23. August 2023
Beschäftigte von Amazon protestieren in Berlin gegen Überwachung am Arbeitsplatz und für einen Tarifvertrag. Ihre Aktion fügt sich ein in den globalen Kampf gegen den Milliardenkonzern.
»Ohne uns – kein Geschäft«, rufen Amazon-Beschäftigte vor dem neuen Berliner Büroturm des Unternehmens.
Wer an einem Dienstagmittag am S-Bahnhof Warschauer Straße aussteigt, wird eingehüllt in einen Schwall von Großstadt: Autos rauschen an einem vorbei, Passantinnen hetzen zur Bahn, ein Straßenmusiker spielt auf seiner verstärkten Gitarre, irgendwo schreit jemand, Baulärm. An diesem Dienstagmittag mischen sich in die Geräuschkulisse des Berliner Alltags Sprechchöre. Von der gegenüberliegenden Seite der Brücke nähert sich ein kleiner aber lauter Demozug, ausgerüstet mit Fahnen, Transpis und einer kleinen Lautsprecheranlage. »Pay, pay, pay – make Amazon pay« ist schon von weitem zu hören.
Die Gruppe formiert sich unter stetigen Rufen am Eingang zu einer Mall, deren Besucherinnen sich mal mehr, mal weniger zielstrebig an ihnen vorbeischlängeln. Das Einkaufszentrum wird geradezu überschattet von dem Rohbau eines gigantischen dunkelgrauen Klotzes, der über der Kundgebung aufragt. Hier will sich der Großkonzern Amazon mitten in Berlin einrichten. Deshalb sind die Protestierenden gekommen: Die meisten von ihnen sind Beschäftigte von Amazon. Allerdings gehören sie nicht zu den Tech-Workern, die bald ihre Büros in diesem Turm beziehen sollen. Die meisten von ihnen arbeiten in den großen Logistikzentren von Amazon, fernab des Stadtzentrums in Schönefeld, Tegel oder dem niedersächsischen Winsen bei Hamburg. Vor den Turm sind sie heute gekommen, um ihrer Wut über das Großprojekt und die Arbeitsbedingungen bei Amazon Luft zu machen.
400 Millionen hat es gekostet, den Edge East Side Tower zu bauen. Öffentlich zugänglich wird lediglich eine halbe Etage sein sowie die Dachterrasse mit entsprechend hochpreisigem Restaurant. Nicht nur deshalb ist das Bauprojekt auch in Berlin umstritten. Mitaufgerufen zu der kleinen Kundgebung hat das Bündnis Berlin vs. Amazon, das sich schon seit Jahren gegen den Bau einsetzt und vor Verdrängung im Stadtviertel warnt. Gutbezahlte Amazon-Angestellte, die in den Bereichen Entwicklung und Forschung tätig sind, zuständig für Logistik, die Website und Services wie Alexa, sollen bald den Turm bevölkern. Das Bündnis fürchtet, diese könnten Alteingesessene aus dem Kiez verdrängen, die Mieten noch schneller steigen lassen und allgemein die ohnehin schon vorangeschrittene Gentrifizierung vorantreiben.
Auf der Kundgebung herrscht kämpferische Stimmung und gute Laune. Die Beschäftigten mit ihren Verdi-Fahnen werden nicht müde, immer wieder Sprechchöre anzustimmen: »Ohne uns«, ruft einer ins Mikrofon, »kein Geschäft« und »keine Pakete« antworten die anderen. Vereinzelt ist auch ein scherzhaftes »kein Chef« zu hören. Der Stimmungsmacher am Mikrofon ist Hedi Tounsi. Der Amazon-Angestellte und Betriebsrat aus dem Werk Winsen bei Hamburg ist Anfang dreißig, trägt eine Sonnenbrille, einen gepflegten, dunklen Bart und ein Michael-Jordan-Trikot. Stolz erzählt er, wie er in Tunesien als Polizist und Hundetrainer nach der Revolution die erste Polizeigewerkschaft mitgründete: »Danach war alles anders.« Als er 2016 nach Deutschland kam und bei Amazon anfing, dachte er: Im demokratischen Deutschland gibt’s doch sicher überall Betriebsräte. Aber das war dann doch nicht so. Deswegen ist er jetzt bei Verdi und selbst Betriebsrat.
So wie Tounsi sind viele, die bei Amazon arbeiten, erst in den letzten Jahren als Geflüchtete nach Deutschland gekommen. Auf der Kundgebung werden Reden nicht nur auf Deutsch, sondern auch in zahlreichen anderen Muttersprachen der Teilnehmenden – von Somali bis Englisch – gehalten. Die meisten von ihnen kommen ursprünglich aus Tunesien, Syrien, Afghanistan oder Somalia. Sie erzählen, es sei leicht, bei Amazon einzusteigen, wenn man erst seit kurzem in Deutschland ist. Man kann seine Bewerbung in Englisch einreichen und muss keine anerkannte Ausbildung vorweisen, auch wenn viele von ihnen, wie Tounsi, in ihren Heimatländern eine Ausbildung oder ein Studium absolviert haben. Daher gelten viele als ungelernt und sind dementsprechend billige Arbeitskräfte. Für Amazon hat es aber noch mehr Vorteile, Geflüchtete und Menschen mit prekärem Aufenthaltsstatus anzustellen.
Für viele Beschäftigte hängt der Aufenthaltsstatus an dem Job. »Amazon nutzt das repressive Asyl- und Aufenthaltsrecht, um Menschen stark von dem Job abhängig zu machen«, sagt auch Nonni Morisse, Gewerkschaftssekretär für Niedersachsen und Bremen. »Sie nutzen einen unsicheren Aufenthaltsstatus, damit die Leute möglichst angepasst arbeiten, weil im Hintergrund die Gefahr einer Abschiebung steht.« Wer nur wenig oder gar kein Deutsch spricht, kann sich außerdem weniger gut über seine Rechte informieren, und auch Organisierung wird durch Sprachbarrieren unter den Beschäftigten erschwert. Die rassistische Arbeitsteilung, die Amazon hier forciert, ist also ein guter Deal für das Unternehmen.
»Gehst du weg, kommt ein Manager und fragt dich: ›Wo warst du?‹ Ich sage: ›Ich war auf Toilette.‹ Der Manager fragt zurück: ›Warum?‹ Was ist das denn für eine Frage?«
In seiner wütenden Rede vor dem Tower kommt Hedi Tounsi immer wieder auf die Arbeitsbedingungen und die Überwachung durch die Manager im Warenlager zu sprechen: »Wir sind keine Maschinen, keine Roboter. Das versteht Amazon nicht.« Er erzählt, dass akribisch überwacht wird, wie viele Minuten die Beschäftigten an ihrem Arbeitsplatz verbringen: »Gehst du weg, kommt ein Manager und fragt dich: ›Wo warst du?‹ Ich sage: ›Ich war auf Toilette.‹ Der Manager fragt zurück: ›Warum?‹ Was ist das denn für eine Frage? Vielleicht habe ich zu scharf gegessen?«. Seine Kollegen lachen. Einige schütteln aber auch den Kopf. Die Wut steht ihnen ins Gesicht geschrieben.
Die ständige Überwachung, von der die Beschäftigten auf der Kundgebung berichten, hat es sogar schon vor Gericht geschafft: Die Datenschutzbeauftragte des Landes Niedersachsen versuchte 2020, Amazon zu untersagen, seine Beschäftigten per Scanner zu überwachen. Die Beschäftigten müssen dabei jeden ihrer Arbeitsschritte mit einem Handscanner dokumentieren, dessen Aktivitäten wiederum von einem Vorarbeiter überwacht werden. Durch dieses minutengenaue und permanente Tracking wird dann die Abfertigungsrate einer Mitarbeiterin berechnet, die bei befristeten Verhältnissen für eine Vertragsverlängerung ausschlaggebend sein kann. Im Februar entschied das Verwaltungsgericht Hannover, diese Praxis sei nicht rechtswidrig. Amazon kann also weiterhin auf digitalisierte Überwachung und Gängelei durch das Management setzen, um seine Beschäftigten zu disziplinieren und zu höheren Leistungen anzuhetzen.
Wie wenig sich Amazon für das Wohlergehen seiner Beschäftigten interessiert, zeigt sich auch daran, dass der Konzern 2020 die Formulierung »Wir betrachten die Beziehung zu unseren Mitarbeitern als gut« aus seinem Geschäftsbericht gestrichen und das zuvor mit »Mitarbeiter« überschriebene Kapitel in »Humankapital« umbenannt hat.
Nach der Kundgebung versammeln sich die Beschäftigten noch in einem Seminarraum des Verlagsgebäudes des ND, nur zehn Minuten Fußmarsch vom Amazon Tower entfernt. In einem großen Stuhlkreis wird die Aktion nachbesprochen. Die Versammlung nimmt zur Kenntnis, dass es mehr Leute hätten sein können. Dennoch sind die meisten zufrieden. Einer sagt, er habe sich »gemeinsam stark und weniger allein gefühlt«. Ein anderer erzählt, wie sehr er sich gefreut habe, als sich ein Kehrmaschinenfahrer hupend solidarisch zeigte.
Vom subjektiven Standpunkt der Beteiligten war die kleine Kundgebung also ein Erfolg. Was aber ist der reale Stand der Arbeitskämpfe von Verdi bei Amazon? Schon seit 2013 fordert Verdi die Anerkennung der Flächentarifverträge des Einzel- und Versandhandels sowie den Abschluss eines Tarifvertrages für gute und gesunde Arbeit. Noch werden die Beschäftigten als Angehörige der Logistikbranche bezahlt, wodurch ihr Lohn geringer ausfällt. Zuletzt hatte Verdi am sogenannten Prime Day zum Streik aufgerufen, an dem der Konzern jährlich durch Sonderangebote hohe Gewinne einfährt.
Amazon hat sich darauf bisher nicht eingelassen, auch haben noch keine Verhandlungen stattgefunden. Damit zieht sich der Tarifkonflikt ungewöhnlich lange hin. Während selbsternannte Handelsexpertinnen und BWL-Professoren Verdi schon raten, klein beizugeben, betont die Gewerkschaft die Erfolge der letzten Jahre, auch wenn diese noch nicht tariflich abgesichert seien und somit jederzeit von Amazon zurückgenommen werden könnten. Gewerkschaftssekretär Morisse berichtet: »Arbeits- und Schichtzeiten können mittlerweile nicht mehr flexibel nach Algorithmus alle zwei oder drei Wochen angepasst werden, wie Amazon es sonst gerne tun würde. Sondern sie werden durch die Betriebsräte den Bedürfnissen der Beschäftigten angepasst.« Aber auch Kleinigkeiten zählen. So sind in den Lagern mittlerweile wieder Handys erlaubt, es wird Wasser und Kaffee bereitgestellt. Auch Kantinen, regelmäßige Pausen und Lohnerhöhungen gibt es jetzt, was davor ebenfalls nicht der Fall war, so Rainer Reising, ehemaliger Betriebsrat am Standort Achim.
»Der Amazon-Konzern ist sehr militärisch strukturiert. Jede Forderung nach Mitbestimmung stellt dieses gesamte System bei Amazon infrage.«
Ein großer Erfolg sei auch, so Morisse, dass sich die Beschäftigten überhaupt eine stärkere Gewerkschaftspräsenz erkämpft haben. Am Standort Winsen gab es vor ein paar Jahren nur ein Handvoll Mitglieder, die vom Management genau beobachtet wurden: Führungskräfte bekamen Anweisungen, Verfehlungen der einzelnen Personen zusammenzutragen, um daraus später Kündigungen zu konstruieren. »Mittlerweile haben wir an diesem Standort in einem Zeitraum von anderthalb Jahren 500 Mitglieder gewonnen. Heute ist es in Winsen also kein Problem mehr, zu sagen, dass man Verdi-Mitglied ist, sondern man hat dann viele Verbündete«, erzählt Morisse.
Aber Morisse sieht auch ein strukturelles Problem bei der Mitbestimmung der Beschäftigten von Amazon: »Der Amazon-Konzern ist aus unserer Sicht von oben bis unten sehr militärisch strukturiert, das heißt komplett zentralistisch und hierarchisch. Jede Forderung nach Mitbestimmung stellt dieses gesamte System bei Amazon infrage.« Die Forderung der Mitbestimmung sei dabei nicht nur eine innerbetriebliche. Verdi wolle dem Top-down-Modell von Amazon die Vision einer demokratischen und solidarischen Gesellschaft entgegenstellen, in der diejenigen, die den Reichtum erwirtschaften, auch über ihn mitbestimmen dürfen: »Die Milliarden, die täglich erwirtschaftet werden, gehören eben nicht Jeff Bezos, sondern sie gehören den Arbeiterinnen und Arbeitern und der Allgemeinheit.«
Wie vehement sich Amazon gegen solche Vorstellungen und gegen die Organisierung der Beschäftigten wehrt, davon kann auch Rainer Reising ein Lied singen. Der ehemalige Betriebsrat aus Achim sticht mit seiner hochgewachsenen Statur und der knallroten Verdi-Kappe aus der Kundgebung hervor. Er erzählt, nachdem er den Betriebsrat am Standort Achim in Niedersachsen mitbegründete, habe er eine außerordentliche fristlose Kündigung erhalten. Ohne Begründung. Reising vermutet, dass er als Betriebsrat aus dem Weg geräumt werden sollte. Für ihn längst kein Grund, aufzugeben: Im September wird vor dem Kammergericht über seinen Fall verhandelt und er rechnet mit einem Erfolg.
Auch wenn er gerade um seinen Job ringen muss: Reising gibt sich kämpferisch und ruft dazu auf, sich global zu vernetzen, wie zum Beispiel über die Kampagne Make Amazon Pay oder die Amazon Workers International. Um sich vor Forderungen nach mehr Mitbestimmung rauszureden, würde Amazon immer wieder behaupten, nur ein Netzwerk verschiedener Unternehmen und global agierender Tochtergesellschaften zu sein. Reising meint, das könne kein Grund gegen Organisierung sein, im Gegenteil: Dann müsse es eben auch globale Netzwerke von Beschäftigten und globale Arbeitskämpfe geben. »Nur so können wir sie besiegen und dafür sorgen, dass es vernünftige und gesunde Arbeitsbedingungen gibt, egal ob bei der Technik, bei den Containern, auf den Schiffen, in der Luftfahrt oder der IT«, sagt Reising. Letztendlich habe jeder auf der Welt irgendwas mit Amazon zu tun – sei es über die Datenspeicherungen, die Technik, mit der Amazon das alltägliche Leben beeinflusst, oder über den Einzelhandel, der an dem Onlinegeschäft kaputtgeht.
Trotz Inflation und Krise steigen bei Amazon die Profite. Der Grund laut Unternehmensleitung: effizientere Abläufe, sprich effizientere Ausbeutung. Rassistische Arbeitsteilung, permanente Überwachung, Gängeleien, die Weigerung, Tarifverträge abzuschließen, und Union Busting machen die Gewinne möglich, die der multinationale Konzern einfährt. Ihren Protest dagegen haben die Beschäftigten mit ihrer Aktion bis nach Berlin, an den neuen Amazon Tower getragen.
Bertolt Brecht schrieb 1936 in seinem Gedicht Fragen eines lesenden Arbeiters: »Wer baute das siebentorige Theben? In den Büchern stehen die Namen von Königen.« Die Ausbeutung und die Arbeit bleiben in den Geschichtsbüchern oft unerwähnt. Hinter Großprojekten wie dem Tower oder den Weltraumabenteuern des Amazon-Chefs Jeff Bezos steht ebenfalls die Ausbeutung von Arbeiterinnen und Arbeitern. Frei nach Brecht: Wer baute den großen Turm von Berlin? Und wem gehören die Amazon-Milliarden?
Raul Rosenfelder hat in Frankfurt am Main Politikwissenschaften und Geschichte studiert und ist Praktikant beim JACOBIN.