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27. Mai 2025

Kapitalistischer »Fortschritt« führt in die Katastrophe

Die Fortschrittsskepsis von Denkern wie Walter Benjamin endet in einer Sackgasse, argumentiert Samuel Farber in der aktuellen Ausgabe von Jacobin. Michael Löwy widerspricht: Der kapitalistische Fortschrittsbegriff bedroht das menschliche Überleben. Eine Replik.

Denkern wie Walter Benjamin wirft Samuel Farber vor, sich in Reaktion auf die Niederlage des Marxismus von der Politik distanziert und der Philosophie zugewandt zu haben.

Denkern wie Walter Benjamin wirft Samuel Farber vor, sich in Reaktion auf die Niederlage des Marxismus von der Politik distanziert und der Philosophie zugewandt zu haben.

IMAGO / Bridgeman Images

Samuel Farbers Artikel mit dem Titel »Verteidigung des Fortschritts« ist sehr vernünftig und sachlich. Wir stimmen in vielen Punkten überein, einige wichtige Dinge sehe ich aber anders. Ich möchte im Folgenden versuchen, diese kurz darzulegen.

Ist Walter Benjamin – wie andere westliche Marxisten auch – wirklich ein Denker, der sich »von Politik und Wirtschaft fernhalten« wollte, wie Farber meint? Benjamin kann viel Kritik entgegengebracht werden, aber ich habe Schwierigkeiten, den politischen Charakter seiner Schriften abzustreiten. Es stimmt zwar, dass er keiner politischen Partei angehörte, aber das bedeutet nicht, dass er sich von der Politik fernhielt. Karl Marx gehörte in den Jahren, in denen er Das Kapital schrieb, ebenfalls keiner Partei an. Bedeutet das, dass er zu dieser Zeit kein politischer Denker war?

Nach Farber stellte sich Benjamin Revolution als »ein plötzliches, kataklysmisches, messianisches Ereignis vor, mit dem die Notbremse an den ›Lokomotiven der Weltgeschichte‹ gezogen würde – was eher das Ziel habe, erneute Katastrophen zu verhindern, als eine bessere Zukunft zu eröffnen«. Benjamins Idee ist jedoch von einer dialektischen Vision geprägt, die beide Aspekte vereint: das Verhindern von Katastrophen – ein Produkt des historischen Fortschritts unter den herrschenden Klassen – und die Eröffnung neuer Zukunftsperspektiven.

So verweist Benjamin in einem Nachtrag zu einer seiner Thesen aus Über den Begriff der Geschichte auf die Verwirklichung einer klassenlosen Gesellschaft (die »neue Zukunft« im Marxismus) als Ziel der Revolution. Doch er sieht diese nicht als das Ergebnis von Fortschritt. Für ihn ist die klassenlose Gesellschaft nicht als Endpunkt der historischen Entwicklung zu verstehen, sondern als deren Unterbrechung.

Revolutionäre Romantik

Farber zitiert aus unserem Buch: »Der Philosoph Michael Löwy und der Literaturwissenschaftler Robert Sayre haben in ihrer Studie Le romanticisme à contre-courant de la modernité (zu Deutsch in etwa »Romantizismus gegen den Sog der Moderne«) verschiedene Strömungen dieser linken Romantik ausgemacht. Der ›Neue Rousseauismus‹ betrachte beispielsweise die Anfänge der Menschheitsgeschichte als ein idealisiertes goldenes Zeitalter.«

Für uns jedoch macht es den revolutionären Romantizismus – und das gilt auch für Jean-Jacques Rousseau – aus, dass keine Rückkehr in die Vergangenheit (in ein vermeintlich »goldenes Zeitalter«) gefordert wird, sondern ein Umweg über die Vergangenheit hin zu einer utopischen Zukunft. Rousseau bewunderte die indigenen karibischen Völker, aber er schlug nicht vor, wie sie zu leben. Vielmehr träumte er von einer neuen, demokratischen Gesellschaft, in der die frühere Freiheit und Gleichheit der Menschheit in neuer Form wiederaufleben sollte.

»Der erste Schritt in Richtung Freiheit ist die Verkürzung des Arbeitstages und die Schaffung von freier Zeit, die den Menschen zur Selbstentfaltung befähigt.«

Das Gleiche gilt für Ernst Bloch: Farber erwähnt dessen Faszination für das Mittelalter. Aber Bloch war vielmehr ein großer utopischer Philosoph. Er bezog sich auf die Vergangenheit, um den kapitalistischen »Fortschritt« zu kritisieren, nicht um eine Rückkehr zum Mittelalter zu befürworten! Sein Ziel war eine zukünftige, kommunistische Gesellschaft im marxistischen Sinne. Farbers Darstellung von E. P. Thompson erscheint mir indes weitaus zutreffender: Es geht nicht um die Wiederherstellung einer verlorenen Gemeinschaft, sondern um die Schaffung einer neuen, die mit der rücksichtslos antisozialen Logik des Kapitalismus bricht.

Laut Farber ist Ferdinand Tönnies der einflussreichste Autor, mit dem wir uns in unserem Buch befassen. Doch Tönnies ist – wie wir schreiben und Farber ebenfalls anmerkt – ein »resignierter romantischer Denker« und gehört als solcher nicht in die revolutionär-romantische Tradition.

Ökologie und Wirtschaftswachstum

Einem anderen Argument von Farber stimme ich voll und ganz zu: Wir müssen der »politischen Ökonomie des Kapitalismus eine alternative politische Ökonomie entgegensetzen« – mit einer demokratischen Planung, die Produktionsprioritäten festlegt. Doch ich glaube nicht an die Möglichkeit eines Wirtschaftswachstums, das nicht ökologisch schädlich ist.

Meiner Meinung nach unterschätzt Farber die Schwere der ökologischen Krise: Der kapitalistische »Fortschritt« mit seiner Logik des unbegrenzten Wachstums führt uns in eine in der Geschichte der Menschheit beispiellose Katastrophe: den Klimawandel. Dieser bedroht das Überleben der Menschheit. Wenn wir ein solches Schicksal vermeiden wollen, müssen wir unseren Energieverbrauch und unsere Materialproduktion reduzieren, angefangen bei nutzlosen und überflüssigen Gütern, die den Großteil der kapitalistischen Produktion ausmachen.

Sicherlich wird es in einem alternativen Zivilisationsmodell, das wir Ökosozialismus nennen, notwendig sein, die grundlegenden sozialen Bedürfnisse der Menschheit zu befriedigen. Aber wie Marx dargelegt hat, ist der erste Schritt in Richtung Freiheit die Verkürzung des Arbeitstages und die Schaffung von freier Zeit, die den Menschen zur Selbstentfaltung befähigt.


Michael Löwy ist emeritierter Forschungsleiter am National Center for Scientific Research.