11. Juni 2024
Vor 40 Jahren starb mit Enrico Berlinguer die bislang letzte charismatische Führungsfigur des italienischen Kommunismus. Sein Kurs als PCI-Generalsekretär verband konsequente Selbstkritik mit kämpferischem Einsatz für Frieden, Freiheit und Sozialismus.
Enrico Berlinguer hält eine Rede in Venedig, 1980.
Als Enrico Berlinguer am 13. Juni 1984 in Rom zu Grabe getragen wurde, säumten über eine Million Menschen seinen Trauerzug. Ein Song der Folk-Rock-Gruppe Modena City Ramblers beschreibt das Aussehen der italienischen Hauptstadt bei dieser wohl größten Beerdigung in der Geschichte des Landes als »ein Meer aus roten Fahnen, Blumen, Tränen und Abschieden«. Berlinguers Begräbnis wird häufig als letzte massenhafte öffentliche Sympathiebekundung für den italienischen Kommunismus gewertet.
Knapp eine Woche zuvor war Berlinguer – seit 1972 Generalsekretär der Italienischen Kommunistischen Partei (PCI) – bei einer Wahlkampfrede in Padua zusammengebrochen und am 11. Juni im Alter von 62 Jahren an den Folgen des dabei erlittenen Schlaganfalls verstorben. Der Auftritt in Padua war Teil des Kampagnenendspurts seiner Partei gewesen, die zu den damaligen Europa-Wahlen mobilisierte. Hierbei errang die PCI einen ihrer größten, wenn auch eher symbolisch bleibenden Wahlerfolge. Sie errang bei der Europa-Wahl 1984 ein Drittel der Wählerstimmen. Hierin drückte sich das Vertrauen von fast zwölf Millionen Italienerinnen und Italienern aus. Die Kommunisten landeten erst- und letztmalig auf Platz eins einer landesweiten Abstimmung und damit vor den Christdemokraten (DC), die das politische System Nachkriegsitaliens als Dauerregierungspartei geprägt hatten.
»Über unterschiedliche politische Lager hinweg bezieht man sich positiv auf seine im Vergleich zu anderen Politikern geradezu hervorstechende Unbestechlichkeit, Integrität und Glaubwürdigkeit.«
Weniger als zehn Jahre später befand sich der Medientycoon Silvio Berlusconi, unterstützt von Neofaschisten im Nadelstreif und Rechtspopulisten mit Sezessionsfantasien, erstmalig auf dem Weg ins Amt des Ministerpräsidenten – und die einst so gut aufgestellte Kommunistische Partei war aus Italiens Parteiensystem verschwunden. Enrico Berlinguer hingegen, als die linke charismatische Identifikationsfigur aus dem Zeitalter demokratischer Massenpolitik schlechthin, bleibt ein Referenzpunkt für verschiedene Formen der Nostalgie.
Über unterschiedliche politische Lager hinweg bezieht man sich positiv auf seine im Vergleich zu anderen Politikern geradezu hervorstechende Unbestechlichkeit, Integrität und Glaubwürdigkeit. Franca Magnani, die langjährige Rom-Korrespondentin der ARD, formulierte es in ihrem Nachruf 1984 so: »Zwischen Moral und Politik hat Enrico Berlinguer nie einen Trennungsstrich gezogen.« Derart allgemein gehalten konnten sich sogar Papst Johannes Paul II. und Erich Honecker auf ein Lob des Betrauerten einigen.
Angesichts der wohlklingenden, aber unspezifisch gehaltenen Wertschätzung solch unterschiedlicher Zeitgenossen geraten die spezifischen politischen und strategischen Lektionen, die Berlinguers Leben und Werk sowie die Politik seiner Partei für eine heutige komplexfreie Linke bereithalten, allerdings häufig aus dem Blickfeld.
Die im Jahr 2022 zum 100. Geburtstag Berlinguers vorgelegte deutsche Übersetzung von Chiara Valentinis Biografie Der eigenartige Genosse Enrico Berlinguer hat ein bemerkenswertes Echo gefunden. Das vom SPD-nahen Bonner Verlagshaus Dietz publizierte Buch ist lesenswert. Dank Valentinis journalistischem Können führt es der unvoreingenommenen Leserin in vielerlei Hinsicht plastisch vor Augen, was der Gramsci-Forscher Guido Liguori meinte, als er schrieb, dass Berlinguers Ideen »nach wie vor von unschätzbarem Wert für den Aufbau eines ›Sozialismus des 21. Jahrhunderts‹« sind. Wohl unbeabsichtigt entstellt die Übertragung ins Deutsche an einigen Stellen zwar den Sinn von Äußerungen der Protagonisten und erschwert das Verständnis historischer Umstände und politischer Zusammenhänge. Viel schwerer als dies wiegt aber die bereits in der italienischen Originalfassung enthaltene Stoßrichtung von Valentinis eigenartiger Berlinguer-Interpretation, die von einigen Rezensenten in besonders greller Form herausgekehrt wurde.
Matthias Rüb zum Beispiel, der Rom-Korrespondent der FAZ, kürt Berlinguer zum »Kommunist[en], der zum Sozialdemokraten wurde«. Aber auch der von Rüb als »Stalinist« verunglimpfte marxistische Historiker Luciano Canfora hält Berlinguers PCI im historischen Rückblick für eine sozialdemokratische Partei – freilich eine mit ehrbarer Leistungsbilanz.
Doch was macht Berlinguers »Sozialdemokratismus« in diesen und ähnlichen Interpretationen aus? Der Verfassungsschutz-nahe Politikwissenschaftler Armin Pfahl-Traughber schreibt in seiner Besprechung der Biografie über Berlinguer, dass »dieser seit Mitte der 1960er Jahre immer mehr für eigenständige Schritte hin zum Sozialismus [plädierte]. Damit einher ging die Akzeptanz der parlamentarischen Demokratie wie die Bejahung politischer Grundrechte«. Derartige Formulierungen unterstellen der PCI eine – im Vergleich zu anderen politischen Kräften späte – Konversion hinsichtlich ihrer demokratischen Zuverlässigkeit. Dies beantwortete Sergio Segre, der Partei-»Außenminister« zur Zeit von Berlinguers Generalsekretariat mit der schlichten, Erstaunen über so viel historische Unkenntnis zum Ausdruck bringenden, Gegenfrage: »Wandel?«
»Den Beweis dafür, dass man die Demokratie als universellen Wert erachte, hätten ›viele, viele Kommunisten mit ihrem Blut [geliefert] – in den Gefängnissen des Faschismus, auf den Bergen in der Partisanenarmee.‹«
Berlinguer selbst ging in seiner Rede vor dem 15. PCI-Parteitag ausführlicher auf Unterstellungen dieser Art ein. Dieser Kongress leitete im Frühjahr 1979 die letzte Wirkungsphase seines Lebens ein. Aus Berlinguers Sicht hätte seine Partei es nicht nötig, einen Ausweis »demokratische[r] Legitimität« von anderen ausgestellt zu bekommen, am wenigsten von bürgerlichen Kräften: »Diesen Titel haben wir mit unserem antifaschistischen und demokratischen Kampf, mit unser[er] Arbeit, mit unseren Ideen und mit den Opfern für die Sache der Freiheit, die so groß sind, daß sie den Vergleich mit jeder anderen italienischen Partei gewinnen können, errungen.«
Bereits im Vorlauf zum Parteitag hatte Berlinguer sich ähnlich entschieden geäußert. In einem bis heute aufschlussreichen Gespräch mit dem liberalsozialistischen Journalisten Eugenio Scalfari aus dem Herbst 1978 bekundete er, dass über ein halbes Jahrhundert der Geschichte seiner Partei »doch genug bestandene Examen« hinsichtlich der »Fragen nach unserer demokratischen Legitimierung« aufweise: Den Beweis dafür, dass man die Demokratie als universellen Wert erachte, hätten »viele, viele Kommunisten mit ihrem Blut [geliefert] – in den Gefängnissen des Faschismus, auf den Bergen in der Partisanenarmee.«
Die 1921 als Abspaltung von der Sozialistischen Partei (PSI) in der toskanischen Hafenstadt Livorno aus der Taufe gehobene PCI war vom ersten Tag ihrer 70-jährigen Geschichte an befehdet: Unter der Leitung von einer Gruppe Turiner Intellektueller, die in ihrer Begeisterung über die revolutionäre Entwicklung in Sowjetrussland eine produktive Verbindung mit den Werktätigen in der nördlichsten italienischen Industriemetropole eingegangen war, musste die junge Kommunistische Partei umgehend damit fertig werden, dass der Faschismus als Wächter des Kapitalismus siegreich aus den Nachkriegsauseinandersetzungen hervorging.
Dies geschah trotz einer ansehnlichen Fabrikrätebewegung und trotz der Tatsache, dass beispielsweise noch bei den Kommunalwahlen 1920 die Rathäuser der ländlich geprägten Emilia und Toskana von einer roten Welle erfasst worden waren. Antonio Gramscis Aufzeichnungen im faschistischen Kerker kreisten bis kurz vor seinem Tod 1937 um die mit dieser Niederlage verbundenen Grundfragen.
Palmiro Togliatti, Gramscis vormaliger Studienkollege, Freund und Nachfolger als PCI-Generalsekretär, in dessen Amtszeit die Entwicklung seiner Partei zur Massenpartei gelang, schrieb 1958 in einem explizit an ein nicht-kommunistisches Publikum gerichteten Buch nicht ohne Stolz über den antifaschistischen Widerstand als den historischen Moment, der diese Entwicklung markierte: »Wir hegen für alle Kämpfer, alle Gefallenen und alle Helden die gleiche Bewunderung, erkennen allen denselben Ruhm zu und empfinden für alle dieselbe Dankbarkeit. Wenn wir den besonderen Einsatz und den Beitrag der Kommunistischen Partei hervorheben, so deshalb, weil dies das neue historische Ereignis ist, das einen Markstein in der tiefgreifenden Fortentwicklung unseres Landes setzt.«
Auch Berlinguer selbst wurde in dieser Etappe PCI-Mitglied: Der 21-jährige Jurastudent trat der Partei 1943 im sardischen Sassari bei und wurde nur wenig später von Togliatti in den hauptamtlichen Apparat geholt.
»Gerade im kapitalistischen Westen waren es insbesondere die Kommunisten, die für die elementarsten unter den libertates minores stritten, wie beispielsweise ›die freie Wahl des Sexual- und Ehepartners‹.«
Die Resistenza stellte zwar eine breite politische Front dar, aber zahlenmäßig und organisatorisch war sie von den Kommunistinnen und Kommunisten getragen. Im Wind der Befreiung 1945 segelten die großen Erfolge der Erkämpfung der republikanischen Staatsform 1946 und des Inkrafttretens der fortschrittlichen Verfassung 1948. Hiermit hatte die PCI geholfen, den Anbruch eines potenziell demokratischen Zeitalters in Italien überhaupt denkbar zu machen.
Es ging hierbei mitnichten um eine »liberale«, sondern um eine »für den Sozialismus offene Demokratie«, womit sich gerade ein »freiheitliche[r] Atem« verbinde, so Franco Rodano, der wichtigste Vertreter eines christlich inspirierten Sozialismus innerhalb der PCI. Demokratie war hier also nicht einfach ein Markenname, der im schlechtesten Falle als Ornament einem zu akzeptierenden Status quo umzuhängen war, sondern ein bewusst zu gestaltender Prozess.
Anders als andere Linke, die diesem Grundrecht im Rahmen taktischer Winkelzüge mit Argwohn begegneten, da sie von der neu hinzukommenden weiblichen Wählerschaft eine massive Zustimmung für konservative Kräfte befürchteten, betonte die PCI-Führung die unabdingbare Notwendigkeit des mit dem Ende des Faschismus eingeführten Frauenwahlrechts. Hieran erinnerte die Mitgründerin der Tageszeitung il manifesto, Rossana Rossanda, die sich zugleich nicht mit Kritik an Unzulänglichkeiten der Partei in anderen Hinsichten zurückhielt. Mitnichten hatten sich die Kommunisten aber einer wie auch immer gearteten, bereits existierenden Demokratie schlicht »angepasst«.
Der toskanische Kommunist Adalberto Minucci, der der sozialistischen Sache bis zu seinem Tod im Jahr 2012 treu bleiben sollte, brachte es 1978 in einem Interview mit dem Vorgängerblatt der Zeitschrift Sozialismus auf folgende Formel: »[D]ie Geschichte der Eroberung und der Verteidigung der politischen Demokratie in Italien [ist] weitgehend mit dem Vormarsch und der Einheitspolitik der [PCI] identisch«. Das bedeutet allerdings nicht, dass ein vollständig reflektiertes Bewusstsein der Bedeutung dieses Handelns im Moment des jeweiligen Agierens stets sofort gegeben war – geschweige denn, dass dieses umgehend öffentlich verkündet wurde.
In der Tat vollzog die PCI eine »radikale Revision ihrer politischen Strategie«, wie Pietro Ingrao, der wichtigste basisdemokratischen Ideen verpflichtete Vertreter des linken Parteiflügels festhielt: Die italienische KP entwickelte sich im Übergang zur Nachkriegszeit von der militanten, der faschistischen Herrschaft fast ein Vierteljahrhundert lang trotzenden Kader- und Weltanschauungspartei zur die Republik mitgründenden und -gestaltenden Mitglieder- und Programmpartei mit zeitweise über zwei Millionen Organisierten. Sodann verstand sie die »Demokratie […] nicht nur [als] das Terrain, auf das sich der Klassenfeind zurückziehen muss, sondern gleichzeitig auch [als] de[n] historisch universelle[n] Wert, auf den eine neue sozialistische Gesellschaft gegründet werden sollte«. Dies waren die Worte von Togliattis Nach-Nachfolger Berlinguer 1977 in Moskau aus Anlass des 60. Jahrestages der Oktoberrevolution, für die er keine Standing Ovations seitens der gastgebenden KPdSU erwarten konnte.
Auch die von ihm geführte PCI kämpfte demnach in Italien gleichermaßen für die kollektiven wie individuellen Freiheiten und Rechte der Angehörigen subalterner Klassen. Die in den 1950er Jahren ausgetragene Polemik zwischen dem liberalsozialistischen Philosophen Norberto Bobbio und dem kommunistischen Philosophiehistoriker Galvano Della Volpe unter den Schlagworten libertas minor versus libertas major (also ‚kleine‘ gegen ‚große‘ Freiheit) ging demnach von einer falschen historischen Grundlage und einer irreführenden Dichotomisierung aus: Gerade im kapitalistischen Westen waren es insbesondere die Kommunisten, die für die elementarsten unter den libertates minores stritten, wie beispielsweise »die freie Wahl des Sexual- und Ehepartners«.
Das galt auch im katholischen Nachkriegsitalien, wo die legale Aufhebung einer einmal geschlossenen ehelichen Verbindung lange Zeit unmöglich war: Auch wenn sie zunächst einen schematisch »Marxisten« gegen »Katholiken« stellenden Kulturkampf gefürchtet hatten, war die 1974 durchgeführte Volksabstimmung über das kurz zuvor in Italien implementierte Recht auf Ehescheidung ein voller Erfolg für die Kommunisten und die Linke insgesamt: »60 Prozent der Abstimmenden ließen sich durch den Gleichklang der penetranten diffamierenden Kampagne der Christdemokraten, der Neofaschisten und des Vatikans nicht einschüchtern und stimmten gegen die Abschaffung des 1970 eingeführten Gesetzes«, das eine legale Scheidung ermöglichen sollte und damit das Prinzip der freien Partnerwahl, einer angeblich »kleinen«, in Wahrheit aber sehr großen Freiheit stärkte.
Kurz nach diesem Sieg betonte Berlinguer im Gespräch mit der Feministin Carla Ravaioli zugleich, dass es nicht in paternalistischer Weise darum gehen könne, dass die Partei »die Emanzipation« als Geschenk verleihe, sondern dass man dem weiblichen Teil der Bevölkerung »ein Instrument« zur Verfügung stellen wolle, welches dieser »in eigener Regie und für [die] eigene Durchsetzung« nutzen könne. Es zeigt sich, dass die Menschen, in deren Interessen man zu wirken beabsichtigte, von der Kommunistischen Partei »als Protagonisten und nicht als Klientel« betrachtet wurden, um eine weitere Formulierung Pietro Ingraos aufzugreifen. Diese Orientierung unterscheidet die PCI von einigen heutigen europäischen Linksparteien, für deren Führungen die Masse der Menschen mitunter lediglich ein in regelmäßigen Abständen zu aktivierendes Wählerinnenklientel abgibt.
Hierbei war die Berlinguersche Parteiführung nicht so selbstgerecht, zu behaupten, dass die laut Parteitagsbeschluss 1979 gesellschaftlich angestrebte Aufhebung der Trennung von Regierenden und Regierten als Wesen der Demokratie in der Partei bereits vollends gelungen sei. Der Generalsekretär erklärte sich darin bestrebt, den »Akzent« im Organisationsprinzip des demokratischen Zentralismus »immer mehr in die Richtung ›demokratisch‹« zu verschieben, das heißt die »Debatte, de[n] Ideenaustausch, die direkte Teilnahme eingeschriebener Mitglieder […] immer offener« zu gestalten. So hinterließ Berlinguer seiner Partei 1983 auf dem 16. Parteitag – dem letzten, dem er beiwohnen sollte – den Hinweis, dass »Transparenz […] nicht Zerbrechlichkeit« und »Partizipation […] nicht Durcheinander« bedeutet.
Noch 1982 bezeichnete Berlinguer in einem Interview mit dem Hamburger Spiegel die Oktoberrevolution »als das größte revolutionäre Ereignis dieses Jahrhunderts […], nicht nur für Rußland. Sie gab der Emanzipation der Arbeiter und der Befreiung unterdrückter Völker auf allen Kontinenten große Impulse.« Hiermit war ein historisch entscheidender und die Partei von anderen Linkskräften unterscheidender Eckpfeiler kommunistischer Identität angeführt: Die PCI war, wenngleich aus den Widersprüchen der italienischen Gesellschaft hervorgegangen und in dieser wirkend, auch aus Sicht Berlinguers an die mit der Oktoberrevolution begonnene politische Tradition gebunden. So führte er auf dem 15. Parteitag aus, dass es »absurd« sei, »von uns zu verlangen, unsere Wurzeln zu entfernen«, und nannte hierbei auch das Werk Lenins.
Die PCI fügte dieser Tradition allerdings einen eigenen, den bisherigen Rahmen zum Teil drastisch erweiternden Beitrag hinzu. Diese Bindung sollte eigener geistiger Freiheit nicht entgegenstehen. In diesem Sinne hieß es auf demselben 1979er Parteitag mit Bedauern und im Geiste kommunistischer Selbstkritik, »daß es noch keine sozialistischen Gesellschaften gibt, die sich auch als der höchste Ausdruck der Demokratie und der Freiheit charakterisieren« lassen.
»Die italienische Revolution war als längerer Prozess konzipiert.«
In dieser Einschätzung unterschied sich die italienische KP tatsächlich von anderen Kommunistischen Parteien ihrer Zeit. Sie differierte hierin auch von solchen Parteien, die in diesen gegenüber dem real existierenden Sozialismus in Osteuropa kritischen Äußerungen der PCI seinerzeit Revisionismus erblickten (und damit, wie noch zu zeigen sein wird, möglicherweise zumindest einen Teil der italienischen Kommunistinnen nicht ganz falsch einschätzten), später aber »die von Berlinguer geübte Kritik an Aspekten des Sozialismus in der Sowjetunion von der Geschichte bestätigt« sahen.
Zu Sozialdemokraten wurden die italienischen Kommunisten dadurch allerdings nicht. Zum einen wünschte Berlinguer der Sowjetunion ausdrücklich keine Rückkehr »zu Formen der Restauration des Kapitalismus«, wie er sich auf dem 1983er PCI-Parteitag ausdrückte. Anders als der erste (und in programmatischer Hinsicht streng genommen bislang letzte) sozialdemokratische Kanzler der Bundesrepublik, Willy Brandt, der »Sozialdemokratie« und »demokratischen Sozialismus« als Synonyme behandelte, sah Berlinguer zum anderen das Projekt seiner Partei von dem der Sozialdemokratie auch und gerade darin unterschieden, dass letztere »den Kapitalismus nicht überwunden hat – gestern so wenig wie heute.«
Dies wirft die Frage auf, ob die Einschätzung Pfahl-Traughbers, wonach Berlinguer lediglich eine »sozial-transformative […] Marktwirtschaft« vorschwebte, zutrifft. Berlinguer führte 1978 aus: »Gerade um die Demokratie zu retten, sie geräumiger zu machen, stärker, besser geordnet – gerade deshalb muß der Kapitalismus überwunden werden. Die historische Erfahrung zeigt, zumindest von den zwanziger Jahren aufwärts: Die Wiedereroberung, Erhaltung und Entwicklung der Demokratie sind Ergebnis eines Kampfes, dessen Protagonisten die Arbeiterklasse und ihre Parteien sind und in vorderster Front die Kommunisten. Umgekehrt waren es die kapitalistischen und bürgerlichen Kräfte, die zur Bewahrung ihrer Herrschaft nicht gezögert haben, die Demokratie zu beschränken, zu amputieren, inhaltsleer zu machen oder – mittels Faschismus – überhaupt zu zerstören.« Hieraus folgerte er auf dem 1979er Parteitag, dass »die Demokratie in Italien und in Westeuropa nur dann leben« könne, »wenn man die Strukturen und den sozialen und politischen Rahmen, in dem die demokratische Dialektik sich ausdrücken muß, ändert.«
Hier war nicht aus mehr oder weniger abstrakten Kategorien, sondern aus der konkreten Geschichte (nicht nur Italiens) die Schlussfolgerung gezogen worden, dass die kapitalistischen Führungskräfte abgelöst werden mussten und somit der Kapitalismus überwunden gehörte. Der bereits von Togliatti ausgerufene italienische Weg zum Sozialismus wurde von Berlinguer als eine besondere Revolution interpretiert. Die italienische Revolution war als längerer Prozess konzipiert. Bei einer gemeinsamen Kundgebung mit Santiago Carrillo, dem Generalsekretär der unter dem damaligen Franco-Regime illegalen Kommunistischen Partei Spaniens (PCE), im Sommer 1975 in Livorno sprach Berlinguer davon, dass Italien in eine »neue Phase der demokratischen und antifaschistischen Revolution« eingetreten sei. Diese habe mit der Resistenza mehr als 30 Jahre zuvor begonnen. Er fuhr fort: »Kennzeichnend für diese Phase ist, daß mit der Methode der Demokratie Elemente des Sozialismus schrittweise in das soziale wie auch staatliche, politische und moralische Leben eingeführt werden.«
Ein solches Projekt muss notwendigerweise auf Gegnerschaft bei denjenigen Kräften stoßen, die kein Interesse an einer Überwindung des Kapitalismus haben. Die Restauration der kapitalistischen Eigentums- und Machtverhältnisse in Italien – nach einem kurzen radikaldemokratischen Zwischenspiel auf der Woge des Widerstandes und der Befreiung – war politisch hauptsächlich von den Christdemokraten und ihren bürgerlichen Koalitionspartnern verwaltet worden. Ausgerechnet mit dieser Partei aber strebte Berlinguer Mitte der 1970er Jahre einen »historischen Kompromiss« an. Das kritisch gemeinte Wort einer Großen Koalition all’italiana machte die Runde.
»Luciana Castellina attestiert Berlinguer rückblickend, den Weg des historischen Kompromisses als Fehler erkannt und ›den Mut [gehabt zu haben], das einzugestehen‹.«
Die italienische DC als katholische Massenpartei war ein widersprüchliches Gebilde. Zwar gab es einerseits an der Wählerinnen- und Mitgliederbasis zahlreiche Demokratinnen, die zum Teil gemeinsam mit den Roten im Widerstandskampf gegen Mussolini aktiv gewesen waren. Andererseits verfügte die DC jedoch über eine Führung, die auch nach erfolgter kapitalistischer Restauration die Hauptgewährleisterin monopolistischer Interessen im politischen System des Landes blieb.
Die Tatsache, dass der DC Mitte der 1970er Jahre mit Aldo Moro ein Exponent reformfreudiger Kräfte mit fortschrittlichen Auffassungen vorstand, ließ Berlinguer das Potenzial der DC als Ganzes wohl überschätzen, worin er sich am stärksten von seinem Lehrer Togliatti entfernte. Der Historiker Hans Woller formuliert, dass Berlinguer »eine christdemokratische Partei [erfand], die es in der Realität so nicht gab«. Nach der, in dem sehenswerten sechsteiligen Fernsehspiel Und draußen die Nacht fiktionalisierten Entführung und Ermordung Moros durch die ultra-linke Terrorgruppe Brigate Rosse im Frühjahr 1978 war die in diesem Zeitraum gebildete parlamentarische Mehrheit der »nationalen Solidarität« unter Einschluss der PCI (aber ohne ihre Regierungsbeteiligung) ihres wichtigsten christdemokratischen Garanten einer halbwegs aufrichtigen Zusammenarbeit beraubt.
Nachdem die PCI als »Dankeschön« für ihre »nationale Solidarität« einige sozial- und wirtschaftspolitische (und der kommunistisch geführte Gewerkschaftsbund CGIL auch einige lohnpolitische) Kröten zu schlucken hatte und die »Dynamik der Klassenbewegungen von unten« abnahm, erhielt die Montagsausgabe der Parteizeitung L’Unità vom 19. September 1978 besondere Aufmerksamkeit: Sie enthielt Berlinguers Rede vom Pressefest jener Tageszeitung, das am vorhergehenden Wochenende in Genua stattgefunden hatte, und machte mit der unmissverständlichen Schlagzeile »Schluss mit der DC!« auf, gleichsam einen alten PCI-Slogan der frühen 1950er Jahre wiederaufnehmend. Doch bereits die Datierung der Zeitungsausgabe hatte aufhorchen lassen, schließlich war der 19. September 1978 ein Dienstag gewesen. In der Tat handelte es sich bei dieser Titelseite um eine in Umlauf gebrachte Fälschung des Satiremagazins Il Male, die zunächst mit großer Begeisterung bei Teilen der kommunistischen Parteibasis aufgenommen worden war, die auf einen Kurswechsel hoffte.
Die zwischenzeitliche Enttäuschung wich bei vielen großer Erleichterung, als Berlinguer tatsächlich auf dem 15. Parteitag im Folgejahr dazu aufrief, den oben genannten Widerspruch innerhalb der Christdemokratie »mit einem Kampf [zu] lösen«, der deren »konservative […] Positionen bricht und […] die demokratischen Orientierungen […] fördert« und in dem »die Zweideutigkeiten, die Rückzieher, die Verschließungen und die Arroganz der DC« angegriffen werden. Zugleich sagte er den Machtprivilegien den Kampf an, »die heute vor allem in der christdemokratischen Partei Asyl und Schutz finden.« Auf dem nächsten Parteitag 1983 bekräftigte Berlinguer, dass die Phase der nationalen Solidarität »auf jeden Fall […] abgeschlossen« sei.
Die zur Gruppe um die Tageszeitung il manifesto gehörende Kommunistin Luciana Castellina attestiert Berlinguer rückblickend, den Weg des historischen Kompromisses als Fehler erkannt und »den Mut [gehabt zu haben], das einzugestehen«. Castellina war gemeinsam mit anderen Redakteuren Ende der 1960er Jahre wegen des Vorwurfs der Fraktionsbildung aus der PCI ausgeschlossen worden. Die Gruppe wurde aber von Berlinguer kurz vor seinem Tod zur Rückkehr in die Partei eingeladen: »Er hat[te] gemerkt, dass ein rechter Flügel an Einfluss gewinnt und wollte deshalb die Linke wieder aufbauen.«
In seiner aufschlussreichen Geschichte des italienischen Kommunismus mit dem Titel Der Schneider von Ulm schreibt Lucio Magri, der ebenfalls als Mitbegründer von il manifesto in diesem Zeitraum auf Einladung Berlinguers zur PCI zurückkehrte: »Eine Gesamtschau der Reden, Vorhaben und Beschlüsse zeigt, dass die [PCI] zwischen 1980 und 1985 tatsächlich versuchte, einen tiefgreifenden kulturellen und politischen Kurswechsel herbeizuführen. Dabei beschränkte sie sich nicht auf die Erklärung guter Absichten, sondern setzte ihn in konkretes politisches Handeln um, das heißt, sie organisierte Massenkämpfe«.
Es entbehrt deshalb nicht einer gewissen Tragik, dass die PCI der späten Amtszeit Berlinguers nun zur Schaffung einer »demokratischen Alternative« aufrief, diese ausdrücklich als »eine Alternative zur DC und ihrem Machtsystem« definierte und die Sozialistische Partei als den »wichtigste[n] Gesprächspartner« für diesen Vorschlag betrachtete. Dieselbe PSI verfolgte nämlich genau in diesem Moment unter ihrem korrupten wie antikommunistischen Generalsekretär Bettino Craxi den rechtesten Kurs ihrer Parteigeschichte.
Anders als oft behauptet, war der von der PCI unter Berlinguer anvisierte Dritte Weg kein »revisionistisches Konzept […] zwischen Sozialdemokratie und ›Sowjetsozialismus‹«. Hierzu erklärte Pietro Ingrao auf dem 2. Otto-Bauer-Symposium Ende 1979 in Wien: »Wir sagen nicht ›dritter Weg‹, um eine unmögliche und statische ›Mitte‹ zwischen Ost und West zu finden, zwischen Ost-Ländern und sozialdemokratischen Regierungen, sondern um die Erneuerung zu unterstreichen, auf die wir abzielen«. Dritter Weg hieß im streng historisch geschulten Vokabular des italienischen Kommunismus der späten 1970er und frühen 1980er Jahre also: dritter Anlauf beziehungsweise dritte Phase.
Enrico Berlinguer unterschied auf dem Parteitag 1979 die von der Sozialdemokratie verkörperte »erste Phase des Kampfes der Arbeiterbewegung, um aus dem Kapitalismus herauszukommen« von der mit der Oktoberrevolution begonnenen zweiten Phase, die aus Sicht der PCI beide mit den bereits genannten Unzulänglichkeiten behaftet waren, was einen neuen Weg verlangte. Mithin sollte der »revolutionäre […] Prozeß in der Welt« auf Weisen beschritten werden, »die die Erfahrungen der zwei vorhergehenden Phasen und die kritischen Gedanken über sie beachten und aus ihnen lernen.« Berlinguer vergaß nicht, hinzuzufügen: »Unser demokratischer Weg zum Sozialismus, Genossen, ist sicherlich kein opportunistischer Weg oder einer, der angesichts der revolutionären Aufgaben die Flinte ins Korn wirft; es ist ein Weg des Kampfes; es ist ein Weg, der einen hartnäckigen Kampf und eine permanente revolutionäre Spannung erfordert.«
Die Feststellung der »Erschöpfung der antreibenden Kraft des sowjetischen Modells« hatte die italienischen Kommunistinnen und Kommunisten »weder zu Brüchen, noch zu Schwächen auf der Ebene des Klassenkampfes geführt«, wie Berlinguer auf dem 16. Parteitag bekundete. Klassenkämpfe in ihrer Pluralität ausbuchstabierend, erinnerte er daher bei gleicher Gelegenheit an die historischen Ziele der »Bewegung für den Sozialismus«, um festzuhalten, dass diese Ziele weiterhin Gültigkeit besitzen: »Das Ziel der Überwindung jeder Form der Ausbeutung und der Unterdrückung des Menschen durch den Menschen, einer Klasse durch eine andere Klasse, einer Rasse durch eine andere, des weiblichen durch das männliche Geschlecht, einer Nation durch eine andere; der Frieden unter allen Völkern; die schrittweise Annäherung – anstatt der Entfremdung – zwischen Regierenden und Regierten, damit die Demokratie voll und effektiv ist, und damit die Freiheit auch Befreiung wird; die Beendigung jeglicher Diskriminierung beim Zugang zum Wissen und zur Kultur.«
»Es wurde die Überwindung sowie Auflösung beider Militärpakte in Europa anvisiert.«
Die Tatsache, dass die von der PCI unter der Leitung Berlinguers vorgelegten konkreten Policy-Vorschläge zur gesellschaftlichen Umgestaltung mitunter recht zahm wirken, beantwortete der belgische Trotzkist Ernest Mandel mit dem nicht als Kompliment gedachten Vergleich, dass »ihre Vorhaben noch gemäßigter sind als die der Exekutive der Labour Party von 1945«.
Hierfür fand der seinerzeit mit dem Italokommunismus sympathisierende, spätere Bremer SPD-Chef Detlev Albers angesichts des im damaligen Italien »besonders ausgeprägten Umfang[s] der öffentlichen Unternehmen« folgende Erklärung: »[D]ie ökonomischen und politischen Strukturen [sind] bereits […] bis in die Nähe sozialistischer und demokratischer Alternativlösungen, allerdings noch unter entgegengesetzter, staatsmonopolistischer Systemausrichtung vorangetrieben worden«. Vor allem der Parteiflügel um Ingrao legte deshalb das Problem der Demokratisierung der öffentlichen Betriebe immer wieder auf die Tagesordnung. Ob damals, wie Albers behauptete, tatsächlich »weitere Verstaatlichungen zunächst einmal überflüssig« waren, muss dahingestellt bleiben.
Aus Ingraos rückblickender Sicht jedenfalls war eines der Versäumnisse Berlinguers, die »reaktionäre Bourgeoisie« unterschätzt zu haben – ein Faktor, dem man mit dem Kampf um weitere Vergesellschaftungen durchaus hätte beikommen können. Da die von Berlinguer bereits auf dem 1983er Parteitag kritisierten »Versuche von Herrn Reagan und von Frau Thatcher, eine neoliberalistische und monetaristische Wirtschaftspolitik zu realisieren«, inzwischen auch in Italien ihre bitteren Früchte getragen und dem dortigen »Halbsozialismus« den Garaus gemacht haben, müsste ein auf die heutigen Erfordernisse der Apennin-Halbinsel zugeschnittener kommunistischer Forderungskatalog von anderen Prämissen ausgehen.
In einem berühmt gewordenen halbstündigen TV-Interview im Format Mixer des zweiten Programms der italienischen Rundfunkanstalt RAI, antwortete ein – wie immer – nachdenklicher und zurückhaltender Enrico Berlinguer im Frühjahr 1983 auf die Fragen des den Sozialisten nahestehenden Moderators Giovanni Minoli. Minoli wollte unter anderem wissen, welche lebende internationale Persönlichkeit Berlinguer am meisten schätzen würde.
Die Antwort lautete schlicht, dass er für keinen lebenden Politiker eine besondere Bewunderung empfinde. Zugleich erklärte er, dass er, wenn Minoli ihn einige Jahre früher gefragt hätte, die Namen des jugoslawischen Partisanenführers und späteren Präsidenten Josip Tito und des vietnamesischen Revolutionärs Ho Chi Minh genannt hätte – nicht gerade die gängigste Ahnengalerie, um einen vermeintlichen Friedensschluss mit dem Kapitalismus zu untermauern. Dass Berlinguer im gleichen Zeitraum in seinem Schlusssatz auf dem 16. Parteitag »zur Diskussion und zum Studium von Marx« aufrief, ist nur konsequent.
Auch die früher klassisch-linksliberale Frankfurter Rundschau entdeckte Enrico Berlinguer im Zeichen seines 100. Geburtstages neu und verband die Erinnerung an den italienischen Kommunisten mit einem Seitenhieb auf aus ihrer Sicht noch immer unliebsame Tendenzen in der gegenwärtigen politischen Linken: Unter Verweis auf Aussagen, die Berlinguer im Juni 1976 in einem Interview mit dem Corriere della Sera zur NATO-Mitgliedschaft Italiens traf, wonach er sich in der NATO »sicherer fühle als im Warschauer Pakt«, formulierte die FR: »Bedenkt man, wie viele Personen auf der Linken heute noch in der [NATO] den Gottseibeiuns sehen, wird deutlich, welche Wirkung die Aussage des Generalsekretärs der damals größten kommunistischen Partei Europas haben musste.« Die Linkspartei-nahe Rosa-Luxemburg-Stiftung verweist gleichfalls auf eine »Akzeptanz der Westintegration« seitens Berlinguers. Auch Zeitgenossinnen bescheinigten der PCI seinerzeit eine »Verwestlichung«.
In dem legendären Mixer-Gespräch präzisierte Berlinguer ein Jahr vor seinem Tod, dass er keine Möglichkeit für Italien sähe, als Warschauer Vertragsstaat den Sozialismus in der von der PCI verstandenen Weise zu realisieren. Hiermit bezog er sich ohne Zweifel auf die von der damaligen Sowjetunion vertretene Breschnew-Doktrin einer begrenzten Souveränität der realsozialistischen Länder. Er ergänzte, dass dies nicht bedeute, unter dem Dach des Nordatlantikpakts den Sozialismus errichten zu wollen – dies wäre auch ein reichlich unrealistisches Unterfangen gewesen.
Guido Liguori erinnert daran, dass die PCI seit den 1970er Jahren in der Tat nicht mehr den Austritt Italiens aus der NATO verlangte und damit gleichsam von der zu Togliattis Zeiten üblichen Forderung abwich. Stattdessen wurde die Überwindung sowie Auflösung beider Militärpakte in Europa anvisiert. Dies war als Teil eines Entspannungsprozesses gedacht, dem unilaterale Austritte aus PCI-Sicht potenziell hätten gefährlich werden können. Über die Sinnhaftigkeit dieser Anpassung des Forderungskatalogs kann (und sollte) man kritisch diskutieren – sowohl mit Bezug auf die damalige Lage wie auf die mehr als dreißig Jahre nach der Auflösung des Warschauer Paktes völlig veränderte heutige Situation. Das emphatische Bekenntnis zur militärischen Westbindung, welches manche sehen wollen, war dies jedenfalls nicht.
Italien erlebte nämlich nach seiner Befreiung 1945 mitunter erhebliche Einmischungen in seine Souveränität seitens seiner westlichen Hauptverbündeten. Hans Woller verweist auf die »Bündniskonstellation in der NATO« als einen gewichtigen Faktor in der Rechnung, die Nachkriegsitalien zu einer »blockierten Demokratie« machte, in der die Hauptoppositionspartei wegen ihrer kommunistischen Ausrichtung niemals regulär die Gelegenheit haben sollte, auf nationaler Ebene auf die Regierungsbank zu gelangen. Gleichwohl stellte die PCI, angefangen mit den vor allem im Norden des Landes errungenen Erfolgen in den ersten freien Wahlen nach dem Ende des Faschismus – den Kommunalwahlen vom Frühjahr 1946 –, »eine soziale und saubere Verwaltung von Gemeinden und Regionen« unter Beweis.
Eingedenk dieser und weiterer Eingriffe formulierte Berlinguer in einem Fernseh-Interview, das am Tag der Veröffentlichung des Corriere-Gesprächs im Juni 1976 ausgestrahlt wurde, aber ein weitaus geringeres Echo erfuhr, dass der Atlantikpakt zwar als eine Art »Schild der Freiheit« präsentiert würde. In Wahrheit habe dieser aber jahrelang »das faschistische Griechenland« (gemeint war das Obristen-Regime) und »das faschistische Portugal« (gemeint war Salazars und Caetanos Ständestaat) in seinen Reihen geduldet.
»Das in Pretoria damals herrschende Apartheidregime war ein Teil der westlichen ›Sicherheitsarchitektur‹ während des Kalten Kriegs, gegen die Berlinguer einen Stoß richtete.«
In diesem Sinne rief Berlinguer im November 1983 vor dem Zentralkomitee seiner Partei dazu auf, »erneut über die Funktion der NATO und über die Beziehungen zwischen Europa und den USA zu reflektieren«. Angesichts der imposanten Friedensmanifestationen jener Zeit, die sich vor allem gegen die Stationierung neuer Mittelstreckenraketen richteten, hoffte er auch auf Entwicklungen in der westeuropäischen Sozialdemokratie, mit denen sich sein Ansinnen im Rahmen einer breiteren Linken möglicherweise verbinden ließe. Obacht: Berlinguer suchte die Nähe zu oppositionellen Parteien wie der westdeutschen SPD oder der britischen Labour Party, als deren Vorsitzende Willy Brandt (inzwischen Ex-Kanzler) beziehungsweise Michael Foot hießen. Die rechten Flügelhauptmänner der beiden Parteien, Helmut Schmidt und James Callaghan, stimmte die Stärke der PCI unterdessen »sehr pessimistisch«.
Ausdrücklich anknüpfend an die drei Jahrzehnte zuvor lancierten Appelle Togliattis »für die Zusammenarbeit mit der katholischen Welt für die Rettung der Menschheit und des Lebens selbst vor der Atomkatastrophe«, plädierte Berlinguer derweil für den Aufbau eines kollektiven Sicherheitssystems zur Ersetzung der bisherigen Militärblöcke mit bis heute bedenkenswerten Eckpfeilern: »Die einzige mögliche Auffassung ist die einer gemeinsamen, gegenseitigen, voneinander abhängigen Sicherheit, die auch Seiten vereint, die sich gegenseitig als Gegner ansehen. Diese Sicherheit darf nicht durch eine Konfrontation, sondern muß durch die Entspannung und durch Verhandlungen und Übereinkünfte erreicht werden, die man geduldig aufbaut und die für alle von Vorteil sind.«
Zugleich war die Distanzierung von sowjetischem Hegemonismus und von der Breschnew-Doktrin kein Anlass, die Kritik am US-Imperialismus einzustellen. Schließlich hatte dieser laut Berlinguer in jenen Tagen mit einer »hinterhältigen Aggression« gegen Grenada begonnen und sich zugleich mit der »hochgefährliche[n] Doktrin« Reagans das »Recht an[ge]maß[t], auch militärisch in all den Gegenden einzugreifen, die [er] für die Vereinigten Staaten« als »von ‚vitalem Interesse‘« erachtet. Die Reagan-Doktrin verkündete zugleich, dass die USA »nicht davor zurückschrecken werden, die legitimen Regierungen dieser Länder zu stürzen, wenn sie ihnen nicht genehm sind«. Dementsprechend ergriff Berlinguer Partei für das sandinistische Nicaragua und das sozialistische Kuba – und gegen die »prestigelosesten und korruptesten Militärdiktaturen in Lateinamerika«, denen die USA ihre Unterstützung zukommen ließen.
Vier Jahre zuvor, auf dem 15. PCI-Parteitag, konnte Berlinguer darauf verweisen, dass es kurz vor Ende der Phase der »nationalen Solidarität« im November 1978 in Reggio Emilia gelungen war, »eine Solidaritätskonferenz mit den Völkern des südlichen Afrika« unter Beteiligung »aller demokratischen Parteien, von der liberalen bis zur kommunistischen«, inklusive eines »offizielle[n] Vertreter[s] der Regierung« durchzuführen. Seine Freude hierüber zeigt, welche Außenpolitik Berlinguer eigentlich durchzusetzen gedachte. Für ihn waren die auf der von unten organisierten Konferenz von Exponenten der offiziellen italienischen Politik abgegebenen Erklärungen keine schnell wieder ad acta zu legenden Sonntagsreden. Er betrachtete sie als Verpflichtungen, deren Einhaltung er auf dem Parteitag einforderte – insbesondere die, »der Lieferung von Waffen ein Ende zu setzen, die auch Italien den rassistischen Regierungen jener südafrikanischen Länder verkauft«. Das in Pretoria damals herrschende Apartheidregime war im Übrigen ein Teil der westlichen »Sicherheitsarchitektur« während des Kalten Kriegs gewesen, gegen die Berlinguer hiermit einen Stoß richtete.
In dieser internationalistischen Orientierung Berlinguers zeigte sich bereits in Ansätzen, was Lucio Magri mit Bezug auf die frühen 1980er Jahre als »Linie der aktiven Friedenspolitik« bezeichnet. In deren Rahmen bereiste der PCI-Generalsekretär persönlich die Welt (vor allem den Globalen Süden), um mit fortschrittlichen Kräften Bande (neu) zu knüpfen und gemeinsame Politiken zu erarbeiten.
Im Mixer-Interview formulierte Berlinguer 1983 als Antwort auf die Frage nach der von ihm an sich selbst am meisten geschätzten Eigenschaft, dass er den Idealen seiner Jugend treu geblieben sei. Während die Rechte dem heutigen Italien ihren Stempel aufdrückt, ist von Berlinguers Jugendidealen wenig zu spüren. Daran ändern auch symbolische Akte nichts. Die sozialliberale Demokratische Partei (PD) stellte kürzlich das Motiv ihres Mitgliedsausweises für das laufende Jahr 2024 vor: Die PD bildete sich 2007 als dezidiert postideologische (das heißt eigentlich: bürgerlicher Ideologie anhängende) Nachfolgerin der Linksdemokraten, die wiederum 1991 aus dem (geschrumpften) Mehrheitsflügel der PCI entstanden waren. Der Ausweis zeigt als Bildmotiv die lächelnden Augen Enrico Berlinguers und trägt als Mottospruch eine berühmte Sentenz aus dessen letzter Rede in Padua: »Haus für Haus – Straße für Straße«. Dieser allerletzte Aufruf des PCI-Generalsekretärs vor seinem Tod, sich »mit demselben Elan einzusetzen, den die Kommunisten in den entscheidenden Momenten des politischen Lebens stets demonstriert haben«, steht emblematisch für eine Massenpolitik, mit der die heutige PD eigentlich nichts zu tun haben will. Entsprechend anachronistisch nimmt sich die Motivwahl aus.
Berlinguers Nachfolger in der Parteiführung räumten mit den kommunistischen Spezifika schnell auf. Parteichef Alessandro Natta erklärte Mitte der 1980er Jahre: »Wäre ich in der BRD, wäre ich Mitglied der SPD«. Und dessen Nachfolger Achille Occhetto verkündete 1989, während einer Reise durch die USA, dass die PCI, wäre sie eine amerikanische Partei, wohl Liberal Party heißen müsste. Ganz auf dieser Linie war der »grundsätzliche Sinn des Parteitages von Florenz«, der 1986 als erster nach Berlinguers Tod durchgeführt wurde, »eine unausgesprochene Teilkorrektur von Berlinguers Kurswechsel, um dessen Strenge und strategischen Anspruch abzuschwächen«, wie sich Lucio Magri erinnert.
Dieser vorherige, »von Berlinguer angestrebte Kurswechsel«, der den Weg der Partei zu einer mit den herrschenden Verhältnissen kompatiblen Linken abzuwenden suchte, war aus Magris Sicht wiederum »explizit von dem anspruchsvollen mittelfristigen Ziel aus[gegangen], zu einem realen Fortschritt auf dem demokratischen Weg zum Sozialismus in Italien und in Europa beizutragen. Aus objektiven Gründen und subjektiver Unreife hielt diese Absicht der Prüfung durch die Tatsachen nicht stand, denn das Ziel lag außer Reichweite. Aber die Stärke, die die [PCI] sich erhielt, ihre neuen Weichenstellungen und Ideen hätten sie davor bewahren können, von der Krise der Sowjetunion mitgerissen zu werden. Sie wären die Voraussetzung dafür gewesen, sich später nicht auflösen und ihrer Sache nicht abschwören zu müssen, in Italien eine bedeutende, lebendige, kommunistisch orientierte Linke aufrechtzuerhalten. […] Wenn eine solche Linke noch bestanden hätte, als die Erste Republik 1992 zerfiel, hätte nicht nur die Geschichte der [PCI], sondern auch die Entwicklung der italienischen Demokratie einen anderen Charakter angenommen.« Der von Adalberto Minucci aufgemachte positive Zusammenhang zwischen der Stärke der PCI und dem Gedeihen des demokratischen Fortschritts in Italien bestätigte sich so in der Gegenprobe.
»1980 besaßen mehr als 1,7 Millionen Italienerinnen und Italiener und damit ganze 4 Prozent der erwachsenen Bevölkerung das kommunistische Parteibuch.«
Will man verstehen, warum nach Berlinguers Ableben »der Verfall [der] PCI nicht mehr aufzuhalten« war, wie sich Frank Deppe ausdrückt, und die Antwort hierauf ausdrücklich nicht in einem zweifelhaften Geschichtsbild suchen, in dem »große Männer« Geschichte machen, sind Fausto Sorini von der Zeitschrift Marx Ventuno und Salvatore Tiné vom Online-Periodikum Marxismo Oggi zur Stelle. Sie bieten eine historisch-materialistische Erklärung der Entwicklung an und zeigen, wie sich auch Erfolge in ihr Gegenteil verkehren können, wenn sie nicht adäquat verarbeitet werden.
Laut ihrer Darstellung war es im Nachgang der großen kommunistischen Kommunal- und Regionalwahlsiege Mitte der 1970er Jahre zu einem folgenreichen Wechsel von erfahrenen, proletarischen Kadern aus dem Parteiapparat in die Volksvertretungen und Verwaltungen der Gemeinden, Städte, Provinzen und Regionen des Landes gekommen. Zugleich verschwanden in diesem Zeitraum allmählich die Betriebszellen als eigentliche Grundorganisation der Partei und machten der Dominanz der Wohngebietsgruppen Platz. Um die entstandenen Lücken im Bereich der Parteihauptamtlichen zu schließen, griff man derweil zum Teil auf jüngere Kader aus der kleineren und mittleren Bourgeoisie mit eigenen, partiell nichtmarxistischen Bezugsintellektuellen zurück.
Das muss nicht notwendigerweise ein Problem darstellen, denn schließlich war auch Berlinguer bei seiner Aufnahme in den Kader ohne proletarischen Hintergrund gewesen. Es wird aber zum Problem, wenn eine Entproletarisierung der Führungsschicht als Entfremdung von der eigenen Parteibasis riskiert und auf eine politische (und ökonomische) Bildung verzichtet wird, die alle Mitglieder befähigt, den Hegemonielautsprechern der Herrschenden zu widerstehen. Genau dies tat die PCI aus Sorinis und Tinés Sicht aber in unzureichendem Maße. So erhielt die Partei eine neue Trägerschicht, die mit Berlinguers Jugendidealen (und denen von Millionen anderer Italienerinnen und Italiener jener Zeit) wenig am Hut hatte – auch nicht in der flexiblen und undogmatischen Weise, die Berlinguer selbst an den Tag legte.
Ein relevanter Teil des Parteiapparates hatte in der Folge die von Pietro Ingrao anvisierte »Möglichkeit einer Form der Durchdringung des Staates durch die ausgebeuteten Klassen« vergessen, »die nicht auf eine zur Niederlage verdammte Integration und auf eine passive Anpassung an die Gesetze des kapitalistischen Mechanismus hinausläuft«. Zugleich wurde aus den Augen verloren, dass die demokratischen Elemente der liberalen Form bürgerlicher Herrschaft zwar wohl auf universelle Werte verwiesen, aber Ausdruck des (proletarischen) Erbes der eigenen Partei waren – und keine Gabe der Herrschenden, an die man sich nun heften zu müssen meinte. Das von Berlinguer 1983 anempfohlene Marx-Studium diente also keinem abstrakt-akademischen, sondern einem konkret-politischen Zweck.
Besaßen 1980 mehr als 1,7 Millionen Italienerinnen und Italiener und damit ganze 4 Prozent der erwachsenen Bevölkerung das kommunistische Parteibuch, so setzte knapp ein Jahrzehnt später mit dem auf Kappung der kommunistischen Wurzeln zielenden Kurs der Parteileitung der Massenexodus aus der PCI ein: Kurz vor dem 1991er Parteitag, auf dem die Parteiführung unter Occhetto den Abschied vom Kommunismus nun auch offiziell beschließen und den gleichzeitigen Schritt der Umwandlung der Parteimehrheit in die Linksdemokraten vollziehen ließ, zählte die PCI nur noch etwas weniger als eine Million Mitglieder.
In der Folge der von Occhetto schon 1989 gemachten – und mit den Parteiinstanzen nicht abgesprochenen – Ankündigung der Operation hatten allein circa 400.000 Kommunistinnen und Kommunisten mit den Füßen über diesen Kurs abgestimmt und die mit Berlinguers Projekt immer weniger gemein habende Partei bereits vor ihrem letzten Parteitag enttäuscht verlassen. Magri verweist zudem auf zeitgenössische Umfragen, die darauf hindeuten, dass die neue Richtung auch unter der kommunistischen Wählerschaft keine Begeisterung auslöste. Die Reihen der Linken lichteten sich, während das Ende der Massenpolitik in Italien allgemein eingeläutet wurde.
Heute ist es für die Linke (nicht nur in Italien) bereits ein großer Erfolg, wenn 4 Prozent der erwachsenen Bevölkerung überhaupt zu einer für sie positiven Stimmabgabe bei Wahlen bewogen werden können. Enrico Berlinguers Leben und Wirken, inklusive seiner Fehler und Korrekturversuche, illustrieren auch vierzig Jahre nach seinem Tod, was der hier Gewürdigte selbst meinte, als der ansonsten für seine Ernsthaftigkeit bekannte PCI-Exponent 1975 bei der oben erwähnten Kundgebung in Livorno begeistert ausrief: »Wie schön ist es, Kommunist zu sein!« Diesen Ausruf sollten Linke heute gleichsam als Weckruf begreifen.
Phillip Becher ist Sozialwissenschaftler. Bei PapyRossa erschien seine Studie Faschismusforschung von rechts sowie der Basiswissen-Band zum Thema Rechtspopulismus.