16. Dezember 2021
Die belgische Partei der Arbeit ist die am schnellsten wachsende linke Kraft in Europa. Wie man eine Partei aufbaut, die massenwirksam und marxistisch ist, erzählt der neu gewählte Vorsitzende Raoul Hedebouw im JACOBIN-Interview.
Raoul Hedebouw auf dem letzten Parteitag der PTB, 5. Dezember 2021.
1869 nannte Karl Marx Belgien ›das gemütliche, wohlbehütete, kleine Paradies des Grundbesitzers, des Kapitalisten und des Priesters‹. Im Jahr 2021 wird Belgien zur größten Hoffnung in der EU für jene Ideologie, die nach ihm benannt wurde.« So schrieb es der Economist letzten Monat, als er die belgische Partei der Arbeit (PTB) als eine der dynamischsten Akteure der europäischen Linken skizzierte. Die PTB – eine kleine marxistisch-leninistische Partei, die in ihren ersten vierzig Jahren nur einige Hunderte Mitglieder zählte – wuchs in den letzten zehn Jahren rasant und entwickelte sich landesweit zu einer ernstzunehmenden politischen Kraft. Heute ist sie die drittstärkste Partei des Landes (und wird bei der nächsten Wahl voraussichtlich 18 Sitze gewinnen). Mittlerweile ist sie auf 24.000 Mitglieder angewachsen.
Diese Entwicklung ist zum Großteil auf die Ereignisse von 2008 zurückzuführen – dem Jahr der Finanzkrise, aber auch einer Zeit, in der sich die PTB neu orientierte. Peter Mertens wurde in diesem Jahr auf dem Erneuerungskongress zum Parteivorsitzenden gewählt, man verbannte jegliches Sektierertum und beschloss, die Aktivitäten der Partei stärker auf die Bedürfnisse der belgischen Arbeiterklasse auszurichten. Diese Neuausrichtung zeigte bald ihre Wirkung: Die PTB wuchs in rasantem Tempo, erste Abgeordneten wurden in die Parlamente gewählt und Initiativen der Partei wie »Medizin für die Menschen«, deren 250 Mitarbeiter in einem Dutzend lokaler Aktionszentren die medizinische Grundversorgung sicherstellen, wurde ausgeweitet.
Raoul Hedebouw war in dieser Zeit ein aufstrebender Star der Partei. Nachdem er 2014 als einer der beiden ersten Abgeordneten gewählt worden war, wurde er schnell für seine scharfe Kritik am Establishment und sein entschlossenes Handeln im Interesse der arbeitenden Menschen bekannt. Nach den Parlamentswahlen 2019 kehrte er an die Spitze einer inzwischen zwölfköpfigen Fraktion ins Parlament zurück. Nachdem Mertens im vergangenen Monat seinen Rücktritt als Parteivorsitzender angekündigt hatte, wählte der Parteitag Hedebouw zu seinem Nachfolger.
JACOBIN sprach mit Hadebouw darüber, wie sich die PTB dem Abwärtstrend anderer linker Parteien widersetzt hat und wie sie versucht, im Alltag der arbeitenden Menschen eine marxistische Perspektive zu verankern.
Die PTB ist in den letzten Jahren sowohl als Organisation als auch bei Wahlen gewachsen. In Deiner Abschlussrede auf dem Parteitag zitierst Du den Economist mit der Aussage, Belgien sei das Land in Europa, in dem die Ideen von Marx die besten Aussichten hätten. Wie erklärst Du Dir das?
Ich denke, die gute Verfassung der marxistischen Linken in Belgien hat eine objektive und eine subjektive Grundlage. Der objektive Faktor ist die Wirtschaftskrise in Europa seit 2008, die das Bewusstsein der Menschen dafür geschärft hat, dass die Finanzwelt – und der Kapitalismus – ein Problem ist. Hinzu kommt die Corona-Krise, deren erstes Opfer die Arbeiterklasse war, sowohl in wirtschaftlicher als auch in gesundheitlicher Hinsicht. Es gibt also eine objektive Grundlage, die den Aufstieg der marxistischen Linken begünstigt.
Aber dann stellt sich auf der subjektiven Ebene natürlich die Frage, wie eine politische Partei die Wut der Menschen in eine bestimmte Richtung lenken kann. Hier hat der Erneuerungskongress der PTB 2008 mit dem Kampf gegen unseren früheren Dogmatismus – bei gleichzeitigem Festhalten an unseren marxistischen Prinzipien – es ermöglicht, eine konkrete Alternative aufzubauen.
Deine Videos über parlamentarische Interventionen haben Dich in ganz Belgien bekannt gemacht. In Deiner Rede auf dem Parteitag hast Du aber auch die Stärke des Parteilebens hervorgehoben: Vierhundert Basisgruppen haben dieses Wochenende vorbereitet. Während viele in der europäischen Linken über das Misstrauen der Bevölkerung gegenüber politischen Parteien klagen und in Erwägung ziehen, auf Parteistrukturen zu verzichten, scheint Ihr einen ganz anderen Ansatz zu verfolgen.
Die Frage nach der Organisation wird in der marxistischen Linken meiner Meinung nach sehr unterschätzt. Sie ist wirklich ein strategischer Dreh- und Angelpunkt des revolutionären Denkens; deshalb gab es darüber immer unzählige Debatten. Form und Inhalt des politischen Diskurses sind wichtig – aber das allein reicht nicht.
Die Frage, wie man Arbeiterinnen und Arbeiter in einer marxistischen Partei organisiert, ist nicht leicht zu beantworten. Wir haben uns in den letzten zehn Jahren von einer Partei mit etwa 800 militanten Aktivistinnen und Aktivisten zu einer Partei mit 24.000 Mitgliedern entwickelt. Diesen neuen Teilen der Partei müssen wir eine Struktur geben und gleichzeitig das unterschiedliche Level an Engagement an der Basis respektieren. Es gibt bei uns beratende Mitglieder, die 20 Euro jährlich zahlen und vielleicht ein- oder zweimal im Jahr zu Parteiaktivitäten, Demonstrationen und Veranstaltungen kommen. Dann haben wir noch einen organisierten Kern von 3.000 Mitgliedern, die jeden Monat an Sitzungen teilnehmen und ein politisches Bewusstsein und somit auch eine kämpferische Organisation aufbauen. Wir haben uns bemüht, die Stärken dieser beiden Organisierungsformen, die in unserer Partei nebeneinander bestehen, zu erhalten.
Ich bin gegen den Bewegungsfetischismus und würde die Behauptung, wir bräuchten keine politischen Parteien mehr, klar zurückweisen. Ja, Bewegungen sind breit und horizontal, aber wer trifft dann die Entscheidungen? Es ist die immer gleiche Debatte über den Anarchismus, nur dass jetzt entweder eine kleine Kerngruppe oder eine parlamentarische Fraktion oder ein paar Wortführer entscheiden.
»Wir haben wirklich demokratische Mechanismen in unserer Organisation, etwa eine Quote für Arbeiterinnen und Arbeiter im bundesweiten Rat unserer Partei.«
Ich glaube dagegen an einen demokratischen Zentralismus mit echter kollektiver Debatte. Bei der Vorbereitung des Parteitags im letzten Jahr haben fast 900 Delegierte in 83 Kommissionen mitgewirkt. Die Kommissionsberichte und zusätzlichen Änderungsanträge umfassten fast 2.000 Seiten. Du kannst Dir sicherlich vorstellen, wie aufwändig es ist, das alles durchzuarbeiten! Doch es war eine sehr ergiebige Debatte. Und wenn wir erst einmal miteinander diskutiert haben, wird das Ganze zentralisiert und wir agieren einheitlich.
Das letzte wichtige Element ist die Beteiligung der Arbeiterklasse am demokratischen Prozess. In allen Organisationen – vor allem wenn sie im Kapitalismus agieren – gibt es mächtige Selektionsmechanismen, die die Arbeiterinnen und Arbeiter davon abhalten, sich wirklich an demokratischen Debatten zu beteiligen. Das sieht man allein daran, wie dominant die schriftliche Form der Debatte ist. Ja, wir Marxistinnen und Marxisten schreiben gerne. Aber in einer internen Debatte ist auch die mündliche Verständigung sehr wichtig und bietet Leuten eine viel einfachere Möglichkeit, sich auszudrücken.
Deshalb haben wir bei den Vorbereitungen zum Parteitag auch viel Wert auf Kommissionen mit mündlichen Beiträgen gelegt, damit die Mitglieder aus der arbeitenden Klasse sich voll beteiligen können. In einem kapitalistischen System haben es die Arbeiterinnen und Arbeiter schwer, sich in den betrieblichen, politischen und gewerkschaftlichen Strukturen durchzusetzen, daher ist dieser Punkt in unseren Augen extrem wichtig.
Was tut Ihr konkret, um die Arbeitenden in den Mittelpunkt zu stellen und zu verhindern, dass die Partei von Berufspolitikern und Funktionärinnen übernommen wird?
Wir haben wirklich demokratische Mechanismen in unserer Organisation, etwa eine Quote für Arbeiterinnen und Arbeiter im bundesweiten Rat unserer Partei. Wir haben außerdem sechs Abgeordnete aus der Arbeiterklasse, weil wir diese Kandidaten an die Spitze unserer Wahllisten setzen.
Neben diesen konkreten Maßnahmen gibt es aber auch unseren allgemeinen politischen Diskurs, der die ganz normalen Arbeitenden in großen privaten und öffentlichen Unternehmen, bei der Bahn, im Gesundheitswesen, im Maschinenbau und im öffentlichen Verkehr als Motor des Klassenkampfes versteht. Das hindert Mitglieder anderer Klassen natürlich nicht daran, an ihrer Seite zu kämpfen. Aber die Frage ist: Wo beginnt der Widerstand, der als Antrieb funktioniert? Aus dieser strategischen Entscheidung heraus ergeben sich Konsequenzen für unsere Organisierung. Wenn es Bewegungen gibt, die die gesamte Gesellschaft als tonangebende Akteurin begreifen, dann ergibt sich daraus zwangsläufig eine Organisationsform, die nicht mehr in der Arbeiterklasse verankert ist.
Sicherlich hat sich die Arbeiterklasse heute ausdifferenziert – aber die Zusammensetzung der Klasse war eigentlich immer im Wandel. Zu Zeiten von Karl Marx war etwa das Handwerk die Avantgarde der Arbeiterklasse, weil es kaum große Betriebe gab. Es gab auch schreckliche staatliche Repressionen, also sollten wir die frühere Organisierung der Arbeiterklasse nicht idealisieren. Es ist vollkommen normal, dass mit der Entwicklung der Produktivkräfte eine neue Arbeiterklasse entsteht – in den Callcentern, bei Uber, Deliveroo und so weiter – mit neuen Formen der Ausbeutung. Aber anstatt uns darüber zu beklagen, dass die Linke in diesen Bereichen kaum vertreten ist, sollten wir uns daran machen, die Partei und die Gewerkschaften genau dort zu verankern.
Während der Pandemie sprachen viele von der Rückkehr des Staates, sogar vom Ende des Neoliberalismus, Linke forderten den Wiederaufbau oder eine Stärkung des Wohlfahrtsstaates. Du sprichst unverblümt vom Sozialismus und davon, dass diejenigen, die »den Laden am Laufen halten«, an der Macht sein sollten. Was genau meinst Du mit Sozialismus? Geht es um mehr als die Stärkung der Sozialdemokratie?
Ich denke, das ist die entscheidende Frage: nämlich ob die Marktwirtschaft – Adam Smiths berühmte unsichtbare Hand des Marktes und das Gesetz von Angebot und Nachfrage – den gesundheitlichen, sozialen und ökologischen Herausforderungen gerecht werden kann. Unsere Antwort darauf lautet »Nein«. Diese »Korrektur« des Kapitalismus wird nicht funktionieren.
Die Frage des Wohlstands ist heute eng mit der Frage der Konkurrenz zwischen den imperialistischen Blöcken und dem Aufstieg Chinas verknüpft. Ein Teil der europäischen Bourgeoisie ist sich darüber im Klaren, dass sie definitiv von China überholt werden wird, wenn sie nicht in die Infrastruktur investiert, und will deshalb etwas unternehmen. Aber die Position dieser aufgeklärten Bourgeoisie ist das Gegenteil von Antikapitalismus.
»Ein Teil des Establishments versucht, die rechtsextreme Karte zu spielen, um die Arbeiterklasse zu spalten und für sich zu vereinnahmen. Das ist ein klassischer Schachzug in Zeiten der Wirtschaftskrise.«
Dies ist insofern eine interessante historische Phase, als sie vielen Menschen die Augen für den Neoliberalismus öffnet. Es liegt jetzt aber an uns, bei der Erklärung weiter zu gehen. Es gibt Leute wie Thomas Piketty, die keine Marxisten sind, die aber zeigen, dass die tote Masse an Reichtum das Problem ist, und dass das sogar zum Problem für den Kapitalismus selbst wird. Das heißt, am Ende zerstört der Imperialismus sogar den freien Markt. Das wissen wir bereits von Lenin.
Ich denke, wir müssen an unseren Prinzipien festhalten und den Sozialismus enthusiastisch verteidigen, gleichzeitig aber auch in der Lage sein, Intellektuelle und die Teile der Gesellschaft zu erreichen, die für einen Antikapitalismus offen sind. Schau Dir zum Beispiel die selbständigen Gewerbetreibenden an: Zumindest in Belgien hat die Pandemie eine spontane Organisierung von Selbstständigen hervorgebracht, wie ich sie noch nie gesehen habe, von Friseuren, von Händlerinnen, von Café-Besitzern. Warum? Weil sie von den Schließungen extrem hart getroffen wurden. Der Staat hat im Grunde genommen nur den großen Firmen geholfen und die kleineren an die Wand gefahren. Die Regierenden machen uns damit unmissverständlich deutlich, dass sie sich dazu entscheiden haben, den Unternehmen zu helfen, die im Kapitalismus die anderen schlucken können. Deshalb arbeiten wir derzeit sehr viel daran, eine gemeinsame Front zwischen der Arbeiterklasse und den unabhängigen Händlern aufzubauen.
Gleichzeitig dürfen wir uns nicht der Illusion hingeben, dass die Investitionen der Europäischen Kommission – die übrigens bereits gekürzt werden – unsere wirtschaftlichen Probleme lösen werden. Es handelt sich dabei um öffentliche Gelder, und es ist vollkommen klar, in wessen Taschen sie fließen. An diesen Public Private Partnerships profitieren immer die multinationalen Unternehmen.
Die PTB wächst und Du sprichst davon, eine gemeinsame Front des Widerstands aufzubauen. Aber Ihr seid noch in keiner Großstadt stärkste Kraft und bundesweit bleibt Ihr in der Opposition. In Deiner Rede hast Du auf gefährliche Prozesse in der Landespolitik hingewiesen, insbesondere auf das Risiko einer Spaltung des Landes entlang kommunaler Grenzen, vielleicht nach den Wahlen 2024. Wenn die PTB dies verhindern will, was kann sie tun? Und unter welchen Bedingungen würdet Ihr selbst in die Regierung gehen?
Zur Frage der nationalen Spaltung: Wir müssen feststellen, dass ein Teil des Establishments versucht, die rechtsextreme Karte zu spielen, um die Arbeiterklasse zu spalten und für sich zu vereinnahmen. Das ist ein klassischer Schachzug in Zeiten der Wirtschaftskrise, insbesondere die Spaltung von eingewanderten und nicht eingewanderten Arbeitern.
Für unsere JACOBIN-Leserinnen, die die belgischen Nachrichten nicht verfolgen: Es gibt hier im Wesentlichen zwei verschiedene Gemeinschaften, die flämischsprachige (Region Flandern) und die französischsprachige (Wallonien), plus Brüssel. Alle traditionellen Parteien sind in autonome Parteien entlang der kommunalen Grenzen aufgeteilt, außer der PTB, die die flämischen, Brüsseler und wallonischen Genossinnen und Genossen in einer einzigen Partei vereint.
2024 besteht die Gefahr, dass die extreme Rechte in Flandern erstarkt und es zu einer Spaltung unseres Landes kommen könnte. Das wäre ein Rückschritt bei der Bildung eines einheitlichen Bewusstseins der Arbeiterklasse. Es ist nicht immer einfach, sich über regionale Grenzen und Eigenheiten hinweg zu organisieren. Aber wir wollen den Sozialismus in ganz Belgien – und in ganz Europa.
Wallonien hat eine eher sozialistische Geschichte, die stark von der arbeitenden Klasse geprägt ist, während Flandern ursprünglich eher landwirtschaftlich geprägt war. Ich sage ursprünglich, weil heute der größte Teil der Arbeiterklasse in Flandern lebt. Wir sind aber keine Marxisten, die hier an einen bestimmten Mechanismus glauben, und wir wissen, dass das Bewusstsein nicht immer automatisch aus der wirtschaftlichen Lage heraus erwächst; manchmal braucht es zuerst ein wenig politische Arbeit.
Was die Verbündeten für die Einheit des Landes angeht, gibt es zum einen die Gewerkschaftsbewegung und auch andere Parteien wie die Grünen, die ebenfalls für dieses Problem sensibilisiert sind. Dort gibt es durchaus Gemeinsamkeiten, um die Spaltung des Landes zu verhindern.
»Ich bin jetzt seit acht Jahren im Parlament, und ich habe dort vieles gesehen. Aber eine Sache, die ich im Parlament nicht gefunden habe, ist Macht.«
Damit verbunden – aber nicht gleichzusetzen – ist die strategische Frage nach der Regierungsbeteiligung der Linken auf Landesebene. Wir haben zwei Erfahrungen in kommunalen Regierungen gesammelt, in der Gemeinde Zelzate (mit den Sozialdemokraten) und im Antwerpener Bezirk Borgerhout (mit den Grünen und den Sozialdemokraten). Aus beiden können wir die positive Bilanz ziehen, dass es möglich ist, Rathäuser zu gewinnen und linke Politik auf dieser Ebene umzusetzen. Dabei können wir viel von der marxistischen Linken in Europa lernen, sowohl in der Vergangenheit als auch heute. Das Problem ist, dass man in Belgien Koalitionen bilden muss, und das bedeutet oft, dass die traditionellen Parteien unsere Politik konterkarieren.
Auf der Landesebene stellt sich meiner Meinung nach eine echte strategische Frage: Wo liegt die makroökonomische Macht in den europäischen kapitalistischen Nationalstaaten? Ich bin jetzt seit acht Jahren im Parlament, und ich habe dort vieles gesehen. Aber eine Sache, die ich im Parlament nicht gefunden habe, ist Macht. Ich habe unter den Tischen und hinter den Statuen geschaut, aber ich habe sie immer noch nicht gefunden! Nicht einmal in der Regierung und im Kabinett, die mächtigen Lobbys und den multinationalen Konzernen unterworfen sind.
Die Frage ist also, wie man die Macht erobern kann, wenn sie nicht in den sogenannten demokratischen Institutionen liegt. Syriza in Griechenland hat das in der Praxis erfahren müssen: Die Partei war in der Regierung, hatte aber nicht unbedingt die Macht. Die Europäische Kommission legte das griechische Bankensystem lahm und die Griechen mussten, ob sie wollten oder nicht, die Sparmaßnahmen akzeptieren.
Dass die PTB besser abschneidet als andere europäische linke Parteien, ist nicht nur ein Grund zum Feiern, sondern ein echtes strategisches Problem. Wie können wir in Europa eine Alternative schaffen – wenn auch nicht unbedingt in allen 27 EU-Staaten, so doch zumindest in einigen davon?
Bei dieser strategischen Debatte hinken wir noch sehr hinterher. Ich denke, dass die Debatte zwischen linken Kräften – im Plural – längst überfällig ist. Wir haben lange Zeit nur auf uns selbst geschaut und geglaubt, dass wir in Belgien unser eigenes Ding machen können. Erst durch die Erneuerung der PTB haben wir uns mit einer ganzen Reihe von Parteien vernetzt, sei es DIE LINKE, Podemos oder France Insoumise und die Französische Kommunistische Partei und so weiter.
Seitdem wir 2019 einen Abgeordneten in der Europäischen Linken haben, begannen wir, uns auszutauschen. Das erleichtert natürlich die Diskussion zwischen den parlamentarischen Gruppen. Aber die Bündnisse der Linken hinken der Vereinigung des europäischen Kapitals, die ja direkt vor unseren Augen stattfindet, noch deutlich hinterher.
»Es sind nicht einzelne heroische Figuren, die Geschichte machen, sondern der Klassenkampf.«
Es ist also in unserem Interesse, die Kontakte zu intensivieren. Das wirft aber auch die strategische Frage nach dem Kräfteverhältnis auf, das notwendig ist, um die europäische imperialistische Kette zu durchbrechen. Ich habe kein Problem damit, zuzugeben, dass die Wahlergebnisse der PTB kein automatisches Indiz für das antikapitalistische Bewusstsein der belgischen Arbeiterklasse sind. Die Wahlergebnisse sagen darüber nicht alles aus und es gibt noch viel zu tun.
Seit den 1970er Jahren ist das Klassenbewusstsein bei uns zurückgegangen, wie in allen europäischen Ländern – im Gegensatz zu Lateinamerika, wo es in den letzten zehn oder fünfzehn Jahren wieder zugenommen hat. In Europa gab es dagegen ein Rückschritt: zum einen, weil sich die alten sozialdemokratischen Parteien mit dem Kapitalismus verbündet und den neoliberalen Diskurs vollständig übernommen haben, und zum anderen natürlich durch die Schwächung des kommunistischen Lagers mit dem Fall der Berliner Mauer und allem, was darauf folgte.
Ich will also nicht naiv sein: Es gibt noch viel zu tun, um das Bewusstsein und die Identität der arbeitenden Klasse zu stärken. Es ist ein wichtiges Ziel für die nächsten fünf Jahre – und damit auch für die Frage der Macht –, andere Parteien zu finden, die diesen Bruch wollen. Aber ich muss auch dazu sagen, dass ich nicht das Gefühl habe, dass Grüne und Sozialdemokraten diese Frage stellen, ganz zu schweigen von den Rechten, die offen die Reichen verteidigen.
Um ein Beispiel aus meinem Land zu nennen: Jeremy Corbyn ist plötzlich an die Spitze der britischen Politik aufgestiegen, aber die Labour-Linke hatte Mühe, ihre eigenen politischen Anliegen durchzusetzen. Und angesichts der Angriffe der Medien und der Liberalen, die ihre eigene Agenda durchsetzten, wurde viele Rückschritte gemacht. Nach der Wahlniederlage 2019 war also trotz aller Versprechungen auch das Erbe dieser Zeit recht begrenzt. Wie wehrt sich die PTB gegen diese Art von Angriffen – und was könnt Ihr tun, um eine stabile Machtbasis aufzubauen?
Das große Problem für Jeremy Corbyn war, dass die heftigsten Angriffe aus seiner eigenen Partei kamen. Deshalb ist für uns die Einheit der Partei wichtig.
Wir stehen für einen undogmatischen Marxismus: Wir können sagen, dass unter der Sowjetunion Fehler gemacht wurden und dass wir einen Sozialismus 2.0 aufbauen wollen, der aus diesem Versuch lernt. Der Kapitalismus hat 500 Jahre gebraucht, um seine Herrschaft durchzusetzen, während der Sozialismus viel jünger ist. Es ist normal, aus den Fehlern zu lernen und Konsequenzen zu ziehen.
Es gibt eine starke Einheit in unserer Partei, angefangen bei ihrer Führung. Doch auch wenn Führungsfiguren wichtig sind – und sicher haben die Medien heutzutage die Personalisierung der politischen Debatte noch verstärkt –, sind wir nichts ohne das Kollektiv hinter uns. Es sind nicht einzelne heroische Figuren, die Geschichte machen, sondern der Klassenkampf.
Ohne die Kämpfe gegen die Bildungsreformen der 1990er Jahre, bei denen ich gelernt habe, wie man ein Megaphon hält, wäre ich heute nicht da, wo ich jetzt bin. Der Klassenkampf schafft Figuren, die lernen zu führen, und dann die Partei: Auch wir sind das Ergebnis eines historischen Prozesses. Und als Vorsitzender muss man sich von der Idee verabschieden, dass man individuell großartig ist. Die Partei muss da sein und sich um ihre Führung scharen, damit sie sich voll entfalten kann. So könnte es auch bei mir sein. Aber es ist wichtig, diese Bescheidenheit zu behalten.