23. Oktober 2025
Hanno Sauers Buch »Klasse – Die Entstehung von Oben und Unten« wird in den Leitmedien gefeiert. Kein Wunder, denn er bricht dem Klassenbegriff die kritische Spitze ab und erklärt Klassenunterschiede zu etwas, das wir bedauern, aber nicht ändern können.

Wer mit dem Privatjet Status demonstrieren will, sollte am besten Privateigentümer von Produktionsmitteln sein.
Fast zwei Jahrhunderte lang war »Klasse« ein Begriff, der mit Widerstand gegen Ungleichheit und Ausbeutung verbunden war. Vordenker wie Karl Marx und Friedrich Engels lieferten der Arbeiterinnenbewegung die Theorie, die den Kampf zwischen den Klassen des Proletariats und der Kapitalisten ins Zentrum stellte. Früh schon reagierten konservative Ideologen auf die Herausforderung einer erstarkenden Arbeiterinnenbewegung, indem sie versuchten, den Klassengegensatz theoretisch zu verschleiern.
Von den »Kathedersozialisten« des deutschen Kaiserreichs, die die soziale als »sittliche« Frage verhandelten und den Gegensatz von Kapital und Arbeit leugneten, hin zum Konzept der »nivellierten Mittelstandsgesellschaft« des ehemaligen Nationalsozialisten Helmut Schelsky. Dessen explizit gegen Klassentheorien gerichtete Idee einer Angleichung der Lebensverhältnisse und Auflösung des Gegensatzes zwischen den Klassen aus den 1950er und 60er Jahren ist auch heute noch die ideologische Grundlage für die Erzählung von der »bürgerlichen Mitte«.
Doch das Bewusstsein für soziale Ungleichheit ist zurück – auch deshalb, weil sie steigt. Der Neoliberalismus der letzten Jahrzehnte führt zu einer spürbaren Verarmung von Teilen der Gesellschaft. Während die ärmere Hälfte der Bevölkerung in der Bundesrepublik 2024 gerade einmal 2,3 Prozent des Vermögens besitzt, hält das reichste Zehntel 60 Prozent, also 10,5 Billionen Euro. Das reichste Prozent der Deutschen verfügt Schätzungen zufolge sogar über 35 Prozent des Vermögens, also über 6 Billionen Euro.
»Wie bereits in der Vergangenheit, gibt es auf der konservativen Seite die Bemühung, den Klassenbegriff von allzu subversiven Inhalten zu befreien und politisch unschädlich zu machen.«
Die Partei Die Linke hat den Begriff der Klasse in seiner marxistischen, sozioökonomischen Bedeutung wieder für sich entdeckt und nutzt ihn offensiv. In Folge der Verwerfungen des Neoliberalismus und durch die Finanzkrisen ab 2008 wurde wieder vermehrt Marx gelesen. Und unter dem Schlagwort Antiklassismus gab es in den vergangenen Jahren einen Wiederaufschwung des Begriffes Klasse, auch wenn die Auseinandersetzung des Antiklassismus mit sozialer Ungleichheit als Diskriminierungsform ökonomische Fragen vielfach ausblendet.
Doch wie bereits in der Vergangenheit, gibt es auf der anderen Seite des politischen Spektrums eine Reaktion auf diese Entwicklungen und die Bemühung, den Klassenbegriff von allzu subversiven Inhalten zu befreien und politisch unschädlich zu machen. Hanno Sauer, Professor für Philosophie an der Universität Utrecht, hat nun einen weiteren Versuch vorgelegt. Sein Buch Klasse – Die Entstehung von Oben und Unten wurde breit, vielfach jedoch unkritisch in den deutschen Leitmedien rezensiert.
Von dem beschriebenen Anstieg der Ungleichheit in Deutschland erfährt man in dem Buch nichts. Und doch sei es ein »wahres Feuerwerk kluger und manchmal provozierender Gedanken«, schreibt der Deutschlandfunk, während die Welt Sauer als den »neuen Star der Philosophie« feiert. Die Zeit veröffentlicht gar eine Apologetik von Sauers Thesen im Gewand einer Rezension.
Die öffentliche Besprechung knüpft auch an die Diskussion rund um Klassismus und »klassistische« Diskriminierung an. Sauer wisse, so heißt es in der Sendung Titel, Thesen, Temperamente, »Klassenunterschiede treten oft in Form von Klassismus auf«. Hinter einer wertschätzend und sich analytisch gebenden Sprache vertritt Sauer bei genauerem Lesen jedoch erzkonservative Positionen.
»Klassen« deutet Sauer als Statushierarchien, die auf sozial konstruierten Knappheiten beruhen. Klassenunterschiede sind demnach symbolische Rangordnungen, die bei ihm als Ursache sozialer Ungleichheit erscheinen. Soziale Differenzen, so die Logik, leiten sich nicht aus der ökonomischen Struktur ab, sondern aus unterschiedlichen Positionen innerhalb dieser Statushierarchien. Wer über höheren Status verfüge, habe dadurch einen Wettbewerbsvorteil, der quasi automatisch zur Reproduktion von Status und nebenbei auch ökonomischem Erfolg führe.
»Im Widerspruch zur jederzeit erfahrbaren Realität behauptet Sauer, dass es wirkliche materielle Knappheit nicht mehr gibt.«
Seine in dem Buch vorgelegte Theorie teurer Signale, die die Entstehung und Stabilisierung von Statushierarchien zu erklären beansprucht, kommt fast vollkommen ohne Rückbezug auf Ökonomie aus. Signale der Zugehörigkeit zu einer Statusgruppe, wie zum Beispiel Luxuskonsum oder auch bestimmte moralische Haltungen, müssen zur Abgrenzung nach unten »teuer« sein, also Kosten verursachen, um »fälschungssicher« zu sein.
Im Widerspruch zur jederzeit erfahrbaren Realität behauptet Sauer, dass es wirkliche materielle Knappheit nicht mehr gibt. Wettbewerb um Materielles würde durch den Wettbewerb um Symbolisches verdrängt. »Klasse […] ist sozial konstruierte Knappheit, die durch die mit kostspieligen Signalen ausgetragenen Statuswettbewerbe um eine Position in der gesellschaftlichen Rangfolge entsteht.« Doch der Begriff »Klasse« bleibt im Rahmen dieses Ansatzes vollkommen austauschbar. Sauer benutzt im Buch durchgehend unterschiedliche Begriffe wie Schicht, Milieu, Status, soziale Gruppe, die jeweils unterschiedlichen soziologischen Ansätzen zur Kategorisierung sozialer Unterschiede angehören. Die »Klassen«, die er konkret nennt, benennt er sogar selbst nach Schichten: Unterschicht, Mittelschicht, obere Mittelschicht und Oberschicht. Statt Klassentheorie greift er dazu auf eine Schichtsoziologie zurück, die im weiteren Verlauf des Buches aber keine Rolle mehr spielt. Was eine Klasse ist, bleibt, ähnlich wie im Klassismus-Diskurs, schwammig und wenig greifbar.
Mit diesem Zugang bleiben zahlreiche Fragen ungeklärt: Etwa, wem die Produktionsmittel tatsächlich gehören und wer lediglich die Wahl hat, für andere zu arbeiten und dadurch deren Reichtum zu vermehren – sei es in der Putzkolonne (Unterschicht), als Ingenieur oder im mittleren Management (Mittelschicht) oder im höheren Management (obere Mittelschicht).
Sauers Theorie der »Teuren Signale« basiert auf den Arbeiten des amerikanischen Soziologen Thorstein Veblen und des französischen Soziologen Pierre Bourdieu. Veblens Theorie des »demonstrativen Konsums« skizziert, dass Menschen Luxusgüter konsumieren, um sozialen Status zu demonstrieren. Bourdieus Theorie besagt, dass soziale Ungleichheit durch den Besitz und die Weitergabe verschiedener Kapitalformen – ökonomisches, kulturelles, soziales und symbolisches Kapital – reproduziert wird. Laut Bourdieu drücken Menschen ihren sozialen Status durch Habitus, Geschmack und Lebensstil aus und grenzen sich so voneinander ab. Insbesondere die Position von Bourdieu ist jedoch bei Sauer nur verkürzt dargestellt.
Bourdieu schrieb in seinem Text »Ökonomisches, kulturelles und soziales Kapital« explizit, dass »das ökonomische Kapital […] allen anderen Kapitalarten zugrunde liegt«, wenngleich sie »niemals ganz auf dieses zurückzuführen sind«. Er warnt davor, »die sozialen Austauschbeziehungen auf Kommunikationsphänomene« zu reduzieren und »die brutale Tatsache der universellen Reduzierbarkeit auf die Ökonomie« zu ignorieren, so wie es Sauer tut.
Sauer weist selbst darauf hin, dass die Frage, ob man sich das Senden teurer Signale leisten kann, eine ökonomische ist. Denn um am Statuswettbewerb über beispielsweise »demonstrativen Konsum« von Luxusgütern teilnehmen zu können, muss man überhaupt erst über die ökonomischen Mittel dazu verfügen. Gleichzeitig behauptet er, dass die Rangfolge durch den Statuswettbewerb um teure Signale auf der Symbolebene entsteht, eben ein »Kommunikationsphänomen« sei.
»Seitenweise diskutiert Sauer, wie ›Status‹ umverteilt werden könnte. Wie Geld oder gar Vermögen oder Produktionsmittel umverteilt werden könnten, ist ihm hingegen keine Überlegung wert.«
Laut Oxfam Deutschland ist das Gesamtvermögen der fünf reichsten Deutschen seit 2020 inflationsbereinigt um rund drei Viertel von 89 Milliarden auf 155 Milliarden Euro gewachsen. Selbst Manager mit Millionengehalt oder die wenigen Weltstars in Kunst und Musik, die nach Bourdieus Modell über hohes symbolisches und kulturelles Kapital verfügen, können sich den Kauf von Superyachten oder eines gigantischen Anwesens dieser Elite nicht ansatzweise leisten. Es ist das Eigentumsrecht an produktivem Kapital, das die großen Kapitalistinnen von ihren besseren Angestellten unterscheidet und die wirkliche ökonomische und nach Marx sozial herrschende Elite markiert: die Klasse der Kapitalisten.
Als Professor für Philosophie kann Sauer Marx nicht einfach ignorieren, wenn er ein Buch über Klasse schreibt. Doch seine Auseinandersetzung mit Marx ist unsystematisch, bruchstückhaft und unehrlich. Nicht mal, wenn er sich auf Marx’ Begriff der Ausbeutung bezieht, hält er es für nötig zu erklären, was Ausbeutung bei Marx nun eigentlich genau meint. Sauer wirft dem Marxismus einen »engstirnigen Ökonomismus« vor: »Hinter allem steckt irgendwie ›das Kapital‹.« Sauer suggeriert sogar, Marx habe nicht in seinem Werk besprochen, was Klassen seien, und sei damit »am eigenen Thema gescheitert«.
Was das Kapitalverhältnis nach Marx ist, was es mit dem Eigentum an Unternehmen, mit der Bildung von Mehrwert durch die Arbeit der Lohnabhängigen und dessen Aneignung durch die Kapitalisten zu tun hat – all diese Dinge klärt Sauer nicht. Er fragt nicht, wie sich materielle Unterschiede herausbilden, was es für Unterschiede zwischen Einkommen durch Arbeit oder durch Kapital gibt. Diese Unterschiede markieren bei Marx auch die Zugehörigkeit zu Klassen: der Besitz von Kapital und das leben Können von Kapitaleinkünften, oder das zum Überleben angewiesen Sein auf Lohnarbeit.
»Klassenunterschiede sind ungerecht« so Sauer, »aber wir werden lernen müssen, mit ihnen zu leben.« Denn die Statuswettbewerbe sind seiner Ansicht nach in der menschlichen Natur angelegt und »evolutionär unvermeidlich«, Teil »unserer fundamentalen menschlichen Motivationen«. Sauer bezieht sich für dieses Argument auf Arbeiten von Max Scheler, Helmuth Plessner, Adolf Portmann und Arnold Gehlen. Alle vier gehören zur konservativen Strömung der philosophischen Anthropologie des 20. Jahrhunderts, die den Menschen als ordnungs- und damit herrschaftsbedürftiges »Mängelwesen« verstanden. Die Leistungen des ausgesprochenen Reaktionärs und ehemaligen Nationalsozialisten Arnold Gehlen in diesem Feld hebt Sauer dabei besonders hervor. Demgegenüber steht die optimistische, humanistische und sozialistische Tradition, gegen die diese Denker sich richteten.
»Das Wesen des Menschen«, so Karl Marx in den berühmten Thesen zu Feuerbach, »ist kein dem einzelnen Individuum innewohnendes Abstraktum. In seiner Wirklichkeit ist es das Ensemble der gesellschaftlichen Verhältnisse.« Ändern sich diese, so ändert sich auch das Verhalten der Menschen. Sauer tut diese Haltung und Zugewandtheit zur Menschheit in guter konservativer Tradition als ein irrationales Jugendphänomen ab, das sich mit der steigenden Lebenserfahrung von selbst erledigen würde.
Sauer schreibt, dass »die Behauptung, eine bestimmte politische Verbesserung oder soziale Reform sei hoffnungslos […] zu den klassischen Strategien der Rhetorik der Reaktion« gehöre und er dies vermeiden wolle. Doch gerade seine Zustimmung zu diesem erzkonservativen Menschenbild verdeutlicht, dass sein Buch genau diesem reaktionären Programm der Naturalisierung und Verewigung der Klassenverhältnisse entspricht. Seitenweise diskutiert er, wie »Status« umverteilt werden könnte.
Wie Geld oder gar Vermögen oder Produktionsmittel umverteilt werden könnten, ist ihm hingegen keine Überlegung wert. »Letztlich gibt es keine politischen Mittel, um eine Gesellschaft von Gleichen und sich als gleich wahrnehmend einander Begegnenden zu erstellen«, behauptet er. Konsequenterweise argumentiert er auch hier in konservativer Tradition gegen Strategien des institutionalisierten Ausgleichs von Nachteilen von Minderheiten (affirmative action), die wenigstens Chancengleichheit herstellen sollen.
»Sauers Buch bietet entgegen dem Untertitel keine Erklärung für die ›Entstehung von Oben und Unten‹, sondern nur eine Beschreibung der Oberfläche der Klassengesellschaft.«
Sauer begrenzt die Möglichkeiten, gegen Ungleichheit vorzugehen, auf bloße Fragen von Anerkennung und Respekt. Wenn Menschen schon ganz unten sind, dann soll man sie nicht auch noch herabwürdigen, sondern freundlich behandeln. Das ist dann aber auch schon alles, was gegen die Klassengesellschaft unternommen werden kann. Hanno Sauers Buch, sichtbar inspiriert von der Diskussion um Klassismus, nutzt deren offensichtlichste Schwäche – das fast vollständige Ausblenden der Ökonomie – schamlos aus. War in antiklassistischen Ansätzen zumindest neben der Herstellung von Chancengleichheit noch die Idee der Umverteilung ein, wenn auch unzureichendes, Mittel zur Milderung sozialer Ungleichheit, so fällt bei Sauer sowohl Chancengleichheit als auch Umverteilung vollständig weg.
Sauers Buch bietet entgegen dem Untertitel keine Erklärung für die »Entstehung von Oben und Unten«, sondern nur eine Beschreibung der Oberfläche der Klassengesellschaft. Die ökonomischen Grundlagen, das Kapitalverhältnis, Ausbeutung, Eigentum an Produktionsmitteln, werden systematisch ausgeblendet. Stattdessen wird eine oberflächliche Theorie angeboten, wie sich bereits etablierte Ungleichheit symbolisch reproduziert, und als letztlich unveränderbar dargestellt.
Damit reiht sich das Buch nahtlos in die Tradition reaktionärer Antworten auf die Klassenfrage ein. Es knüpft an den theoretischen Schwächen des gegenwärtigen Antiklassismus-Diskurses an und nimmt ihm die letzte kritische Spitze. Denn wer über Geschmack, Moral, Kultur und Haltung spricht und diese zum Zentrum des Kampfes um »Statushierarchien« macht und Eigentum, Arbeit, Löhne, Kapital und Ausbeutung ausblendet, der beschreibt nur die Oberfläche des gesellschaftlichen Lebens und berührt die Frage sozialer Ungleichheit nicht. Doch Sauers Buch ist schlimmer als das: Es naturalisiert das Bestehende. Die Klassengesellschaft sei bedauerlich, aber unvermeidlich. Die reaktionäre Wendung des Klassismus-Diskurses ist damit vollzogen.
Fabian Nehring ist Politikwissenschaftler und aktives Mitglied bei der Linken in Berlin.