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12. Mai 2025

Die Linke sucht sich selbst

Die Linke hat auf ihrem Parteitag gezeigt, dass sie sich als Klassenpartei versteht. In Teilen des Apparats ruft das immer noch Unbehagen hervor.

Heidi Reichinnek, Sören Pellmann und die Parteivorsitzenden Ines Schwerdtner und Jan van Aken auf dem Parteitag in Chemnitz, 9. Mai 2025.

Heidi Reichinnek, Sören Pellmann und die Parteivorsitzenden Ines Schwerdtner und Jan van Aken auf dem Parteitag in Chemnitz, 9. Mai 2025.

IMAGO / photothek

»Die Linke muss eine organisierende Klassenpartei werden«, heißt es im Leitantrag, den die Linke am Wochenende auf ihrem Parteitag in Chemnitz beschlossen hat. Das ist keine Selbstverständlichkeit für eine Partei, die lange von einem bewegungsorientierten Lager, das einen Fokus auf ökonomische Kämpfe immer abgelehnt hat, und einem Reformflügel, der den Klassenbegriff als Relikt einer vergangenen Ära abtat, geprägt war. In Zukunft möchte die Linke ihre Mitglieder zu organisierter Gewerkschaftsarbeit in ihren Betrieben befähigen und die Verankerung in den Stadtteilen ausbauen. Man will sich außerdem auf konkrete, erreichbare Ziele fokussieren. Auch politische Bildung soll einen höheren Stellenwert bekommen.

Der Leitantrag weist eine bemerkenswert klare politische Linie auf. Die Neuausrichtung scheint Bestand zu haben – auch jetzt, wo das Damoklesschwert des Bundestagsausschieds nicht mehr über der Partei hängt. Auch der Jugendverband tritt zunehmend professioneller auf und versteht sich als Teil eines gemeinsamen politischen Projekts. Mit einem Antrag, der den Parteivorstand beauftragt, ein Modell für eine verbindliche »Arbeiter:innenquote« bei Kandidaturen zu Wahlen und politischen Ämtern vorzulegen, hilft er der Linken, einen Schritt in Richtung Klassenpartei zu gehen. Nach einem Jahrzehnt von Selbstblockade nach innen und Selbstdemontage nach außen scheint die einzige sozialistische Partei im Bundestag sich endlich für einen Weg entschieden zu haben.

Konflikte vertagen

Aber auch wenn die Linke eine neue Ausrichtung rund um ein klassenpolitisches Projekt gefunden hat, standen einige kontroverse Fragen zur Debatte. Besonders hinsichtlich der Bundesratsabstimmung zu Merz’ Aufrüstungspaket, dem die Landesregierungen mit linker Beteiligung entgegen der Beschlüsse des Parteivorstands zugestimmt hatten, und der Positionierung zu Israels eskalierendem Genozid in Gaza gab es Klärungsbedarf. Auch zu diesen Themen wurden mehrere Beschlüsse mit großer Mehrheit gefasst. Die Parteibasis ist weniger gespalten als zuvor. Konflikte treten vor allem da auf, wo die mehrheitliche Position gegen einzelne Akteure in Machtpositionen durchgesetzt werden muss.

Als unter tosendem Applaus ein Antrag eingebracht wurde, der die linken Regierungsmitglieder in Bremen und Mecklenburg-Vorpommern zum Rücktritt aufforderte, redete die Parteivorsitzende Ines Schwerdtner dagegen. Sie teile zwar den Unmut und sei auch der Auffassung, dass das Abstimmungsverhalten im Bundesrat der Partei nachhaltig geschadet habe. Aber man habe im Leitantrag ein verbindliches Verfahren beschlossen, um solche Verstöße gegen das Programm in Zukunft zu verhindern. Daran solle man festhalten, anstatt ein Exempel zu statuieren. Der Antrag scheiterte daraufhin knapp.

»Die Kritik der bürgerlichen Presse und der zentristischen Parteien, sollte man nicht scheuen, sondern willkommen heißen.«

Der Text des Leitantrags gibt wenig Aufschluss darüber, wie dieses Verfahren konkret aussehen soll. Man möchte bis Herbst lediglich »Vorschläge für verbindliche, gemeinsame Entscheidungsprozesse zwischen unseren Akteur*innen entwickeln«. Davon, dass sich Gewählte den demokratisch gefassten Beschlüssen der Partei unterzuordnen hätten, ist nicht die Rede. Stattdessen scheint man Parteivorstand und Fraktionen als gleichberechtigte Partner in einer gemeinsamen Entscheidungsfindung zu verstehen. Es ist zweifelhaft, wie Abgeordnete und Landesregierungen in Zukunft von undemokratischen Alleingängen abgehalten werden sollen, wenn sie keine Konsequenzen befürchten müssen. Dass der Parteitag sich hier dagegen entschieden hat, könnte sich noch als folgenschwerer Fehler erweisen. Letztendlich kann nur die Mitgliedschaft ihre gewählten Vertreterinnen und Vertreter disziplinieren.

Auch in Sachen Diätenbegrenzung für Mandatsträgerinnen und -träger werden Konflikte auf die lange Bank geschoben. Im Leitantrag heißt es lediglich: »Wir wollen, dass alle Abgeordneten der Linken ihr Gehalt begrenzen – dazu wird der Parteivorstand einen Vorschlag erarbeiten«. Der Parteitag hat keine konkrete, verbindliche Obergrenze für Abgeordnetengehälter beschlossen. Eine Mehrheit der Delegierten hätte das vermutlich unterstützt. Doch auch sozialistische Abgeordnete sind in erster Linie von ihren materiellen Interessen geleitet und die Bereitschaft zur Gehaltsbegrenzung innerhalb der Fraktionen ist daher klein. Es ist zwar denkbar, dass ein solcher Beschluss zu einem späteren Zeitpunkt noch gefasst wird, aber die beste Gelegenheit, um das zu tun, wurde jetzt vertan. Denn die Bundestagsfraktion der Linken wird vermutlich nie wieder einen so großen Anteil neuer Abgeordneter haben. Und wenn die sich erst einmal auf den gehobenen Mittelschichts-Lebensstil deutscher Politikerinnen und Politiker eingestellt haben, ist schwer vorstellbar, dass sie sich diesen wieder nehmen lassen.

Niemals alleine, immer gemeinsam?

Kurz vor Ende des Parteitags wurde noch ein Antrag auf den Plan geholt, der sich für die Jerusalemer Erklärung als Antisemitismusdefinition ausspricht. Dieser Antrag war schon lange im Gespräch, wurde bisher aber nie bearbeitet. Sowohl der Bundesgeschäftsführer Janis Ehling als auch der Parteivorsitzende Jan van Aken erklärten ihr Unverständnis dafür. Beim letzten Parteitag in Halle habe man lange über den Themenkomplex diskutiert und beschlossen, was es dazu zu beschließen gäbe. Die Delegierten folgten diesen Gegenreden nicht und stimmten für den Antrag.

Wie notwendig es ist, dass die Linke sich auf eine klare Antisemitismusdefinition einigt, hatte der Vorstand erst am Abend vor dem Parteitag bewiesen. Für einen Social-Media-Post mit der Aufschrift »All United For Free Palestine«, auf dem eine Karte von Israel-Palästina mit Händen in den Farben der palästinensischen Flagge zu sehen war, wurde Ulrike Eifler – selbst Mitglied im Gremium – vorgeworfen, die Auslöschung Israels zu propagieren.

Diese Interpretation ist absurd – nicht die Existenz Israels ist zur Zeit akut bedroht, sondern die Gazas. Und so traf der Beschluss auf breiten Widerspruch und führte zu einer Solidaritätserklärung mit Eifler. Auffällig ist jedoch auch, dass in dieser Frage mit zweierlei Maß gemessen wird. Auf dem Parteitag in Halle konnten von der Bühne aus historische Verbrechen, wie die Vertreibung palästinensischer Menschen 1947/48, geleugnet werden, ohne dass sich die Partei von diesen Äußerungen distanzierte. Es geht hier scheinbar weniger um Prinzipien als darum, sich vor negativer Medienaufmerksamkeit und Angriffen der bürgerlichen Politik zu schützen.

Diese Strategie geht nicht auf. Die Presse hat über die Beschlüsse zum Israel-Palästina-Konflikt dennoch negativ berichtet. Mit der Entsolidarisierung von Eifler begegnet die Linke diesen Angriffen nun lediglich weniger geschlossen. Es scheint, als hätte man die falschen Lehren aus dem Fall Jeremy Corbyn gezogen. Nicht der mediale Ansturm wegen Corbyns klarer pro-palästinensischer Haltung hat das Projekt einer sozialistischen Neuausrichtung der Labour Party scheitern lassen, sondern die unerlässlichen Angriffe und Sabotageakte des eigenen Parteiapparats.

Die Linke wäre gut beraten, in ihrer neu gewählten Rolle als Partei ihrer Klasse aufzugehen und sich mit den Konsequenzen dieser Entscheidung zu arrangieren. Konflikte über die strategische Ausrichtung und die Demokratie innerhalb der Partei darf man nicht aussitzen. Die Kritik der bürgerlichen Presse und der zentristischen Parteien sollte man nicht scheuen, sondern willkommen heißen und sich die Kraft der Vielen zunutze machen. Wenn die Partei den Weg, den sie am Wochenende beschlossen hat, wirklich beschreiten will, wird sie mit viel mehr Gegenwind rechnen müssen, als es bisher der Fall war. Um dagegen zu halten, wird sie sowohl Geschlossenheit als auch Solidarität brauchen. Die Losung muss lauten: »Niemals alleine, immer gemeinsam!«

Jonas Thiel ist Mitglied der Linken und Contributing Editor bei JACOBIN.