18. September 2025
Heute vor 64 Jahren kam der UN-Generalsekretär Dag Hammarskjöld ums Leben. Oft zu einer spirituellen Figur verklärt, war er in Wahrheit ein ernsthafter Streiter für eine gerechtere Weltordnung, dessen Scheitern das Problem der Vereinten Nationen offenlegt.
Heute ist nicht mehr davon auszugehen, dass Dag Hammarskjöld bei einem Unfall ums Leben kam.
Am 18. September 1961 starb der zweite UN-Generalsekretär Dag Hammarskjöld bei einem Flugzeugabsturz auf dem Weg in die abtrünnige Provinz Katanga in der heutigen Demokratischen Republik Kongo. Beiträge zu seinem Todestag setzen meistens einen starken Fokus auf seine spirituelle Seite. Dazu werden in der Regel inspirierend klingende Passagen aus seinem bekanntesten Werk, dem postum erschienenen Tagebuch Zeichen am Weg zitiert.
Mit Verweisen auf Einflüsse mystischer Theologen wie Meister Eckhart wird holzschnittartig auf die wichtigsten politischen Ereignisse von Hammarskjölds Amtszeit (1953–61) eingegangen: die Suez-Krise, die Kongo-Krise, der Konflikt mit der Sowjetunion, die Ermordung von Patrice Lumumba und schließlich der »mysteriöse« Tod Hammarskjölds selbst.
Das komponierte Bild eines tiefgläubigen und sich in seinem Tagebuch in geheimnisvoller Weise mitteilenden schwedischen Diplomaten ist bequem, besonders wenn man sich nicht mit den imperialistischen Dynamiken der Vereinten Nationen und den damit einhergehenden Widersprüchen seines Amtes auseinandersetzen möchte. Vorteilhaft ist die Verneblung seiner Person auch, um seinen Tod als eine mysteriöse Kontinuität seines Lebens darzustellen und sich der Benennung von Verantwortungen und Tätern entziehen zu können.
Nachdem sich der Kongo 1960 die Unabhängigkeit erkämpft hattee und der linksgerichtete Patrice Lumumba zum Premierminister gewählt worden war, versuchten mächtige Kreise in Brüssel, Paris, London, Pretoria und Washington ihren imperialen Klammergriff aufrechtzuerhalten. Kurz nach der Wahl Lumumbas spaltete sich die von den Westmächten kontrollierte, aufgerüstete und vom belgischen Bergbaukonzern Union Minière finanzierte Region Katanga vom Kongo ab. Katangas Uran, das schon bei den Atombombenabwürfen auf Hiroshima und Nagasaki zum Einsatz kam, war für das Funktionieren der westlichen Ökonomien und für die westliche Abschreckung essenziell.
Auf Bitte Lumumbas richtete der UN-Sicherheitsrat mit der Resolution 143 die United Nations in the Congo (ONUC) ein. Eine massive UN-Truppe sollte die Souveränität des Kongo schützen sowie dafür sorgen, dass die immer noch im Kongo stationierten belgischen Soldaten abgezogen wurden. Dabei wurde es den UN-Truppen jedoch strikt untersagt, die westliche Proxy-Provinz Katanga militärisch unter Druck zu setzen oder gar bei ihrer Rückeroberung zu helfen.
Dass dies eine unvorteilhafte Situation für den Kongo darstellte, bemerkte Patrice Lumumba recht schnell. Denn während er Hammarskjöld aufforderte, sich mit der militärischen Stärke der UN vehementer zu engagieren und dieser mit Verweis auf das massive Versagen eines solchen UN-Kriegs in Korea (1950–53) ablehnte, wurde Katanga weiterhin massiv von Belgien und anderen Weststaaten aufgerüstet.
»Der UN-Generalsekretär war nicht in der Lage, Patrice Lumumba zu schützen.«
Die Sowjetunion sah hierin eine Defacto-Unterstützung kolonialer Kontinuitäten durch den UN-Generalsekretär und forderte den Rücktritt Hammarskjölds sowie die Abschaffung des Postens des UN-Generalsekretärs in seiner bis heute existierenden Form. Stattdessen sollte das Amt von einer aus drei Mitgliedern bestehenden Troika ausgeführt werden: Einer Person aus dem Westen, einer Person aus dem Ostblock und einer Person aus den blockfreien Staaten. Auch weil durch den sowjetischen Vorschlag eine Blockadesituation im UN-Generalsekretariat entstanden wäre, wie man sie vom UN-Sicherheitsrat kennt, wurde er mit großer Mehrheit abgelehnt.
Wenngleich die Sowjetunion mit ihrer Initiative scheiterte, sollten sich ihre Befürchtungen bewahrheiten: Der UN-Generalsekretär war nicht in der Lage, Patrice Lumumba zu schützen. Weniger als sechs Monate nach der UN-Generalversammlung wurde Patrice Lumumba unter Beihilfe von westlichen Geheimdiensten von belgischen Söldnern gefoltert, ermordet und seine Leiche anschließend in Säure aufgelöst.
»Wir haben den Bemühungen aller Seiten, den Kongo zu einem Jagdrevier für nationale Interessen zu machen, wirksam entgegengewirkt«, hatte Hammarskjöld bei jener Generalversammlung noch stolz verkündet. Auch wenn Hammarskjöld positiv anzurechnen ist, dass er es schaffte, einen großen Krieg zu verhindern, und er bereit war, dafür riskante diplomatische Manöver durchzuführen, die ihn am Ende sein Leben kosten sollten, scheiterte er damit letztendlich.
Unter Mobutu, dem neuen Diktator des Kongos, diente das Land als Schaltstelle der CIA und anderer westlicher Geheimdienste. Aus dem Kongo heraus konnten sie nun ihre Operationen in Afrika, vor allem in Angola, koordinieren.
Auch weil Hammarskjöld ebenfalls einige Monate später starb und der massive Vertrauensverlust durch Lumumbas Tod, der vor allem im Globalen Süden entstanden war, nicht genug Zeit hatte, in Wut umzuschlagen, wird dem Streit zwischen Lumumba und Hammarskjöld bis heute wenig Beachtung geschenkt. Der Vorstellung, dass aus der UN eine kämpferische, die Macht der Herrschenden nicht nur verwaltende, sondern auch bekämpfende Organisation hätte werden können, wurde spätestens hier eine Absage erteilt.
Dag Hammarskjöld wurde 1905 in das schwedische Bürgertum hineingeboren. Sein Vater Hjalmar Hammarskjöld war von 1914 bis 1917 Ministerpräsident und regierte das neutrale Schweden durch die durch Versorgungsengpässe geprägte Zeit des Ersten Weltkriegs. Als konservativer Politiker und marktliberaler Ökonom, der arme Menschen verachtete und ihnen das Wahlrecht vorenthalten wollte, weil sie »unordentlich und unehrlich« seien, scheiterte Hjalmar Hammarskjöld bei dem Versuch, die Versorgung Schwedens bei gleichzeitiger Neutralität zu sichern.
Hungersnöte brachen in den großen Städten Schwedens aus und Hammarskjöld, gezeichnet mit dem Spitznamen »Hungerskjöld«, trat zurück. Die Fähigkeiten, ökonomische Ungleichheiten zu analysieren, erlernte der spätere UN-Generalsekretär jedenfalls nicht von seinem marktliberalen, autoritären Vater.
Als promovierter Ökonom nahm der junge Hammarskjöld als Beobachter an den Verhandlungen von Bretton Woods Teil und festigte dort sein im Studium erworbenes keynsianisch-sozialdemokratisches Verständnis von Wirtschaft. In seiner Zeit als Staatssekretär im schwedischen Finanzministerium arbeitete er an der Grundsteinlegung für die Wirtschafts- und Sozialpolitik des Ministerpräsidenten Olof Palme, die später als Fast-Erreichen des Sozialismus beschrieben werden sollte.
»Im Gegensatz zu den meisten Staatsmännern des Globalen Nordens meinte Hammarskjöld seine Worte zur vollständigen Unabhängigkeit der Kolonien ernst.«
Hammarskjöld war weder ein Revolutionär noch ein Sozialist. Doch er stritt für eine ökonomische Ordnung, in der sich der Globale Süden aus der Rolle kolonialer Ausbeutung emanzipieren können sollte. Das zeigt sich besonders in seinem Verhältnis zum Economic and Social Council (ECOSOC) – einem der sechs Hauptorgane der Vereinten Nationen.
Nicht nur, weil seine Schwesterorgane, unter anderem der Sicherheitsrat, die Generalversammlung oder der Internationale Gerichtshof (IGH) den ECOSOC in ihrer medialen Präsenz in den Schatten stellen, ist das Forum weniger bekannt. Das Organ ist auch deshalb marginalisiert worden, weil es die einzige Einrichtung ist, dessen Ziel es ist, die sozialen und ökonomischen Ursachen von Konflikten anzugehen.
Mit dieser Zielsetzung hätte der ECOSOC tatsächlich die Möglichkeit, nicht nur oberflächliche Konfliktbekämpfung zu betreiben, bei der man schlecht ausgerüstete Blauhelmsoldaten in Kriegsgebiete schickt. Stattdessen könnte das Gremium sich mit neoimperialistischen ökonomischen Ausbeutungsverhältnissen auseinandersetzen und damit einen großen Teil globaler Konfliktursachen effektiver bekämpfen, als der UN-Sicherheitsrat es je könnte.
Hammarskjöld erkannte dies und war sich darüber bewusst, dass territoriale Integrität allein den zu seiner Amtszeit unabhängig werdenden Ländern nicht zur Souveränität verhelfen würde. Von essenzieller Relevanz für echte Souveränität und Emanzipation war damals wie heute insbesondere die Überwindung des Ausbeutungsverhaltens durch den Globalen Norden.
Während der Bandung-Konferenz von 1955, in der 29 gerade unabhängig gewordene oder nach Unabhängigkeit strebende Länder den Antikolonialismus als ihr gemeinsames Interesse definierten und damit den Grundstein für die spätere Bewegung der blockfreien Staaten legten, stand der damals noch stellvertretende UN-Generalsekretär Hammarskjöld in ständigen Kontakt mit Konferenzteilnehmern wie Gamal Abdel Nasser aus Ägypten und Sukarno aus Indonesien.
Dass Hammarskjöld seine Worte zur vollständigen Unabhängigkeit der Kolonien im Gegensatz zu den meisten Staatsmännern des Globalen Nordens ernst meinte, machte er ein Jahr später als gerade frisch ernannter UN-Generalsekretär in der Suez-Krise deutlich. Als Gamel Abdel Nasser den bis dahin von Frankreich und Großbritannien kontrollierten Suez-Kanal verstaatlichte, griffen britische, französische und israelische Truppen Ägypten an.
Den Versuch der Aufrechterhaltung von imperialistischen ökonomischen Interessen unterband Hammarskjöld durch geschicktes Handeln im UN-Sicherheitsrat innerhalb weniger Monate. Nicht nur gelang es ihm, mit der Einrichtung der ersten UN-Peacekeeping-Mission einen großen Krieg zu verhindern, er verteidigte auch die territoriale und ökonomische Souveränität Ägyptens.
»Ein kurzer Blick auf den heutigen Zustand der Vereinten Nationen zeigt, dass sie nicht in der Lage sind, Initiativen zu ergreifen, und sich stattdessen auf moralische Appelle beschränken.«
Dass dem ECOSOC, den Hammarskjöld als gleichrangig mit dem UN-Sicherheitsrat verstand, heute wenig Beachtung geschenkt wird, hat auch damit zu tun, dass unter seinen Nachfolgern immer mehr Kompetenzen von ECOSOC an die Weltbank und den Internationalen Währungsfonds (IWF) übertragen wurden. Diese beiden Institutionen wurden im Kalten Krieg wiederum oftmals genutzt, um Interessen des Globalen Nordens, vor allem der USA, Vorschub zu leisten.
Im Kontext der imperialen Bestrebungen des Globalen Nordens in den gerade formal unabhängig gewordenen Staaten ist auch der Tod Dag Hammarskjölds zu verstehen. Der UN-Generalsekretär stürzte 1961 mit seinem Flugzeug ab, als er versuchte, mit der durch den Westen aufgerüsteten Provinz Katanga zu verhandeln. Von einem Unfall kann nach Sichtung der Quellen und Indizien heute nicht mehr ausgegangen werden.
Nachdem es schon immer berechtigte Zweifel daran gab, dass das Flugzeug des UN-Generalsekretärs durch einen Pilotenfehler abstürzte, sorgte die britische Historikerin Susan Williams mit ihrem Buch Who killed Hammarskjöld? 2011 für eine Reihe von neuen UN-Untersuchungen. Williams legt eine Beteiligung des britischen Geheimdienstes MI6 und der amerikanischen CIA nahe.
Die neuen Untersuchungen, geleitet vom ehemaligen obersten Richter von Tansania, Mohamed Chande Othman, kommen zu dem Schluss, dass ein Abschuss von Hammarskjölds Flugzeug plausibel ist. Vollständig beendet werden konnten die Untersuchungen allerdings nicht. Trotz einer erneuten Bitte des UN-Generalsekretärs Ban Ki-Moon im Jahre 2016 weigern sich Belgien, Großbritannien und die USA, Akten freizugeben, die den Tod Hammarskjölds final aufklären könnten.
Hammarskjöld beschrieb das Amt des UN-Generalsekretärs einst als das eines »säkularen Papstes«: Eine Instanz, die Missstände anprangert, Ungerechtigkeiten benennt und das eigene Handeln auf diplomatische Initiativen beschränkt. Ironischerweise kritisierte das letzte Oberhaupt der katholischen Kirche, Papst Franziskus, die bestehenden Ungleichheiten und die Ausbeutung von Mensch und Natur durch den Kapitalismus so vehement wie kein UN-Generalsekretär. Was sagt es aus über eine Organisation, die laut Hammarskjöld als »ein Ausdruck unseres Willens, eine Synthese zwischen der Nation und der Welt zu finden« zu verstehen ist, wenn sie in der Analyse globaler Ungleichheiten von der katholischen Kirche links überholt wird?
»Der Fall von Gaza zeigt, wie ineffektiv UN-Ämter sind, wenn ihre Vorhaben sich nicht mit den Interessen der mächtigsten Staaten überschneiden.«
Ein kurzer Blick auf den heutigen Zustand der Vereinten Nationen zeigt, dass die Staatengemeinschaft und ihr Generalsekretär nicht in der Lage sind, Initiativen zu ergreifen, und sich stattdessen auf moralische Appelle beschränken. Weder bei den israelischen Verbrechen in Gaza, noch bei den Gräueltaten der RSF im Sudan gibt es mutige Maßnahmen.
Die UN-Sonderkoordinatorin für den Nahost-Friedensprozess Sigrid Kaag trat im August 2025 zurück, weil sie im Zuge der durch Israel ausgelösten Hungersnot im Gazastreifen mangelnde Unterstützung durch die Mitgliedsstaaten beklagte. Das zeigt nicht nur, wie wenig Interesse an der Verhinderung der Katastrophe im Gazastreifen bis heute besteht, sondern auch wie ineffektiv UN-Ämter – wie zum Beispiel das von Hammarskjöld eingeführte Amt der UN-Sonderkoordinatorin – sind, wenn ihre Vorhaben sich nicht mit den Interessen der mächtigsten Staaten überschneiden. Damit sind sie auf das Wohlwollen jener angewiesen, die sie eigentlich kritisieren sollten.
Wenn wir über das Leben von Dag Hammarskjöld sprechen, sollten wir uns davor hüten, ihn zu mystifizieren. Stattdessen können wir sein Ringen mit einer Welt, in der der Globale Norden mit neokolonialer Ausbeutung die materiellen Grundlagen dafür schafft, dass Konflikte und Kriege entstehen, als einen Startpunkt unserer Analyse verstehen.
Marius Wuttke ist Historiker mit Schwerpunkt auf der Außenpolitik der Vereinigten Staaten.