wie kann man wieder mit ihnen in Kontakt treten? Er sagte, es brauche zehnmal so viel Einsatz, um einen solchen Draht zur Industriearbeiterschaft wiederherzustellen, als bei anderen Arten des Organizing. Ich denke, dass sich dieser Aufwand trotzdem lohnt, da er strategischen Einfluss und gesellschaftliche Macht verspricht. Das werden wir in den kommenden drei Monaten nicht schaffen. Aber wir sollten definitiv öfter darüber sprechen und einen grundsätzlichen Plan haben, wie wir diese Industriearbeiter erreichen können. Ohne ihre Unterstützung können wir die tollsten politischen Strategien entwerfen, aber das wird niemanden wirklich interessieren. Wir brauchen die Arbeiter auf unserer Seite. Die Krise bei Volkswagen und in der Automobilindustrie im Allgemeinen sollten wir nutzen, um neues Selbstvertrauen zu gewinnen und zu zeigen, dass wir auch die Arbeiterschaft in der Industrie meinen, wenn wir uns als Partei der Arbeiterinnen und Arbeiter positionieren.
Gemeinhin heißt es, linker Populismus spreche eine fragmentierte Arbeiterklasse an, nicht mehr unbedingt die Massen in einer organisierten Arbeiterschaft. In Analysen zum Aufstieg der AfD wird oft festgestellt, dass sie gerade die »abgehängten« Teile der Bevölkerung für sich gewinnt, insbesondere in der ehemaligen DDR. Das mag vereinfachend sein, aber offensichtlich stimmt es, dass die AfD in den ärmeren, ländlichen Gebieten an Zustimmung gewinnt, wo die PDS/Linkspartei in den 1990er Jahren noch gut abgeschnitten hat. Bis zur Bundestagswahl sind es jetzt nur noch wenige Monate, aber wie sähe eine linkspopulistische Strategie aus, wenn man die entsprechenden Mittel und die Zeit hätte?
Mit Blick auf Ostdeutschland stellt Steffen Mau richtigerweise fest, dass tiefe Enttäuschung und Entfremdung vorherrscht – nicht nur Entfremdung von der Partei Die Linke, sondern von Parteien und Politik im Allgemeinen.Dieser Prozess dauert nun schon seit zwanzig oder dreißig Jahren an. Selbst wenn wir gute Fortschritte machen, wird es sicherlich fünf bis zehn Jahre dauern, bis wir in solchen ländlichen Gebieten wieder stärker sind.
In den kommenden drei Monaten müssen wir Arbeiterinnen und Arbeiter als ebensolche ansprechen. Wir waren lange Zeit sehr darauf fokussiert, jeden Einzelnen und seine [individuellen] Probleme zu thematisieren, ohne dabei die Gefühle anderer zu vergessen. Wir waren »die Linken mit ihren ganzen Adjektiven«, Anti-dies und Anti-das et cetera pp. Ich denke, wir müssen unsere Kommunikation vom ersten Tag dieses Wahlkampfes an ändern und deutlich machen, dass wir inzwischen eine andere Partei sind.
Wir sollten darüber sprechen, was die Menschen wollen und wovor sie Angst haben: Das muss das Material sein, aus dem wir unsere täglichen Diskussionen und Gespräche bauen. Wenn wir in diesem Wahlkampf also über den Mietendeckel, über Preise oder über Deindustrialisierung sprechen, müssen wir dabei die Arbeiterklasse und ihre Interessen in den Mittelpunkt stellen. Wir müssen die Art und Weise, wie wir über Politik sprechen, komplett ändern.
Bei Deiner Kandidatur für den Co-Vorsitz hast Du von einer Neugestaltung der Partei gesprochen. Eine erste Maßnahme sind die sogenannten Haustürgespräche. Du möchtest, dass Die Linke vor Ort präsent ist. Sie soll eine »nützliche« Partei sein, die sich ernsthaft für die Bedürfnisse der Menschen einsetzt. Dabei verweist Du auf Beispiele aus anderen Ländern, beispielsweise auf die KPÖ in Österreich oder die PTB in Belgien. Was genau ist der Plan?
Wir hatten eigentlich eine »Vorwahlkampagne« geplant, bei der wir an 100.000 Türen klopfen wollten. Jetzt kann man das »Vor-« natürlich streichen, wir befinden uns schon voll im Wahlkampfmodus. Das ist gut so! Ich glaube, damit sind wir paradoxerweise eine der am besten vorbereiteten Parteien. Schließlich gibt es in der Partei Die Linke aktuell schon 150 Gruppen, die mit dieser Art von »Wahlkampf« begonnen haben, noch bevor der offizielle Wahlkampf überhaupt startet.
Wie gesagt, unser Ziel war es, an 100.000 Türen zu klopfen, um den Menschen zuzuhören und somit unsere wichtigsten Forderungen für die Wahl direkt von ihnen zu erhalten. Was sich nach den ersten paar tausend Gesprächen herauskristallisierte, war – wenig überraschend – dass die meisten Menschen in den Städten über das Thema Mieten sprechen wollen. Ich denke, wir bekommen mehr Legitimität und Anziehungskraft, wenn wir also sagen: »Was wir in diesem Wahlkampf fordern, ist ein bundesweiter Mietendeckel«. Weil es das ist, was die Menschen am meisten brauchen. Dass es dazu gekommen ist, liegt natürlich daran, dass die SPD mit Blick auf die Lebenshaltungskostenkrise komplett versagt hat, sei es beim Thema Heizen oder Wohnungsneubau. Die Mieten steigen seit Jahren, nicht nur in Berlin oder Hamburg, sondern in allen deutschen Städten.
»Wir waren lange Zeit sehr darauf fokussiert, jeden Einzelnen zu thematisieren, ohne dabei die Gefühle anderer zu vergessen. Wir waren ›die Linken mit ihren ganzen Adjektiven‹, Anti-dies und Anti-das.«
Wir konnten seit dem Ende der Ampel 2.000 Neumitglieder willkommen heißen, die sich fragen: Was können wir jetzt tun? Ich denke, es ist am besten, sie mit den Leuten in Kontakt zu bringen, die wir von linker Politik überzeugen wollen. Wichtig ist, dass wir die Dinge, über die wir reden, direkt von den Leuten erfahren. [Die Haustürgespräche] sind ein Test. Wir werden sehen, wie diese Art von Dialog funktioniert. Jetzt müssen wir diese Kampagne vor allem beschleunigen. Es gab gut 10.000 Gespräche, die jetzt analysiert werden müssen. Ich hoffe, dass wir in zwei Wochen ein Programm haben, das darauf aufbaut, was uns die Leute an ihren Wohnungstüren erzählt haben.
Du hast gerade gesagt, dass beispielsweise Industriearbeiter nicht sonderlich stark in der Partei Die Linke vertreten sind. Wie willst Du das ändern?
Das ist eine der größten Aufgaben für die kommenden Jahre. Auf unserem jüngsten Parteitag haben wir viel über eine Einkommensdeckelung von Parteivertretern gesprochen: Mein Co-Vorsitzender Jan von Aken und ich beziehen beide das Durchschnittseinkommen eines Arbeitnehmers in Deutschland von 2.800 Euro im Monat. Meiner Meinung nach sollte das Vorbildcharakter für Die Linke und für die bevorstehende Wahl haben. Wir können das innerhalb der Partei nicht einfach durchsetzen oder Die Linke über Nacht grundlegend ändern. Aber wir können den Schritt tun, sie zu einer sozialistischeren Partei zu machen, bei der es nicht mehr diese Kluft zwischen Mitglieder- und Funktionärsebene gibt.
Darüber haben wir diskutiert. Ebenso darüber, dass es wichtig ist, beispielsweise einen Kandidaten zu haben, der Hafenarbeiter ist, jemand, der kürzlich gestreikt hat – das haben wir nun beispielsweise bei den kommenden Bürgerschaftswahlen in Hamburg. Wir brauchen mehr solche Leute, Krankenpfleger, Arbeiterinnen auf unseren Listen. Ich würde diesbezüglich für eine Quote plädieren.
Nochmals: Man kann eine Partei mit ihren 55.000 Mitgliedern nicht über Nacht umkrempeln; man muss sie lenken. Insgesamt verspürt man aber einen großen Druck und Wunsch nach Veränderung, der nicht nur von uns [Parteivorsitzenden] ausgeht. Dass wir unsere eigenen Gehälter gekürzt haben, war wohl das Populärste, was wir in den letzten Wochen getan haben. Sogar in der Bild gab es seit langem erstmals wieder eine positive Meldung über uns. Wir hörten Leute sagen: »Normalerweise wähle ich AfD, aber ich habe wirklich Respekt für das, was ihr da tut«. Ich glaube, das bringt viele Leute zurück; vielleicht auch Leute, die sagen: »Ich interessiere mich nicht für linke Politik an sich, aber ich mag diese andere Herangehensweise«. Das kann das Bild, das die Menschen von uns haben, verändern.
Was für Leute treten aktuell der Partei bei?
Ich kandidiere in Lichtenberg. Wir hatten dort kürzlich ein sehr gut besuchtes Treffen. Da waren einerseits ältere Leute, die seit jeher in der PDS und der Linken sind und sagten, dass sie seit 2007 [dem Gründungsjahr von Die Linke] keine solche Hoffnung mehr verspürt haben. Man merkt also wirklich, dass sich in der Partei etwas verändert. Es waren vielleicht zwei Drittel ältere Menschen und ein Drittel jüngere, neue, eher aktivistische Menschen, die teilweise erst vor einer Woche oder ein paar Monaten beigetreten waren. Ich denke, dieses Treffen war ein gutes Beispiel dafür, wie die Partei heute funktioniert.
Die meisten jungen Leute sind sehr motiviert. Dieses Potenzial sollten wir nutzen. Wir müssen jedoch mehr sein als eine Partei junger Aktivistinnen und Aktivisten, bei der sich die Leute im Wahlkampf einbringen, bei schlechten Wahlergebnissen dann aber frustriert sind, sich abwenden und anderweitig engagieren. Wir brauchen aber auch die Erfahrung der älteren Generationen.
»Wir sollten darüber sprechen, was die Menschen wollen und wovor sie Angst haben: Das muss das Material sein, aus dem wir unsere täglichen Diskussionen und Gespräche bauen.«
Wenn man die Unterschiede überbrücken will, muss man die unterschiedlichen Gruppen in einer gemeinsamen Praxis zusammenbringen. Ein Wahlkampf kann dafür ein guter Zeitpunkt sein. Aber wir wollen das wirklich konsequent auf- und ausbauen, zum Beispiel mit Bildungsprogrammen für neue Mitglieder, die nicht per se Marxistinnen und Marxisten sind, sondern zur Partei gekommen sind, weil sie Angst vor der AfD oder einfach das Gefühl hatten: »Oh mein Gott, Donald Trump ist zurück, jetzt trete ich der Linken bei«. Ich denke, es ist unsere Aufgabe, sie durch Bildung und Praxis zu Sozialistinnen und Sozialisten zu machen. So hat schon die PDS Politik gemacht und das ist auch das, was ich persönlich tue: Ich lade Menschen in meine Sprechstunde ein, höre ihnen zu und versuche, ihnen bei ihren Problemen zu helfen. Ich glaube, das ist ein neuer Stil, der den Menschen ein Gespür dafür bietet, was diese Partei sein kann.
Wie bewertest Du mit Blick auf die Mitgliederzahlen das Entstehen des BSW? Kann der Führungswechsel bei der Linkspartei dazu führen, dass frühere Mitglieder zurückgewonnen werden?
Mit der Abspaltung des BSW haben wir etwa 10.000 Mitglieder verloren. Viele von ihnen waren schon lange frustriert von der Politik von Die Linke. Wir werden sie nicht sofort als Mitglieder zurückgewinnen können. Als ersten Schritt müssen wir vor allem Wählerinnen und Wähler zurückgewinnen, insbesondere im Osten. Viele sind bereits enttäuscht vom BSW, weil es an Koalitionsverhandlungen [mit CDU und SPD] in Sachsen und Thüringen teilgenommen hat. Das verärgert die Menschen. Vermutlich merken einige Leute gerade, dass das BSW dasselbe macht wie andere Parteien auch – dass es bei Koalitionsverhandlungen Abstriche machen muss – und dass es für sie persönlich keinen wirklichen Unterschied erwirkt.
Der erste Schritt sollte es also sein, BSW-Wähler in den Regionen zurückzugewinnen, in denen wir viele Stimmen an das BSW verloren haben. Wir werden nicht alle zurückgewinnen. Mit Blick auf Parteimitgliedschaften ist das noch schwieriger, weil die Entfremdung von der Linkspartei ein langer Prozess war. Dennoch: Ich bekomme viele Nachrichten von Menschen, die sagen: »Eure Führung gibt mir Hoffnung, dass wir wieder auf den richtigen Weg kommen«. Ich denke, das Ganze wird einfach eine gewisse Zeit dauern.
Erst kürzlich sind mehrere Linke-Mitglieder aus Berlin ausgetreten. Sie sind der Ansicht, die Partei gehe nicht entschlossen genug gegen Antisemitismus vor. Was sagst Du zu diesen Vorwürfen?
Die Austritte kamen nach dem Parteitag, der außerordentlich gut verlaufen war. Ich sage das nicht, weil wir zur Co-Vorsitzenden gewählt wurden, sondern weil praktisch alle vor Ort überzeugt waren, dass wir eine neue Art der internen Debatte und Kommunikation geschaffen haben – insbesondere, wenn es um das Thema Nahost und den Krieg in Gaza geht. Das war wirklich außergewöhnlich. Wir haben alle Mitglieder der einzelnen Gruppen und Strömungen in der Partei Die Linke zum Dialog eingeladen. Es war bekannt, dass diese Gruppen unterschiedliche Standpunkte vertreten. Wir haben entsprechend lange gebraucht, um zu einem Parteitagsbeschluss zu kommen, dem alle zustimmen können. Die große, die überwiegende Mehrheit hat sich auf eine Position zum Thema Menschenrechte geeinigt, die besagt, dass Israel schwere Kriegsverbrechen in Gaza begeht, aber auch, dass wir selbstverständlich keine Hamas-Unterstützer sind. Ich denke, wir sollten als linke Partei in der Lage sein, das klar zu sagen. Ich verstehe wirklich nicht, warum Menschen nach diesem Parteitag die Partei verlassen, insbesondere mit einer solchen Begründung. Das ergibt für mich keinen Sinn.
In der Linken gab es lange Zeit eine Art dialektische Opposition zwischen dem konservativen Flügel, der dann zum BSW ging, und einer Art »super-progressivem« Flügel. In gewisser Weise haben wir diese beiden Extrempositionen jetzt verloren. Die große Mehrheit in der Partei hat eine bessere Position erarbeitet als in den vergangenen Jahren. Es ist bekannt, dass in der deutschen Linken sehr spezielle Ansichten zum Nahen Osten und zu Israel existieren. Aber ich denke, wir haben einen sehr guten Weg gefunden, darüber zu sprechen – und ich möchte das nicht erneut aufs Spiel setzen, nur weil einigen wenigen Leuten das nicht genug ist. So funktioniert eine Partei einfach nicht.
Vor kurzem debattierte der Bundestag über eine Resolution, in der die IHRA-Definition von Antisemitismus verwendet wird. Dafür gab es Kritik von NGOs wie Amnesty International, denn mit dieser Definition kann angemessene und angebrachte Kritik am Staat Israel unterdrückt werden. Angesichts dieser Kritik sowie der Tatsache, dass Die Linke einen eigenen Gegenvorschlag hatte, und da das BSW dagegen stimmte: Warum hat sich Die Linke letztendlich der Stimme enthalten, statt gegen die Resolution zu stimmen?
Richtig, wir hatten einen eigenen Vorschlag zum Kampf gegen Antisemitismus, der von vielen Gruppen, Künstlerinnen und Wissenschaftlern unterstützt wurde. Darin haben wir betont, dass wir eine solche Resolution [unter Nutzung der IHRA-Definition] nicht befürworten, weil sie offensichtlich gegen Grundrechte wie die Meinungsfreiheit verstößt und diverse höchstproblematische Folgen haben könnte. Unser Vorschlag hatte leider keine wirkliche Chance, durch den Bundestag zu kommen. Also beschloss die Partei – oder genauer gesagt, die Bundestagsabgeordneten der Gruppe Die Linke – sich der Stimme zu enthalten. Ich denke schon, dass wir unseren eigenen Standpunkt stärker vertreten und die Maßnahmen der Regierung nicht unterstützen sollten. Aber für uns als Partei ist es schon ein großer Schritt in die richtige Richtung, dass wir eine einheitliche Position einnehmen, wie wir es nun getan haben.
»Wie bauen wir die Partei jetzt mit den vorhandenen Ressourcen neu auf? Wenn wir nicht ins Parlament kommen, müssen wir das mit weniger Ressourcen und weniger finanziellen Mitteln tun – aber es wird dann noch offensichtlicher sein, dass wir die Dinge drastisch ändern müssen.«
Aktuell sieht es so aus, dass im Februar 2025 gewählt werden dürfte. Bei der letzten Bundestagswahl blieb Die Linke knapp unter der Fünf-Prozent-Hürde, konnte sich aber dank dreier Direktmandate den Status als Fraktion sichern. Ist das auch das Ziel für 2025?
Es gibt eine doppelte Strategie: Wir werden versuchen, über 5 Prozent zu kommen, denn in Umfragen sagen 14 Prozent der Menschen, dass sie sich vorstellen könnten, für uns zu stimmen. Wir müssen herausfinden, wer diese Menschen sind und warum sie nicht uns beziehungsweise gar nicht wählen. Gleichzeitig werden wir versuchen, sechs Abgeordnete direkt zu stellen und mindestens drei Wahlkreise zu gewinnen. Im September gab es das bereits in der Praxis: Bei der Landtagswahl in Sachsen blieben wir insgesamt bei unter 5 Prozent, aber in Leipzig hat Nam Duy Nguyen einen wirklich beeindruckenden Wahlkampf geführt [und wurde direkt gewählt]. Er war vorher nicht sonderlich bekannt, konnte aber sowohl progressive Wählerinnen und Wähler als auch prekär Beschäftigte sowie Menschen, die normalerweise nicht wählen gehen, ansprechen. Das brauchen wir auch in anderen Städten. Nam Duys Eltern kamen aus Vietnam und waren Gastarbeiter in der DDR. Er hatte eine interessante persönliche Geschichte zu erzählen und erreichte Menschen und Communities, die wir normalerweise nicht erreichen.
Bei der Bundestagswahl setzen wir also auch auf direkt gewählte Abgeordnete aus Berlin und aus mehreren weiteren Wahlkreisen im Osten. Damit würden wir unterstreichen, dass wir den Osten nicht aufgeben. Gleichzeitig versuchen wir, in Gebieten mit relativ hohem Linke-Wählerpotenzial Boden gut zu machen, beispielsweise in Hamburg oder Nordrhein-Westfalen, wo wir einerseits mehr Stimmen von Arbeitern und prekär Beschäftigten erhalten könnten, und gleichzeitig Progressive ansprechen, die die Nase voll von SPD und Grünen haben. Genau das hat Nam Duy getan und das sollten wir auch an den meisten anderen Orten tun, in denen wir antreten.
Wenn Die Linke den Einzug in den Bundestag verpasst: Wie geht es dann mit der Partei weiter?
Im Mai findet in Chemnitz unser Parteitag statt. Auch wenn wir in den Bundestag einziehen sollten, müssen wir diesen Parteitag auf jeden Fall nutzen, um zu überlegen: Wie bauen wir die Partei jetzt mit den vorhandenen Ressourcen neu auf? Wenn wir nicht ins Parlament kommen, müssen wir das mit weniger Ressourcen und weniger finanziellen Mitteln tun – aber es wird dann noch offensichtlicher sein, dass wir die Dinge drastisch ändern müssen. In Deutschland gibt es nach wie vor Bedarf an einer sozialistischen Partei, die sich an der Arbeiterklasse orientiert. Deshalb wollte ich Co-Vorsitzende von Die Linke werden: Es gibt ansonsten keine Partei, die sich an der Arbeiterklasse orientiert.
Für uns als neue Führungsspitze wäre es natürlich am besten, wenn wir mit einem gewissen Wahlerfolg zum Parteitag reisen könnten, um zu zeigen: Es ist möglich. Damit würden wir dem Narrativ des Niedergangs etwas entgegensetzen, aber selbst dann wäre keine Zeit für Schulterklopfen: Wir hätten immer noch viel Arbeit vor uns, nur eben mit mehr Ressourcen. Übrigens haben wir in letzter Zeit auch wichtige Erfolge erzielt. Es ist schade, dass so wenige davon wissen. Beispiel: Eva-Maria Kröger, die Ende 2022 zur Rostocker Oberbürgermeisterin gewählt wurde. Wir müssen sowohl aus unseren eigenen Erfolgen lernen und auch von anderen Parteien. Natürlich funktioniert das, was in Rostock funktioniert, vielleicht nicht auf die gleiche Weise in Berlin-Mitte. Dennoch gilt: Unsere Wahlkämpfe müssen stets diese unterschiedlichen Teile der Arbeiterklasse einbeziehen.
Ines Schwerdtner ist seit Oktober 2024 Bundesvorsitzende der Linkspartei. Von 2020 bis 2023 war sie Editor-in-Chief von JACOBIN und Host des Podcasts »Hyperpolitik«. Zusammen mit Lukas Scholle gab sie 2023 im Brumaire Verlag den Sammelband »Genug! Warum wir einen politischen Kurswechsel brauchen« heraus.