28. Februar 2025
Die Linke hat so viele Mitglieder wie nie zuvor. Um mit ihnen eine schlagkräftige Partei aufzubauen, braucht es jetzt politische Bildung und strategischen Fokus.
Wahlkämpfer unterwegs zum Einsatz in Neukölln, 8. Februar 2025.
Die Linke hat ein überraschend starkes Wahlergebnis eingefahren. Mit 8,8 Prozent, sechs Direktmandaten und relativ guten Ergebnissen auch in Westdeutschland wird sie als Oppositionspartei gegen eine Merz-geführte Regierung wieder eine größere Rolle in der deutschen Politik spielen. Aber der noch erstaunlichere Aufschwung, den sie erlebt, ist die Mitgliederentwicklung. Seit dem Parteitag im Oktober, auf dem ein neuer Vorstand mit dem Versprechen einer politischen Neuausrichtung ins Amt gewählt wurde, verzeichnet die Partei deutlichen Zuwachs. Seit Friedrich Merz seinen Faust’schen Pakt mit der AfD geschlossen hat, erlebt die Linke sogar eine regelrechte Eintrittslawine.
Inzwischen hat sie mehr Mitglieder als zur Parteigründung 2007. Anders als damals, wo große Teile der außerparlamentarischen Linken und Zivilgesellschaft die Partei aus einer kritisch-solidarischen Distanz betrachteten, strömen sie nun in sie hinein. Wie viele genau es sind, kann man nicht sagen, da die Geschäftsstellen mit der Bearbeitung der Mitgliedschaftsanträge nicht hinterherkommen. Die Vorsitzende Ines Schwerdtner berichtete vor einigen Wochen, dass der Linken inzwischen die Mitgliedsausweise ausgegangen seien, und man nachbestellen müsse. Selbst aus kleineren Städten hört man, dass neue Mitglieder und Interessierte der Linken die Türen einrennen und Wahlkampfveranstaltungen aus allen Nähten platzen.
Bisher kann man nur darüber mutmaßen, wer die vielen Menschen sind, die sich jetzt bei der Linkspartei organisieren. Augenscheinlich sind es aber vor allem junge Leute mit progressiven Einstellungen und überwiegend akademischem Hintergrund. Bei allem berechtigten Enthusiasmus ist es für eine sozialistische Partei ein großes Problem, wenn ihre Basis sich vor allem aus diesem eher kleinen Teil der Bevölkerung zusammensetzt. So droht die Gefahr, dass man zu einer Partei wird, die nicht linke Politik, sondern Politik für Linke macht.
»Die vielen Menschen, die sich jetzt in die Linke einbringen wollen, treffen zum Teil auf Parteistrukturen, die außerhalb von Wahlkämpfen eher verschlafen sind.«
Es nützt aber nichts, diesen Zustand nur zu beklagen. Die unmittelbare Aufgabe nach der Wahl muss zunächst sein, die vielen neuen Mitglieder einzubinden und auszubilden. Man kämpft mit der Armee, die man hat.
Die Linke hat gezeigt, dass sie zur Kurskorrektur in der Lage ist und mit einem klaren Fokus auf wirtschaftliche Forderungen wieder deutlich mehr als 5 Prozent der Wählerschaft erreichen kann. Um diesen Erfolg auszubauen, muss sie aber zu einer wirklichen Partei ihrer Klasse werden. Auch ein guter Wahlkampf kann echte Aufbauarbeit nicht ersetzen, aber die Eintrittswelle kommt genau im richtigen Moment, um diese Aufgabe anzugehen.
Die vielen Menschen, die sich jetzt in die Linke einbringen wollen, treffen zum Teil auf Parteistrukturen, die außerhalb von Wahlkämpfen eher verschlafen sind. Auch das war mit Sicherheit einer der Faktoren, warum tausende von Menschen aus der ganzen Republik zu Aktionswochenenden im Wahlkampf um Direktmandate nach Berlin und Leipzig mobilisiert werden konnten. Wenn in der Fläche nicht binnen kürzester Zeit Möglichkeiten geschaffen werden, dauerhaft und vor allem politisch sinnvoll aktiv zu werden, wäre das eine verpasste Chance. Niedrigschwellige und regelmäßige Aktiventreffen zu etablieren, wo es sie noch nicht gibt, ist dafür der erste Schritt.
Zwischen den Wahlen sollte das Ziel sein, die Verwurzelung in der Gesellschaft aufzubauen, die der Linken vielerorts fehlt. Mit der Mietwucher-App und dem Heizkostencheck kann man auch jetzt noch an die Haustüren gehen. Ähnlich wie das Angebot kostenloser Sozialberatungen schafft es Glaubwürdigkeit und vermittelt, dass die Linke etwas für die Menschen tut und nicht nur bei Wahlen um ihre Stimme bittet.
Um aber grundsätzliche Veränderungen durchzusetzen, sind wir im Kapitalismus auf die organisierte Macht der Arbeiterbewegung angewiesen. Ihre Fähigkeit, in den Streik zu treten, ist das einzige Mittel, was den Widerstand der kapitalistischen Klasse und ihren Einfluss auf den Staat brechen kann. Doch die Arbeiterbewegung ist weiterhin ein Schatten ihrer selbst und das wird sich vermutlich auch nicht von allein ändern.
»Es muss die Norm werden, dass Mitglieder nicht nur in der Partei aktiv sind, sondern auch in ihren Betrieben.«
Die harte Trennung zwischen Partei- und Gewerkschaftsarbeit, mit der wir heute so vertraut sind, dass wir sie kaum hinterfragen, hat es aber nicht immer gegeben. In der Vergangenheit waren Mitglieder kommunistischer und sozialistischer Parteien oft diejenigen, die Betriebe organisierten und den Widerstand gegen Ausbeutung und unwürdige Arbeitsbedingungen anführten. Dafür hatten sie den Respekt ihrer Kolleginnen und Kollegen, selbst wenn sie ihre politischen Ansichten nicht teilten.
Erfahrungen und Vorgehensweisen, die zum Teil in die weit entfernte Belle Epoque zurückreichen, lassen sich nicht einfach eins zu eins ins Jahr 2025 übertragen. Aber in der heutigen Arbeitswelt, mit ihren kleinen, dezentralen Betrieben und neuen Berufsfeldern, die sich für die etablierten Methoden der Gewerkschaften als schwer erschließbar erwiesen haben, kann man daraus trotzdem Inspiration ziehen. Sogenanntes Worker-to-Worker Organizing, bei dem arbeitende Menschen ihre Betriebe selbst vergewerkschaften, hat in den letzten Jahren erstaunliche Erfolge erzielt.
Die Linke sollte Gewerkschaftsarbeit mit solchen Methoden zu einem zentralen Bestandteil ihrer Parteiarbeit machen. Es muss die Norm werden, dass Mitglieder nicht nur in der Partei aktiv sind, sondern auch in ihren Betrieben. Das darf nicht weiter in kleine Arbeitsgemeinschaften ausgelagert werden, sondern muss einen festen Platz auf den Aktiventreffen bekommen. Aber vor allem muss die Mitgliedschaft dafür ausgebildet werden. Die kurze Erfahrung des Wahlkampfs zeigt, dass eine solche Ausbildung möglich ist, wenn man sie systematisch organisiert.
Bildungsangebote zu Gewerkschaftsarbeit und anderen Themen gibt es in der Partei und bei der Rosa-Luxemburg-Stiftung natürlich auch jetzt schon. Aber bisher sind sie eben nur das – ein Angebot. Viele Mitglieder der Partei treten ein und sind über Jahre aktiv, ohne jemals wirklich Schulungen oder Grundlagenseminare durchlaufen zu haben. Selbst in der Linksjugend, wo Parteinähe lange eher ein Schimpfwort war, erkennt man erst nach und nach, dass die Ausbildung neuer Generationen von Sozialistinnen und Sozialisten eigentlich die zentrale Aufgabe eines sozialistischen Jugendverbands sein sollte.
Diese eher untergeordnete Rolle der politischen Bildung hat viel mit der Geschichte der Partei als SED-Nachfolgerin zu tun. Begriffe wie Kaderbildung oder der Gedanke an Parteischulen lösen bei vielen, besonders älteren Mitgliedern immer noch Unbehagen aus, weil sie mit einer undemokratischen und starren Parteiform assoziiert werden. Aber ein einheitliches Bildungsprogramm für alle Mitglieder ist keine Gehirnwäsche, vermittelt ihnen im Gegenteil das notwendige Wissen, um in Debatten mitreden und die Arbeit von Gewählten kritisch betrachten zu können. Das würde die innerparteiliche Dominanz der »Experten« aufbrechen und die Linke letztendlich demokratischer machen.
Das Kadermodell hat einen schlechten Ruf, aber wie der Soziologe Vivek Chibber herausarbeitet, braucht jede Organisation ein gewisses Maß an Kohärenz, eine zentrale, richtungsweisende Führung und eine disziplinierte, gut geschulte Mitgliedschaft, um politisch effektiv zu sein. Das galt nicht nur für leninistische Parteien der Dritten Internationale, sondern auch für die frühe Sozialdemokratie. Alle Parteien, die auf Massenmobilisierung abzielten, nutzten diese Organisationsform und die Linke kann es sich nicht länger leisten, sie für überholt zu erklären.
»Dass Regieren und Macht zwei unterschiedliche Dinge sind, lernt man nicht in der Schule.«
Es gibt bestimmte Positionen und Debatten innerhalb der Linken, die für Außenstehende erstmal nicht naheliegend sind. Es ist zum Beispiel nicht offensichtlich, warum Marxistinnen und Marxisten der arbeitenden Klasse eine besondere strategische Rolle zusprechen. Um zu verstehen, warum sie sich nicht durch andere soziale Gruppen ersetzen lässt, braucht man ein paar marxistische Basics, die sich nicht ad hoc vermitteln lassen, wenn das Thema aufkommt.
Dass Regieren und Macht zwei unterschiedliche Dinge sind, lernt man nicht in der Schule. Um nachzuvollziehen, warum Sozialistinnen und Sozialisten Regierungsbeteiligungen historisch kritisch gegenüberstanden, muss man zwar nicht die gesamte Miliband-Poulantzas-Debatte kennen, aber man muss grundsätzlich verstanden haben, wie der Staat im Kapitalismus funktioniert und die Bilanz solcher Regierungsbeteiligungen in den letzten Jahrzehnten kennen.
Dass die Linke die NATO ablehnt, trifft bei manchen neuen Mitgliedern eher auf Unverständnis und wird mit einem Schulterzucken abgetan. Schaut man in die großen Medien, liegt der überwältigende Fokus kritischer Berichterstattung auf geopolitischen Feinden des Bündnisses. Schaut man dagegen auf die Geschichte und sieht, welche verbrecherische und destruktive Rolle westliche Staaten auf der Weltbühne oft spielen, erstaunt es kaum, dass Linke die internationale Dominanz des Westens ablehnen. Die Linkspartei und ihr Jugendverband müssen es sich zur Aufgabe machen, diese Dinge zu vermitteln.
Aber auch darüber hinaus ist es wichtig für Linke, sich mit der Geschichte der Arbeiterbewegung auseinanderzusetzen. Wer seine Geschichte nicht kennt, ist dazu verurteilt, immer wieder dieselben Fehler zu machen. Selbst wenn wir alles richtig machen, wird es wieder Zeiten geben, in denen wir auf der Verliererseite stehen – schließlich legen wir uns mit den Mächtigsten in dieser Gesellschaft an. Besonders in solchen Zeiten kann uns Traditionsbewusstsein die nötige Kraft und Inspiration geben, um weiterzukämpfen.
Vor wenigen Monaten haben viele in der Partei, inklusive mir, daran gezweifelt, ob sie noch eine Zukunft hat. Nun hat sie eine. Lasst uns diese einmalige Chance nutzen.
Jonas Thiel ist Mitglied der Linken und Contributing Editor bei JACOBIN.