11. Mai 2022
Jetzt wäre der perfekte Moment für einen umfassenden Umbau des Verkehrssystems. Doch FDP-Verkehrsminister Wissing verteilt lieber Geschenke an die Autoindustrie.
Die FDP gibt sich gerne innovationsbegeistert, doch die Verkehrspolitik von Volker Wissing ist alles andere als auf der Höhe der Zeit.
Für die Verkehrswende gibt es eigentlich keinen besseren Zeitpunkt als jetzt: Der stetig zunehmende Automobil- und Flugverkehr befeuert die Klimakrise seit Jahrzehnten, doch seit Ausbruch des Kriegs in der Ukraine ist die Fragilität eines Weltwirtschaftssystems, das auf Just-in-Time-Produktion und fossilen Energieträgern beruht, auch im globalen Norden zu spüren. Ein Fünftel der globalen Klimaemissionen wird durch den Verkehrssektor verursacht, auch in Deutschland liegt der Anteil der Emissionen des Verkehrssektors bei etwa 20 Prozent. Besonders brenzlig ist, dass dabei im Vergleich zu anderen Bereichen der Wirtschaft kein positiver Trend zu erkennen ist. Vor allem durch den immer weiter wachsenden LKW-Verkehr steigen die durch Transport verursachten CO2-Emissionen weiter an.
Deutschland droht, die Klimaziele im Verkehrsbereich auch mittelfristig deutlich zu unterschreiten. Doch nicht nur der Klimaschutz legt ein Umdenken nahe: Auch die Bundesregierung möchte dringend vom Import fossiler Energieträger aus Russland loskommen. Vor Beginn des Kriegs in der Ukraine machte russisches Erdöl 35 Prozent der deutschen Importe aus, wobei der Anteil bis Anfang Mai bereits auf 12 Prozent gesunken ist. Lediglich die Versorgung der Raffinerie PCK im brandenburgischen Schwedt an der Oder, die dem russischen Staatskonzern Rosneft gehört und ausschließlich russisches Öl verarbeitet, stellt noch eine große Herausforderung dar. Bundeswirtschaftsminister Habeck will sie in Zukunft per Schiff versorgen.
Der Weltmarktpreis für Erdöl liegt seit etwas drei Monaten bei etwa 100 Dollar, was sich wiederum auch in den enorm gestiegenen Verbraucherpreisen widerspiegelt: Die landwirtschaftliche und industrielle Produktion hängt an so vielen Stellen immer noch von fossilen Grundstoffen und Energieträgern ab, dass sich ein steigender Ölpreis hier schnell bemerkbar macht. Hinzu kommt die Preisspekulation auf den Getreidemärkten, die durch die mit dem Krieg verbundene Versorgungsunsicherheit ausgelöst wurde.
Nicht nur hierzulande haben die Lebensmittelpreise deutlich angezogen: Für viele arabische und afrikanische Länder, die auf den Import von russischem oder ukrainischem Weizen existentiell angewiesen sind, könnten die stark gestiegenen Preise den Beginn einer Ernährungskrise bedeuten. Eine Periode dauerhaft hoher Öl- und Getreidepreise war 2011 Mitauslöser des arabischen Frühlings. Der neoliberale Kapitalismus hat weltweit eine extrem fragile Wirtschaftsstruktur geschaffen, die unvorhergesehene Ausfälle kaum auffangen kann und globale Schocks praktisch unmittelbar an die lokale Bevölkerung weitergibt.
Aufgrund der hohen Abhängigkeit von Erdöl als Energieträger wäre eine rasche Verkehrswende also dringend geboten, sowohl unter klima- wie auch geopolitischen Gesichtspunkten. Diese Notwendigkeit wird auch innerhalb der Bevölkerung immer mehr anerkannt. Ein breites Bündnis von Klimaaktivisten und kritischen Mobilitätsforscherinnen bis hin zu Lokalpolitikerinnen, Gewerkschaften und Verkehrsbetrieben steht bereit, sie zum Erfolg zu führen. Alle Zeichen stehen also auf Wandel, doch es gibt ein Problem: Ein Bundesverkehrsminister, der wie aus der Zeit gefallen scheint.
Wissings neuestes Maßnahmenpaket zum Klimaschutz im Verkehrssektor – der vermutlich überhaupt nur angegangen wird, weil das Bundesverfassungsgericht die Bundesregierung dazu verpflichtet hat – lässt jegliche Vision einer gesamtgesellschaftlichen Transformation der Mobilität vermissen.
Die massiven Subventionen für Elektroautos in den Preisklassen von 40.000 und 60.000 Euro kommen einer dreisten Umverteilung von unten nach oben gleich. Sie sind weder im Koalitionsvertrag vorgesehen noch zur Förderungen dieser Technologie notwendig. Denn das Bonus-Malus-System der EU, das auf dem CO2-Ausstoß von Neufahrzeugen beruht, aber aufkommensneutral ausgestaltet ist, setzt für Fahrzeughersteller bereits einen ökonomischen Anreiz, um bis 2035 vollständig auf lokal emissionsfreie Technologie umzusteigen. Ein sofortiger Markthochlauf von Elektroautos, inklusive Rabatten, ist eigentlich bereits alternativlos.
Das Subventionspaket ist daher vor allem ein sehr großzügiges Geschenk an die Autoindustrie. Einmal mehr zeigt sich hier, dass der Partei des Ministers Klientelpolitik letztlich wichtiger ist, als ihre eigene Ideologie – denn bislang zeigte sich die FDP in Bezug auf batterieelektrische Fahrzeuge immer skeptisch. Doch die Wunschlisten der Industrie, welche vor der Aufgabe steht, eine umfangreiche technologische Transformation zu finanzieren und dabei global konkurrenzfähig zu bleiben, haben den nostalgischen Hang zum Verbrennungsmotor offenbar übertrumpft.
Es wäre übertrieben, zu behaupten, dass Batteriefahrzeuge keine Rolle im Verkehrssystem der Zukunft spielen können: Die linke Fundamentalopposition gegen diese Technik ist in ihrer Verbissenheit manchmal nur schwer zu begründen. Wichtig ist vor allem, wie Elektroautos zukünftig eingesetzt werden sollten: Nicht als teure Prestigeobjekte in Privatbesitz, sondern als Nutzfahrzeuge, Taxis, Mietwagen sowie für die letzte Meile auf dem Land. Wissings Pläne zielen hingegen darauf ab, das gegenwärtige automobile Modell des Verkehrssystems – samt seiner Ressourcenverschwendung und atomisierenden Wirkung auf die Gesellschaft – aufrechtzuerhalten.
Gleichzeitig spart Wissing an der Hauptstütze eines zukünftigen nachhaltigen Verkehrssystems: der Bahn. Aufgrund von massiven Kürzungen bei den Haushaltsmitteln für den Ausbau der Infrastruktur droht ein »dramatisch wachsender Investitionsstau«. Auch das Vorhaben Deutschland-Takt, das vorsieht, dass auf allen wichtigen Bahnstrecken in Zukunft Züge im Halbstundentakt verkehren sollen, ist dadurch gefährdet.
Einziger Lichtblick: Das 9-Euro-Ticket soll nun wohl doch verwirklicht werden. Es bietet, wenn auch in bescheidenem Ausmaß, einen Vorgeschmack darauf, wie die Gesellschaft nach einer sozial-gerechten Klimawende gestaltet werden könnte. Wohl auch deshalb versuchte Wissing, es zu torpedieren. Denn die Idee, dass die Dekarbonisierung durch eine großzügige und attraktive öffentliche Infrastruktur schnell und sozial gerecht umgesetzt werden könnte – der Grundgedanke des Green New Deal –, provoziert nicht nur die Liberalen, sondern alle, die am vom Status quo profitieren.
Alexander Brentler ist Journalist und Übersetzer.