18. Dezember 2024
Für das Recht auf Abtreibung und gegen die Ausbeutung von Frauen kämpften Feministinnen weltweit schon vor über hundert Jahren. Ihre politische Ambition und ihr utopischer Gestaltungswille sind eine Inspiration für die Kämpfe von heute.
Clara Zetkin und Alexandra Kollontai beim III. Weltkongress der Kommunistischen Internationale, 1921.
Die erste Welle des Feminismus: Dabei denken viele an die Suffragetten, die vor rund hundert Jahren in Großbritannien und den USA für das Frauenwahlrecht kämpften. Auf der anderen Seite gab es die proletarische Frauenbewegung, die sich leidenschaftlich für die Rechte der Arbeiterinnen einsetzte und deren Führungsfigur Clara Zetkin mit ihren Genossinnen den internationalen Frauentag ins Leben rief.
Diesem klassenbasierten Feminismus ist die Anthologie Feministische Internationale gewidmet, die Texte von Sozialistinnen, Kommunistinnen und Anarchistinnen des 19. und frühen 20. Jahrhunderts versammelt. Die Fragen, die sie schon damals thematisierten, sind aktuell geblieben: Es geht um das Recht auf Abtreibung, die Abschaffung der Prostitution, die Ausbeutung von Frauen im Kapitalismus, die sexuelle und körperliche Selbstbestimmung. Auch dem Antifeminismus innerhalb der Arbeiterbewegung stellten sie sich klar entgegen.
Im Gespräch mit JACOBIN spricht der Herausgeber Vincent Streichhahn über die Herausforderungen, denen Feministinnen zu der Zeit gegenüberstanden und warum gerade die proletarische Frauenbewegung in der Erinnerung keinen großen Platz einnimmt.
Im kollektiven Gedächtnis wird die erste feministische Bewegung oft nur mit dem Kampf um das Frauenwahlrecht verbunden. Doch Deine Anthologie zeigt, dass es damals auch um Arbeitsrechte, das Recht auf Abtreibung, Prostitution, den Gender Pay Gap und die Rolle in der Familie ging. Warum sind diese vielfältigen frühen Kämpfe des Feminismus heute weitestgehend in Vergessenheit geraten?
In Deutschland gibt es viele, die Teile dieser Geschichte kennen, sie erzählen, sie studieren und sich auch in dieser Tradition organisieren. Trotzdem haben wir es natürlich mit dem Vergessen zu tun. So wurde zum Beispiel die erste Frauenbewegung, egal ob proletarisch oder bürgerlich, erst durch die Aktivistinnen der zweiten Frauenbewegung, also in den 1960er und 70er Jahren, wiederentdeckt, weil diese Traditionslinie in der Zeit des Nationalsozialismus durchtrennt wurde. Man spricht manchmal auch von einer kollektiven Amnesie, die da stattgefunden hat.
In der Gegenwart wird insbesondere der proletarischen Frauenbewegung kaum Platz in der deutschen Erinnerungskultur eingeräumt. Das liegt unter anderem daran, dass diese lange Zeit stark androzentrisch geprägt gewesen ist. Es lässt sich zwar eine gewisse Gegenbewegung beobachten, aber hier findet gerade das Engagement bürgerlicher Frauen Einzug in die Erinnerungskultur. Wir sehen hier also das nachhaltige Wirken von Klasse und Geschlecht in der Formation einer Erinnerungskultur.
Wieso hast Du die Bezeichnung Feministische Internationale für Deine Anthologie gewählt?
Bei der Bezeichnung Feministische Internationale handelt es sich ganz klar um eine streitbare Konstruktion. Die Auswahl und Zusammenstellung der Beiträge lädt ganz explizit zum Widerspruch ein. Also wer gehört dazu, wer bleibt ungehört – das war seit jeher Streitpunkt in der feministischen Bewegung sowie in der historischen Forschung. Die feministische Internationale ist auch ein Versuch, die proletarische Frauenbewegung in der Erinnerungskultur zu stärken. Aber es bleibt am Ende eine Konstruktion. Die Vorstellung, die in dem Buch sprechenden Frauen hätten alle gemeinsam an einem Tisch über ihre Kämpfe diskutiert, entspricht natürlich nicht der historischen Realität. Wobei manche von ihnen das gewiss getan haben.
Gab es eine Vernetzung zwischen den Feministinnen zu der Zeit? Wie standen sie in Verbindung zueinander?
Die Verbindungen in der Frauenbewegung im 19. Jahrhundert sind vielseitig gewesen. Zum einen waren die Feministinnen sehr gut informiert über Zeitungsberichte. Sie wussten also ziemlich genau, wie gerade der aktuellste Stand von beispielsweise Wahlrechtszulassungen international ist und bezogen sich auch in ihren Texten explizit darauf. Es gibt in der Anthologie den Brief von zwei französischen Frühsozialistinnen, Jeanne Deroin und Pauline Roland, den sie 1851 aus dem Gefängnis an ihre Genossinnen aus den USA schreiben. Sie beziehen sich im Brief auf eine Frauenkonferenz, die dort stattgefunden hat. Diese Frauen waren also sogar über den Atlantik hinweg vernetzt. Zum anderen gab es im Verlauf des 19. und 20. Jahrhunderts verschiedene Zusammenschlüsse: Frauen aus verschiedenen Ländern trafen sich auf Versammlungen, diskutierten und planten Aktionen zusammen.
Das ist wahrscheinlich auch ein Grund dafür, dass sie sich in verschiedenen Teilen der Welt mit denselben Themen beschäftigt haben.
Auf jeden Fall. Das ist schon sehr auffällig. Vor allem beschäftigten sie sich mit der Frage der Arbeitsbedingungen, der Hausarbeit und ein bisschen später mit dem Wahlrecht. Es sind überall dieselben Themen. Das liegt sicherlich auch daran, dass der Übergang zur Moderne im 19. Jahrhundert die Frauen weltweit vor ähnliche Herausforderungen gestellt hat, auf die sie versucht haben, Antworten zu finden.
Beim Blick ins Inhaltsverzeichnis fällt auf, dass die Feministinnen sehr unterschiedliche politische Traditionen hatten. Hier stehen zum Beispiel Anarchistinnen neben Sozialistinnen. Was vereint sie und was trennt sie? War die feministische Bewegung damals undogmatischer als heute?
Die Klammer, mit der ich jetzt die feministische Internationale verzahnt habe, ist ihre Nähe zur Arbeiter- und Arbeiterinnenbewegung. Was die Feministinnen dementsprechend eint, ist das ausgeprägte Bewusstsein über die sozialen Ursachen von Unterdrückung und Ausbeutung, die sie gemeinsam mit Geschlechterfragen gedacht haben. Trennlinien gab es aber viele, so waren sich Sozialistinnen und Anarchistinnen sicherlich nicht alle einig bei der Organisationsfrage. Auch der Umgang mit dem proletarischen Antifeminismus gestaltete sich teilweise unterschiedlich, manche gingen diesen sehr offensiv an.
»Viele Genossen behandeln die Frauenfrage so scherzhaft, dass man sich wirklich fragen muss: Sind das Parteigenossen, die für gleiches Recht eintreten?«
Es gibt ein schönes Zitat von der Hamburger Genossin Luise Kehler, die die Männer auf dem SPD-Parteitag in Gotha 1896 mit folgenden Worten zur Rede stellte: »Viele Genossen behandeln die Frauenfrage so scherzhaft, dass man sich wirklich fragen muss: Sind das Parteigenossen, die für gleiches Recht eintreten?« Andere, wie zum Beispiel Clara Zetkin, betonten viel stärker den gemeinsamen Kampf, obwohl sie sich den antifeministischen Widerständen ganz klar bewusst waren. Es war eine Frage der Strategie: Während manche die Umstände offensiv ansprachen, wählten manche Frauen eher den Weg, das Gemeinsame zu betonen. Insofern kann man nicht sagen, dass die Bewegung damals undogmatischer war als heute. Mein Eindruck ist aber zumindest, dass Differenzen innerhalb der Bewegung länger ausgehalten und verhandelt wurden als heute, weil man eine Einheit nicht gefährden wollte.
Was waren die Konflikte zwischen der proletarischen und der bürgerlichen Frauenbewegung?
Die Konflikte waren einerseits thematischer Natur und andererseits betrafen sie Fragen der Aktionsformen. Es wurden unterschiedliche Antworten auf ähnliche Herausforderungen gefunden. Während die bürgerliche Frauenbewegung sicherlich nicht zu Unrecht auch als Bildungsbewegung charakterisiert wird, war ihr Ansatz, über teilweise selbstorganisierte Bildungsangebote wie Mädchenschulen, neue Arbeitsräume für Frauen zu eröffnen und ihnen die Möglichkeit zu bieten, in gewisse Bildungszweige einzutreten. Daran war ihr Emanzipationsmodell gekoppelt: Erst Bildungsangebote, dann Arbeit, dann mehr Freiheit. Bildung spielte natürlich auch in der proletarischen Frauenwelt eine Rolle, aber man adressierte sehr viel stärker die Arbeitsbedingungen, also Bezahlung, Nachtarbeit, Arbeiterinnenschutz. Hier gerieten sie zunehmend in Konflikt miteinander, weil die proletarischen Frauen, die anfangs mitorganisiert werden sollten, sich durch die bürgerlichen Frauenvereine nicht gehört und gesehen fühlten in ihrer sozialen Realität.
Zum anderen wählten sie unterschiedliche Organisationsformen und hier unterschied man sich recht grundlegend voneinander. Während sich die proletarischen Frauen anfangs in erster Linie gewerkschaftlich organisierten, waren es bei den bürgerlichen Frauen eher die Bildungsvereine oder Vereine der Sozialfürsorge. Die proletarischen Frauen griffen auch zu Mitteln wie Streiks oder Demonstrationen, während die bürgerlichen Frauen eher Petitionen schrieben. Es handelt sich um unterschiedliche Partizipationsformen, die sich wechselseitig ergänzen konnten.
Du hattest es eben erwähnt, dass einige Frauen eher auf die Verbindung von Arbeiterbewegung und Frauenbewegung eingegangen sind und versucht haben, diese zu stärken, und andere die Konflikte hervorgehoben haben. Woraus bestanden denn die größten Konflikte zwischen der Frauenbewegung und der Arbeiterbewegung?
Diese Konflikte waren immens und extrem vielfältig, gerade im 19. Jahrhundert. Ich spreche in meiner Arbeit auch vom proletarischen Antifeminismus. Hier kann man mehrere Dimensionen unterscheiden, die die Tragweite dieses Phänomens verdeutlichen. Auf der einen Seite kann man es, wie es in der Forschung oft getan wurde, inhaltlich programmatisch beschreiben. Die Arbeiterorganisationen haben das Frauenwahlrecht lange Zeit abgelehnt oder es anfangs gar nicht mitgedacht, weil die Vorstellung, dass Frauen wählen, für sie völlig absurd war. Sie standen auch lange Zeit der Frauenarbeit ablehnend gegenüber. Obwohl man hier unterscheiden muss: Gegen Hausarbeit, hatten die Arbeitervereine natürlich überhaupt nichts. Sie hatten auch nichts gegen die Arbeitsbereiche, in denen Frauen sowieso schon lange Zeit mehrheitlich tätig waren, wie zum Beispiel im 19. Jahrhundert in der Landwirtschaft. Das hat niemand in Abrede gestellt, sondern es ging darum, die männlichen Arbeitsbereiche, anfangs vor allem das Handwerk, später die Fabriken, vor dem »Eindringen« von Frauen zu schützen. Das lehnten die Arbeitervereine ab und forderten ein Verbot der »Frauenarbeit«.
»Die Arbeiterbewegung entstand aus dem Handwerk. Es waren kleine Meister und Handwerksgesellen – das war eine rein männliche Arbeitssphäre Mitte des 19. Jahrhunderts.«
Gestärkt wird diese inhaltliche Dimension einerseits durch eine sozialgeschichtliche Perspektive, wenn man überlegt, wo die Arbeiterbewegung eigentlich herkommt. Das waren anfangs keine Industrieproletarier, sondern sie entstand aus dem Handwerk. Es waren kleine Meister und Handwerksgesellen – das war eine rein männliche Arbeitssphäre Mitte des 19. Jahrhunderts. Da war kein Raum für weibliche Perspektiven und Forderungen. Außerdem ist eine kulturelle Überformung dieser maskulinen Räume zu beobachten. Im Handwerk kann man eine geradezu misogyne Gesellenkultur feststellen. Der Ausschluss von Frauen war dafür eine konstitutive Bedingung. Der proletarische Antifeminismus war darüber hinaus sogar rechtlich abgesichert. Es gab genug staatliche Verbote, zum Beispiel verhinderte das preußische Vereinsgesetz, dass Frauen politischen Vereinen beitreten konnten. Sie durften auch nicht an politischen Versammlungen teilnehmen. Es gab teilweise eine Pressezensur gegen Frauen. Insofern konnten sich die Arbeiterorganisationen auch rechtlich abgesichert fühlen, sie mussten sich nicht dafür rechtfertigen. Im Gegenteil: Es anders zu machen, das hätte Kraft und Rechtfertigung bedurft. Mit dieser bewegungspolitischen Konstellation setzt sich auch eine Vielzahl von Autorinnen aus der Anthologie auseinander. Besonders stark ist hier die spanische Anarchistin Lucia Sánches Saornil, die den Sexismus der männlichen Genossen sehr eindeutig benennt und bekämpft.
In den ausgewählten Texten wird Feminismus häufig als direkte Folge der Industrialisierung betrachtet, die durch neue Arbeitsmöglichkeiten auch die Rolle der Frau im Haushalt veränderte. Was waren darüber hinaus weitere Auslöser für die frühe feministische Bewegung?
Die Industrialisierung war sicherlich ein starker Motor, der nicht nur die Frauenbewegung als soziale Bewegung des 19. Jahrhunderts angetrieben hat. Sie war zum Beispiel auch eine massive Initialzündung für die deutsche Arbeiterbewegung. Die Industrialisierung war verbunden mit einer Erfahrung von Ausbeutung, von Entfremdung, von Loslösung sozialer Bindungen und so weiter.
»Die proletarischen Frauen griffen auch zu Mitteln wie Streiks oder Demonstrationen, während die bürgerlichen Frauen eher Petitionen schrieben.«
Auf der anderen Seite gibt es die Tradition der Aufklärung mit dem Versprechen von Freiheit und Gleichheit; die Idee, sich selbst zu befreien, Vorstellungen von Emanzipation, die dann auch getragen wurden durch Revolutionen. Revolutionen waren im politischen Sinne immer wieder treibende Kraft von sozialen Bewegungen. Ganz besonders die Französische Revolution, die nicht nur europaweit, sondern auch bis in die USA und darüber hinaus Wirkung entfaltete. Auch die Julirevolution in Frankreich von 1830 und die Revolution von 1848 in Deutschland spielen als europäische Phänomene eine Rolle. Sie lösten Debatten um Freiheit, politische Rechte und Gleichheit aus und führten so natürlich auch Frauen an den Aktivismus heran, um auf ihre entrechtete Stellung in vielen Bereichen aufmerksam zu machen und dagegen anzugehen.
Auffällig ist, dass die Feministinnen den Kampf für Gleichberechtigung auch mit anderen Freiheitsbewegungen verknüpfen. Sie sehen Feminismus als wesentlichen Bestandteil des Arbeitskampfes, des antifaschistischen Widerstands und der Antisklavenbewegung in den USA.
Es ist tatsächlich auffällig und erstaunlich, wie klar die Frauen damals schon die verschiedenen Dimensionen von Unterdrückung erkannt, teilweise selbst erlebt und diese auch ganz klar benannt haben. Diese manchmal etwas überspitzte Vorstellung, dass Intersektionalität so eine Erfindung der 1970er Jahre ist, stimmt so auf jeden Fall nicht. Der Begriff als solcher, das mag sein. Aber dieses Verständnis einer Unterdrückung aufgrund von Klasse, Geschlecht und »Race« findet man in Texten seit dem 19. Jahrhundert. Im deutschsprachigen Raum beschränkt sich das zu der Zeit in der Regel auf Klasse und Geschlecht. Aber in den USA war »Race« sehr früh im Bereich der Betrachtung. Ein grandioser Text über diese »Tripple Oppression«, der auch in der Anthologie abgedruckt ist, stammt von der US-amerikanischen Kommunistin Louise Thompson Patterson aus dem Jahr 1936. Er bildet damit den zeitlichen Endpunkt der Reihe, aber er zeigt eindrücklich und lebhaft die Form einer extremen Ausbeutung von schwarzen Arbeiterinnen.
Die indische Feministin Begum Rokeya schreibt 1905 von einer fantastischen Welt, in der das Matriarchat regiert. Die Männer werden zu Hause eingesperrt und sind nur noch für den Haushalt zuständig. In dieser Welt gibt es keine Kriege mehr, keine Verbrechen, keine Unwetter. Es wird mit Sonnenlicht geheizt und gekocht. Alle ernähren sich von Früchten – und das alles, in dem den Frauen das Recht auf Bildung gegeben wurde. Ich war sehr überrascht, wie radikal dieser Text und die Ideen sind. Welche Bedeutung hatten feministischen Utopien wie diese damals?
Diesen Text zu übersetzen, das hat unglaublich viel Spaß gemacht, weil man da wirklich in eine ganz andere Welt mitgenommen wird. Ich glaube, das zeigt auch die Attraktivität von Utopien. Dass Utopien eine Rolle spielten, das sieht man schon anhand der Frühsozialisten in Frankreich. Charles Fourier hat beispielsweise auch sehr bildgewaltige Utopien gesponnen, während Marx und Engels eher einer Form von Bilderverbot anhingen und gar nicht so klar benannt haben, wie eine kommunistische Gesellschaft aussehen und organisiert sein sollte. Aber jemand, der sich an den Frühsozialisten ein Vorbild genommen hat, ist August Bebel, der 1879 in »Die Frau und der Sozialismus« für diese Zeit sehr klare utopische Vorstellungen davon entwickelt hat, wie eine befreite Gesellschaft aussehen kann, in der auch Geschlechtergleichheit und -gerechtigkeit vorherrscht. Diese utopische Dimension des Buches ist auch immer wieder als Faktor des Erfolgs dieses Klassikers beschrieben worden. Insofern hatten Utopien gerade in einer Zeit, die von einer extremen Ausbeutung und Entrechtung gekennzeichnet war, eine immense Sogwirkung.
»Aus einer globalen Perspektive betrachtet liegt das Zentrum der Feministischen Internationale heute auch einfach woanders.«
Um einen Bogen in die Gegenwart zu schlagen – es gibt ja diesen Ausspruch »Es ist leichter, sich das Ende der Welt vorzustellen als das Ende des Kapitalismus«. Vielleicht ist das so, weil wir schlecht darin geworden sind, uns eine befreite Gesellschaft vorzustellen. Ich glaube, hier wäre ganz viel Nachholbedarf.
Welche Ziele hat die feministische Internationale erreicht?
Die feministische Internationale hat zusammen mit anderen Flügeln der Frauenbewegung in allererster Linie erreicht, dass gesellschaftlich über diese Themen der Geschlechtergleichheit und -gerechtigkeit diskutiert wurde. Sie haben diese Themen auf die politische Agenda gesetzt. So wurde zum Beispiel das preußische Vereinsgesetz, was ich schon angesprochen hatte, im Jahr 1908 reformiert. Frauen durften sich fortan in allen deutschen Staaten politisch organisieren und an politischen Versammlungen teilnehmen. Ab der Jahrhundertwende konnten Frauen zunehmend in verschiedenen deutschen Staaten die Universitäten besuchen, also auch höhere Formen der Bildung in Anspruch nehmen. Diese »Kärrnerarbeit« trug dazu bei, dass mit der Gründung der Weimarer Republik das Frauenwahlrecht 1919 endlich Realität wurde. Das lag maßgeblich daran, dass man sich seit Jahrzehnten für diese Themen stark gemacht hat, für diese Themen gestritten hat und Allianzen aufgebaut hatte.
Haben sich die Ziele der Frauen im von Dir untersuchten Zeitraum in einem zeitlichen Kontext verändert?
Während anfangs der Fokus der Proletarierinnen vor allem auf den Arbeitsbedingungen und bei den bürgerlichen Frauen auf Bildungsangeboten lag, ist die Frage des Frauenwahlrechts erst zum Ende des 19. Jahrhunderts, Anfang des 20. Jahrhunderts wirklich dominant geworden, zumindest in Deutschland. Seit der Gründung der Sozialistischen Fraueninternationale 1907, von der auch Resolutionen in der Anthologie abgedruckt sind, haben sie sich sehr schnell das Frauenstimmrecht als Kampagnenthema auf die Fahne geschrieben. 1910 riefen sie in Kopenhagen den Internationalen Frauentag ins Leben, bei dem sie aktiv auf der Straße für das Frauenwahlrecht kämpften. Dieser internationale Frauentag ist auch ein schönes Beispiel für die internationalen Verflechtungen der Frauenbewegung. Es ist bekannt, dass dieser von Clara Zetkin und anderen deutschen Genossinnen initiiert wurde, aber die Idee kam ursprünglich von US-amerikanischen Sozialistinnen, die schon seit ein paar Jahren einen jährlichen Nationalen Frauentag in den USA organisierten. Daran erkennt man ganz gut den transnationalen Ideentransfer, der dort stattgefunden hat. Also Ideen zirkulierten, man tauschte sich aus, man versuchte Sachen zu adaptieren, probierte sie aus und guckte, ob das funktionierte. Und wenn noch etwas ganz Konkretes von diesem Erbe erhalten geblieben ist, dann ist es auf jeden Fall der internationale Frauentag.
Warum aber ist der Rest dieser feministischen Tradition heute eher verloren gegangen? Also wir erleben ja gerade auch eine Art Rückbesinnung auf die alte Linke und die klassische Arbeiterbewegung, aber nicht unbedingt in ähnlicher Weise eine Wiederbelebung des proletarischen Feminismus. Oder doch?
In Deutschland existiert meines Erachtens schon seit einigen Jahren ein gewisses Wiederbeleben einer materialistischen Traditionslinie des Feminismus, die aber sicherlich keine Massenbewegung wie zur Zeit der Jahrhundertwende darstellt. Das Problem hat aber in der Gegenwart nicht nur der Feminismus in Deutschland, sondern im Grunde alle sozialen Bewegungen.
Aus einer globalen Perspektive betrachtet liegt das Zentrum der Feministischen Internationale heute auch einfach woanders. In Südamerika gehen Hunderttausende zum Beispiel in Argentinien, in Chile, in Mexiko auf die Straße, um für das Recht auf Abtreibung und gegen Feminizide zu kämpfen. Sie treten sehr kämpferisch auf und bilden breite Bündnisse. Das ist unglaublich inspirierend. Ich muss bei der Frage aber auch an das Manifest Feminismus der 99 % denken, in dem Cinzia Arruzza, Tithi Bhattacharya und Nancy Fraser an die Traditionslinie des proletarischen Feminismus anknüpfen und diese stärken wollen. Es gibt insofern durchaus Grund zur Hoffnung.
Wie können heutige feministische Bewegung von frühen Kämpfen und Erfolgen der Feministinnen profitieren?
Was man lernen kann, ist, dass es sich lohnt, auch in dunkleren Zeiten den Mut zu behalten. Dass man auch in diesen Zeiten daran arbeiten muss, Bündnisse aufzubauen und Konflikte innerhalb der Bewegung solidarisch auszutragen. Und was uns diese Aktivistinnen auf jeden Fall mitgeben, ist, dass es notwendig ist, einen langen Atem zu haben, um Ziele zu erreichen.
Vincent Streichhahn ist Politikwissenschaftler und wurde mit einer Arbeit zur »Frauenfrage« in der frühen deutschen Arbeiter- und proletarischen Frauenbewegung (1863-1889) promoviert.