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07. Mai 2025

Politik der schwindenden Mehrheiten

Merz’ chaotischer Start entlarvt, wie fragil die schwarz-rote Regierungskoalition ist. Ihr verzweifelter Versuch, nach dem Ampel-Chaos Stabilität zu vermitteln, bedeutet im Klartext: Geschenke an die Unternehmen, Kürzungen für den Rest.

Kanzler Merz alleine auf der Regierungsbank, 6. Mai 2025.

Kanzler Merz alleine auf der Regierungsbank, 6. Mai 2025.

IMAGO / Emmanuele Contini

Die neue schwarz-rote Koalition von Friedrich Merz wollte nach dem Ampel-Chaos Stabilität liefern und nach Jahren des Streits wieder Geschlossenheit und staatstragende Verantwortung signalisieren. Sie hat es nun noch nicht einmal geschafft, Merz im ersten Wahlgang zum Kanzler zu wählen – ein historisches Novum. Deutschland schlittert von einer instabilen Regierung in die nächste. Wer innerhalb der Union und SPD nicht für Merz gestimmt hat, wer die Abweichler sind, ob es Kalkül oder Zufall war, darüber kann nur spekuliert werden. Dass das Wahldebakel das Produkt von Spannungen innerhalb der eigenen Reihen ist, ist allerdings durchaus plausibel und könnte darauf hindeuten, dass sowohl Kanzler Merz als auch sein Vize Klingbeil nicht imstande sind, ihre eigenen Reihen zu schließen.

Beide haben sich bis zuletzt nicht nur Freunde gemacht: Bei Merz’ Manager-Kabinett ging der Sozialflügel der Union – die christlich-soziale CDA – komplett leer aus und auch Klingbeil hat mit seinem Personaltableau zwar einen »Generationenwechsel« nach der Ära Scholz versprochen, aber sich selbst davon ausgespart und die Macht an sich gerissen. Vom linken Flügel der Sozialdemokratie ist niemand vertreten. Einzig Matthias Miersch wird noch als Linker gehandelt, hat sich in seiner Karriere aber eher als allglatter Pragmatiker denn als leidenschaftlicher Sozialdemokrat hervorgetan.

Die einst großen Volksparteien SPD und Union haben empfindlich an politischem Einfluss verloren. Die schwarz-rote Regierungskoalition, einst ein wuchtiger Machtblock, ist zur Miniatur geschrumpft. So klein wie jetzt war eine »Große Koalition« noch nie. Der Stabilitätskurs der Merkel-Ära wurde von breiter parlamentarischer Rückendeckung getragen. Merz hingegen agiert im Schatten schwindender Mehrheiten.

Das hat Merz bereits direkt nach der Wahl zu dem demokratisch zweifelhaften Hauruck-Manöver verleitet, noch im alten Bundestag sein Finanzpaket mit der Brechstange durchzudrücken, da die zentristischen Parteien inzwischen nicht mehr über die nötige Zweidrittelmehrheit verfügen. Auch Merz’ gestrige Wahlflaute kann als Symptom der schwindenden Machtbasis des politischen Zentrums gedeutet werden. Wie fragil dieses schwarz-rote Regierungsbündnis tatsächlich ist, scheinen die Regierenden selbst erst so langsam zu begreifen.

»Es ist eine Regierung ohne Rückhalt in einer Gesellschaft ohne Zuversicht.«

Doch Merz fehlt nicht nur das Vertrauen seiner eigenen Leute, auch die Mehrheit der Bevölkerung begegnet ihm mit Skepsis: Laut dem jüngsten ZDF-Politbarometer halten ihn nur 38 Prozent der Bevölkerung für einen geeigneten Kanzler. Es stimmt, dass Merz als Ex-Finanzlobbyist mit kulturkämpferischem Zungenschlag notorisch unbeliebt ist. Aber die Ablehnung reicht tiefer – sie ist Ausdruck einer Erosion des politischen Vertrauens. Hätten wir in Deutschland letzten Sonntag gewählt, hätte diese Koalition keine Mehrheit. Weniger als die Hälfte der Befragten glauben, dass Schwarz-Rot einen Beitrag zur Lösung der drängendsten Probleme des Landes leisten wird. Es ist eine Regierung ohne Rückhalt in einer Gesellschaft ohne Zuversicht.

Laut jüngsten Befragungen wünscht sich die Bevölkerung vor allem Fortschritte in den Kernbereichen Wirtschaft und Soziales – also dort, wo Politik konkret wirken und Lebensrealitäten verbessern kann. Migration und Asyl rangieren mit weitem Abstand erst auf Platz drei der Prioritätenliste. Doch der Koalitionsvertrag lässt erahnen, dass die kommende Regierung genau dort scheitern wird, wo sie liefern müsste und an den Prioritäten der breiten Bevölkerung vorbeiregieren wird.

Geschenke für die Unternehmen, Austerität für die Bevölkerung

In der Presse wird immer wieder herbeigeredet, die SPD habe trotz schlechtem Wahlergebnis beachtliche Verhandlungserfolge verbuchen können – dabei trägt der Koalitionsvertrag ganz klar die Handschrift der Konservativen. Klingbeil ist es zwar gelungen, ganze sieben Ministerien für die SPD herauszuholen, die das schlechteste Wahlergebnis ihrer langen Geschichte verbucht hat. Das ist aber in erster Linie eine gute Nachricht für Sozialdemokraten, die gerne einmal Minister werden wollen. Die breite Bevölkerung hat herzlich wenig davon, wenn von diesen Posten aus keine nennenswerten sozialdemokratischen Vorhaben umgesetzt werden. Und letztere finden sich im Koalitionsvertrag der kommenden Regierung kaum.

Denn während man für die Unternehmen Steuergeschenke plant und mit dem Abbau von Regulierungen – wie etwa dem Lieferkettengesetz – Arbeits- und Umweltstandards aufweichen will, soll es Entlastungen für mittlere und kleine Einkommen nur unter Vorbehalt geben. Ob und wann die Anhebung des Mindestlohns auf 15 Euro kommen soll, ist ebenso unklar. Die Ausweitung der wöchentlichen Höchstarbeitszeit hat einen Angriff auf den 8-Stunden-Tag eröffnet.

Und für diejenigen, die am wenigsten haben, werden mit der Neuen Grundsicherung Sanktionen geplant, die so hart ausfallen sollen, dass sie vermutlich verfassungswidrig sein werden. Gleichzeitig wird der »Vermittlungsvorrang« priorisiert, was nichts anderes bedeutet, als dass man die Menschen dazu drängt, jeden Job anzunehmen, egal wie prekär er auch sein mag. Es lässt sich unschwer erkennen, dass diese Regierung eindeutig eine Schlagseite zugunsten von Unternehmerinteressen hat. Wer darin einen großen sozialdemokratischen Verhandlungserfolg sehen will, braucht viel Fantasie.

»Es lässt sich unschwer erkennen, dass diese Regierung eindeutig eine Schlagseite zugunsten von Unternehmerinteressen hat. Wer darin einen großen sozialdemokratischen Verhandlungserfolg sehen will, braucht viel Fantasie.«

Der tatsächliche Coup ist den Konservativen gelungen, bevor überhaupt über den Koalitionsvertrag verhandelt wurde – und zwar mit der gezielten Lockerung der Schuldenbremse ausschließlich für die Aufrüstung. Zuvor war die Schuldenbremse das zentrale Argument gegen soziale Investitionen: Man habe kein Geld für Soziales übrig, denn alle möglichen Herausforderungen müssten nunmal aus dem begrenzten Haushalt finanziert werden. Jetzt, da sie selektiv für militärische Zwecke gelockert wurde, wird der Spieß umgedreht: Gerade weil Schulden für die Rüstung gemacht werden, müsse man beim Sozialen umso mehr sparen. Unterm Strich bleibt es beim bekannten Befund: Für Soziales ist angeblich nie Geld da.

Die Konsequenz ist: Für die Rüstungsindustrie ist die Austerität vorbei, für die breite Bevölkerung wird sie noch verschärft. Thorsten Frei, einer der Chefverhandler der Union und jetzt Chef des Kanzleramts, hat bereits harte Einschnitte im Sozialsystem angekündigt: »Gesundheit, Pflege und Rente, das sind die großen Herausforderungen. Da werden auch unangenehme Entscheidungen getroffen werden müssen.«

Mit dem Deal, den die Union durchgesetzt hat, wird also genau das fortgeführt, was schon immer die Grundfunktion der Schuldenbremse war: die politische Neutralisierung der Verteilungsfrage. Man konnte mit dem Verweis auf die Schuldenbremse jede Investitionen, die nicht Kapitalinteressen diente – etwa in Bildung und sozialen Wohnungsbau, in den Ausbau der sozialen Sicherungssysteme oder in die Dekarbonisierung der Industrie und den Klimaschutz – abwürgen, indem man sagte, sie seien schlichtweg nicht finanzierbar.

»Mit dem Deal, den die Union durchgesetzt hat, wird also genau das fortgeführt, was schon immer die Grundfunktion der Schuldenbremse war: die politische Neutralisierung der Verteilungsfrage.«

Genau diese Logik hat Merz zementiert. Das ist der eigentliche Verhandlungserfolg – und den hat die Union für sich verbucht, während die SPD die historische Chance, die Schuldenbremse zu reformieren, ohne Not verspielt hat. Das Investitionspaket für die Infrastruktur von 500 Milliarden, von dem dieser Deal flankiert wurde, ist zwar besser als nichts. Nur: Wenn die Investitionsbedarfe in den nächsten Jahren steigen sollten, wird man jede weitere Investition der Union abringen müssen.

Die Hoffnung, dass dieses Finanzpaket die Wirtschaft deutlich anschiebt, sollte man ebenso nicht zu hoch hängen. Die jüngsten Prognosen des Deutschen Instituts für Wirtschaftsforschung (DIW) sehen für das Jahr 2025 ein weiteres Jahr der Stagnation und für 2026 ein eher mageres Wachstum von 1,1 Prozent voraus.

Konjunkturprogramm für die AfD

Von der neuen Regierung wird nicht nur wirtschaftliche Erneuerung erwartet, sondern auch, dass sie der AfD Einhalt gebietet. Union und SPD inszenieren sich als Bollwerk gegen die extreme Rechte. Besonders Merz und Linnemann wurden lange als eine Art Geheimwaffe gegen die AfD gehandelt. Ihr extrem kurzsichtiges kalkuliertes Zündeln am rechten Rand – in der Hoffnung, das Wählerpotenzial der AfD zu absorbieren und die AfD so zu schwächen – ist nach hinten losgegangen. Anstatt die AfD zu disziplinieren, haben Merz und Co. ihre Forderungen selbst popularisiert. Die Geister, die sie riefen, können sie nun nicht mehr bannen. Sie werden selbst von einer Empörung getrieben, die sie zuvor entfacht haben.

Das zeigt sich besonders in den angekündigten Verschärfungen in der Migrationspolitik, die massiv sind: Die Einbürgerung soll erschwert, Geflüchteten aus der Ukraine das Bürgergeld gestrichen werden. Abschiebungen – auch nach Syrien und Afghanistan – sollen zunehmen. Es soll Zurückweisungen direkt an den Außengrenzen geben und der Familiennachzug für zwei Jahre ausgesetzt werden. Straffällige ohne deutschen Pass sollen schneller ausgewiesen werden und die Grenzkontrollen bestehen bleiben. Was da geplant ist, entspricht in weiten Teilen dem, was die AfD seit Jahren propagiert. Ob gewollt oder nicht, wird damit der Forderung nach einer Zusammenarbeit mit der AfD entsprochen, insofern die Positionen der beiden Parteien immer kohärenter werden.

»Austerität begrenzt nicht nur die Handlungsmöglichkeiten der Menschen, sondern verengt auch die politische Erwartungshaltung. Ein Widerstand, der gar nicht erst entsteht, muss nicht bekämpft werden.«

Der parlamentarische Geschäftsführer der AfD Bernd Baumann richtete sich gestern nach Merz’ Wahlschlappe dann auch direkt an die Union. Er hoffe, die Abweichler, die Merz ihr Vertrauen versagten, seien »kluge Stimmen«, die lediglich wollten, dass die CDU wieder auf einen »vernünftigen Kurs« käme – und erinnerte die CDU daran, dass sie gemeinsam mit der AfD eine stabilere Mehrheit hätte und sämtliche ihrer Wahlversprechen einlösen könnte. Die Hand der extremen Rechten in Richtung Union bleibe ausgestreckt. Dass Baumann die Union so von rechts unter Druck setzen kann, hat sich Merz selbst eingebrockt, weil er es zulässt, dass die AfD schon jetzt die Politik massiv beeinflusst, ohne überhaupt an irgendeiner Regierung beteiligt zu sein.

Die geplante Politik dieser schwarz-roten Koalition wird die bereits schwelenden Verteilungskämpfe, die durch wirtschaftliche Stagnation, Reallohnverluste und düstere Zukunftsperspektiven angeheizt werden, nicht abmildern, sondern eher noch verschärfen. Zwar sind massive Investitionen vorgesehen, doch diese zielen nicht darauf ab, die breite Bevölkerung ökonomisch zu ermächtigen. Im Gegenteil: Merz hat bereits verkündet, dass die Zeiten des »Paradieses« vorbei seien.

Austerität als »Sparpolitik« zu bezeichnen, ist angesichts dieser politischen Gesamtlage eine Untertreibung. Denn diese Politik bedeutet nicht nur Einsparungen – sie ist ein Instrument der politischen Disziplinierung. Indem man Ressourcen immer mehr verknappt, zwingt man die breite Mehrheit dazu, ihre gesamte Energie darauf zu verwenden, wirtschaftlich über die Runden zu kommen und den eigenen sozialen Abstieg zu verhindern. Politische Ansprüche entstehen jedoch häufig dann, wenn sich die Lebensbedingungen verbessern. Wer erlebt hat, dass Fortschritt möglich ist, lässt sich nicht mehr so leicht abspeisen.

Genau das aber soll Austerität verhindern: Sie begrenzt nicht nur die Handlungsmöglichkeiten der Menschen, sondern verengt auch die politische Vorstellungskraft und Erwartungshaltung. Ein Widerstand, der gar nicht erst entsteht, muss nicht bekämpft werden – das ist der stille Vorteil dieser Politik, mit der sich das politische Zentrum, das immer mehr an Rückhalt verliert, verzweifelt versucht, an der Macht zu halten.

Die einzige im Bundestag vertretene Kraft, die eine Wirtschafts- und Sozialpolitik einfordert, die sich wirklich grundlegend von der Politik der Regierenden unterscheidet, ist damit die Linke. In den kommenden vier Jahren wird es für sie entscheidend sein, dieses Potenzial als einzige wirkliche Opposition für sich zu nutzen – lautstarker und entschlossener als bisher.

Astrid Zimmermann ist Managing Editor bei JACOBIN.