14. November 2024
Die Ausschreitungen rund um das Maccabi-Spiel in Amsterdam sind wiederholt als Pogrom bezeichnet worden. Die Gewaltexzesse sind klar zu verurteilen. Wer aber die Ereignisse in Amsterdam in eine Traditionslinie mit der antisemitischen Gewalt des letzten Jahrhunderts stellt, betreibt eine gefährliche Relativierung der Geschichte.
Fans von Maccabi Tel Aviv auf dem Dam-Platz in Amsterdam, 7. November 2024.
Im Zuge der UEFA Europa League gastierte am vergangenen Donnerstag der amtierende israelische Meister Maccabi Tel Aviv und dessen aktive Fanszene beim niederländischen Topverein Ajax Amsterdam. Das Sportliche – Ajax hatte Maccabi mit 5:0 abgefertigt – war in den Hintergrund getreten, und Gewalttaten rund um das Spiel sollten alsbald die internationalen Nachrichten dominieren. Die Ereignisse in Amsterdam wurden von westlichen Medien und den dortigen politischen Eliten als antisemitische Hetzjagd oder gar Pogrom beschrieben und entfachten folgerichtig einen Sturm des Entsetzens.
Unter anderem EU-Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen, US-Präsident Joe Biden oder der deutsche Bundeskanzler Olaf Scholz verurteilten die Ereignisse deutlich als antisemitisch und suggerierten eine Traditionslinie zu antijüdischer Gewalt im Zuge des Holocausts.
Doch halten die alarmierende Bewertungen einer genaueren Überprüfung stand? Die Antwort ist nein. Vielmehr zeigt sich in den geläufigen Reaktionen von Medien und Politik eine hochgefährliche Instrumentalisierung des Antisemitismusbegriffs.
Aber von vorne. Offenbar traf die Maccabi-Fanszene, die im Folgenden auch als Ultras bezeichnet wird, am vergangenen Dienstag in der größten niederländischen Stadt ein. Dort tat man sich mit Teilen der Ajax-Fanszene zusammen, die aufgrund der vermeintlich jüdischen Vergangenheit des renommiertesten niederländischen Fußballvereins einen positiven Bezug zum Judentum und dem israelischen Staat pflegt.
Wie es für eine Europokal-Woche mit Auswärtsspielen von Vereinen mit aktiver Fanszene üblich ist, zogen die Maccabi-Ultras und ihre holländischen Kumpanen in Gruppen organisiert durch die Innenstadt und schwangen Israelfahnen. So weit, so gewöhnlich. Allerdings rissen sie auch palästinensische Fahnen von Fassaden und schlugen die Fenster der jeweiligen Häuser ein, steckten mindestens eine Fahne in Brand und griffen am helllichten Tag pro-palästinensische Demonstrierende an. Schon im März dieses Jahres hatten Maccabi-Ultras bei einer Auswärtsfahrt nach Athen einen Mann zusammengeschlagen, der eine palästinensische Fahne getragen hatte.
Es ist wichtig zu verstehen, dass die Fanszene von Maccabi Tel Aviv auch innerhalb der israelischen Fußballkultur eher im rechten und nationalistischen Spektrum einzuordnen ist. Noch rechter sind nur wenige, so etwa die rechtsextreme und ultranationalistische Fanszene von Beitar Jerusalem. Maccabi-Anhänger haben in der Vergangenheit selbst eigene arabische oder dunkelhäutige Spieler rassistisch beleidigt oder Demonstrierende, die gegen Regierungschef Benjamin Netanjahu auf die Straße gingen, körperlich angegriffen. Die Anhänger des verhassten Stadtrivalen Hapoel, die eher linksliberal und gewerkschaftsnah eingestellt sind, werden von den Maccabi-Ultras regelmäßig als »Huren der Araber« besungen. Und weiter im gleichen Fangesang heißt es: »Auf dem Marktplatz werden wir jeden Kommunisten hängen; wir nehmen eure Mädchen, die das Party machen lieben, und wenn wir sie dann vergewaltigen, schreien wir: Heute ist der Tod, Hapoel.«
Aber zurück nach Amsterdam, wo marodierende Maccabi-Anhänger rassistische, anti-arabische Parolen skandierten: »Olé, olé, lasst die IDF gewinnen und fickt die Araber« oder »Olé, olé, warum ist die Schule in Gaza geschlossen? Dort sind keine Kinder mehr.« Es sind Sprechchöre, die Bezug nehmen auf den sich aktuell unter den Augen der Weltöffentlichkeit vollziehenden Völkermord an den Palästinenserinnen und Palästinensern in Gaza. Unter den Maccabi-Ultras in Amsterdam befanden sich auch IDF-Soldaten.
Unrühmlich fielen die Maccabi-Anhänger auch in der Johan-Cruyff-Arena auf, als man eine Schweigeminute für die Opfer der verheerenden Flutkatastrophe in Spanien mit Buhrufen, Pfiffen und dem Zünden von Feuerwerkskörpern störte, da die spanische Regierung Netanjahu kritisch gegenübersteht. Das Fass zum Überlaufen brachten aber wohl die Geschehnisse nach dem Spiel, als die, vom Spielverlauf wahrscheinlich nicht gerade besänftigten Maccabi-Ultras zum Amsterdamer Hauptbahnhof zogen und – teilweise mit Steinen und Stangen von einer Baustelle bewaffnet – Amsterdamer Bürger angriffen, darunter auch einen marokkanischstämmigen Taxifahrer, der Maccabi-Ultras offenbar zur Rede gestellt hatte. Die Polizei schritt nicht ein.
»Die Bilder von den durch die Innenstadt gejagten Israelis gingen um die Welt und mussten für teils plumpste Instrumentalisierungen herhalten.«
Infolgedessen stießen die israelischen Hooligans erstmals auf organisierte Gegengewalt. So kesselten offenbar mehrere hunderte Taxifahrer, vermutlich viele davon mit arabischem Migrationshintergrund, Maccabi-Ultras in einem Casino ein. Das Blatt hatte sich nun gewendet und Gruppen von Einheimischen, viele davon marokkanischer Herkunft, trieben den Maccabi-Block auseinander, um Jagd auf vereinzelte Ultras zu machen, die zusammengeschlagen oder in die zahlreichen Grachten der Stadt gestoßen wurden. Einige angegriffene Israelis wurden unter Gewaltandrohung gezwungen, »Free Palestine« zu rufen. Nur wer einen nicht-israelischen Pass vorzeigen konnte, blieb verschont.
Die Polizei zeigte sich weiterhin überfordert und passiv. Diese Bilder von den durch die Innenstadt von Amsterdam gejagten Israelis gingen daraufhin um die Welt und mussten für teils plumpste Instrumentalisierungen herhalten. An dieser Stelle muss betont werden, dass aus doppelt Unrecht kein Recht wird, und die Selbstjustiz des Amsterdamer Mobs genauso zu verurteilen ist, wie die der Maccabi-Anhänger.
Dem Amsterdamer Polizeichef zufolge mussten zwanzig bis dreißig Israelis mit leichten Verletzungen ambulant versorgt werden, während weitere fünf im Krankenhaus behandelt und nach wenigen Stunden wieder entlassen wurden. Nach eigenen Angaben nahm die Polizei 62 Personen wegen Gewalt, Vandalismus und Störung der öffentlichen Ordnung fest, wobei keine Angaben zur Nationalität gemacht wurden und die überwiegende Mehrzahl Niederländer sein dürften. Offenbar konnten alle Maccabi-Anhänger mit Sonderflügen, die von der israelischen Regierung organisiert wurden, bis Sonntag nach Israel zurückgebracht werden. Schon im Flughafenterminal in Tel Aviv stimmten die Fans den Gesang über Gazas Schulen und seine Kinder an.
Die Bilder der gejagten und verprügelten Maccabi-Anhänger wurden von der politisch-medialen Elite des Westens und proisraelischen Organisationen reflexartig für die fragwürdige These eines durch Zuwanderung importierten Antisemitismus aufgegriffen. Der niederländische Rechtspopulist Geert Wilders, dessen Partei als stärkste Kraft die Regierung mitträgt, erkannte gar eine »Judenjagd« und sah sich in seinem tiefsitzenden Hass auf Muslime bestätigt.
»Nationalistische Maccabi-Ultras wurden nicht primär als gewaltbereite Fußballfans oder politische Subjekte aus dem rechten Spektrum gelesen, sondern einzig auf ihre jüdische Identität reduziert.«
Allgemein ließ sich selten eine größere Diskrepanz beobachten zwischen der nahezu in Echtzeit erfolgten Nachverfolgung der Ereignisse in den sozialen Netzwerken, insbesondere auf X (ehemals Twitter) und der teilweise stark verzerrten westlichen Mainstream-Berichterstattung, die dem Geschehen hinterherhinkte. Ereignisse, die den gängigen medialen Narrativen zuwiderlaufen – wie etwa, dass auch rechte israelische Fußballfans Gewalt initiieren können –, prallten an den zunehmend einseitigen Wahrnehmungsfiltern der hiesigen Politiker und Medienmacher ab, die die Geschehnisse durch die Brille ihres simplifizierenden Verständnisses von Antisemitismus, Israelkritik und Palästinasolidarität betrachteten.
So illustrierten viele Zeitungen und Fernsehsendungen, darunter die Tagesschau, ihre Berichte über die Angriffe auf Maccabi-Anhänger ausgerechnet mit Bildern, auf denen die Maccabi-Anhänger selbst auf einen wehrlos am Boden liegenden Einheimischen eintreten. Die Tagesschau reichte zwar eine Korrektur nach, erklärte aber nicht, was man denn wirklich auf besagten Bildern sah. Nationalistische Maccabi-Ultras wurden nicht primär als gewaltbereite Fußballfans oder politische Subjekte aus dem rechten Spektrum gelesen, sondern einzig auf ihre jüdische Identität reduziert, die der einzige Grund sein könne, warum diese zum Ziel von lokaler Gewalt wurden.
Die antisemitische Gleichsetzung des ethnoreligiösen Nationalstaats Israels mit der Religion des Judentums wird von der politmedialen Elite im Westen selbst betrieben. Jegliche Form von Israelkritik, ob berechtigt oder nicht, kann dadurch bequem als eigentlich antisemitisch motiviert gebrandmarkt werden. Dass man den Antisemitismusbegriff durch diese politische Instrumentalisierung aushöhlt, entgrenzt und perspektivisch unbrauchbar macht, israelkritische Jüdinnen und Juden kriminalisiert und jüdische Menschen als solche indirekt zu einer Projektionsfläche für Israelhass macht – zuletzt etwa in Form einer höchst umstrittenen Bundestagsresolution – wird als Kollateralschaden billigend in Kauf genommen.
Für Ambivalenzen, wie etwa die Bedenken israelkritischer holländischer Jüdinnen und Juden, die sich angesichts der ungehinderten Präsenz der gewaltbereiten rechtsgerichteten Maccabi-Ultras in Amsterdam unsicher fühlten und deshalb eine Gedenkveranstaltung zur antijüdischen Pogromnacht von 1938 (auch als Kristallnacht bekannt) absagten, bleibt dabei kein Raum. Die Vielseitigkeit und Komplexität jüdischen Lebens werden durch die vorherrschenden hegemonialen Erzählungen verleugnet, wodurch jüdische Menschen als monolithische Gruppe dargestellt und israelkritische Jüdinnen und Juden indirekt als Nestbeschmutzer abgestempelt werden.
Die Amsterdamer Ausschreitungen in die Nähe der antisemitischen Gewalt des 19. und 20. Jahrhunderts zu setzen, insbesondere durch die Verwendung des Begriffs »Pogrom«, ist zudem eine gefährliche Relativierung. Der Begriff entstand im Zuge weitverbreiteter antijüdischer Gewalt im zaristischen Russland an der Schwelle zum vorletzten Jahrhundert und beschreibt gewalttätige Angriffe gegen Leben und Besitz von religiösen, nationalen oder ethnischen Minderheiten unter Duldung oder Unterstützung des jeweiligen Staates. Die Mehrheitsbevölkerung will dabei die marginalisierte Position der bisweilen als fremdartig erachteten Minderheit gewaltsam (wieder)herstellen.
Die Gewalt in Amsterdam als Pogrom zu bezeichnen, ist daher aus mehreren Gründen unangebracht. Zum einen wurden die Fans von Maccabi Tel Aviv nicht als Juden, sondern als Israelis und als rassistische Ultras angegriffen. Die Verwendung des Begriffs »Pogrom« würde hier also Antisemitismus und Antizionismus irreführend miteinander gleichsetzen. Auch verleitet die Verwendung des Pogrombegriffs dazu, die Unterschiede zwischen der Situation der europäischen Jüdinnen und Juden im 19. und 20. Jahrhundert und ihrer heutigen Stellung in Israel zu ignorieren, wo sie die staatstragende Bevölkerungsmehrheit eines modernen und hochgerüsteten Nationalstaats ausmachen.
Einige Kommentatorinnen und Kommentatoren mögen sich daran erinnern, dass im Holocaust nahezu drei Viertel der holländischen Jüdinnen und Juden, von denen die meisten in Amsterdam lebten – der höchste Anteil in Westeuropa –, ermordet wurden, symbolisiert durch das weltberühmt gewordene nach Amsterdam geflüchtete und später ermordete deutsch-jüdische Mädchen Anne Frank. Und dennoch ist es ahistorisch und zynisch, die jüngsten Ausschreitungen gegen Israelis und besagte antijüdische Gewalt der letzten Jahrhunderte in eine Traditionslinie zu stellen.
Ja, in der letzten Woche wurden Juden durch Amsterdam gejagt. Dass sie aber vor allem aufgrund ihres Jüdischseins zum Ziel von Gewalt wurden, ist eine gewagte These – nicht zuletzt aufgrund der Tatsache, dass sich das Zusammenleben zwischen Amsterdams rund 15.000 jüdischen Bürgerinnen und Bürgern und Anwohnerinnen und Anwohnern mit arabischem Migrationshintergrund in aller Regel friedlich gestaltet und antisemitische Übergriffe alles andere als eine Alltäglichkeit sind.
Die jüngsten Ereignisse weisen derweil aber auch einige Parallelen zu den immer wieder im Umfeld von Europokalspielen stattfindenden, kulturell-politisch, lokal/regional oder ethnisch aufgeladenen Gewalteskalationen auf. Richtig ist aber auch, dass jene in Amsterdam durch die aktuelle geopolitische Situation ein besonders gefährliches und weitreichendes Ausmaß angenommen haben, verdeutlicht etwa durch die in lokaler Selbstjustiz durchgeführten Passkontrollen.
Wenig mediale Beachtung finden derweil die tatsächlichen Pogrome, die israelische Siedler mittlerweile wöchentlich und mit Billigung Jerusalems gegen Palästinenser und Palästinenserinnen im von Israel völkerrechtswidrig besetzten Westjordanland begehen.
Die Gewalt in Amsterdam legt somit eine einseitige, verzerrte und bisweilen ahistorische Wahrnehmung des Nahostkonflikts durch westliche Politik und Mainstreammedien offen. Zudem offenbart die Aufarbeitung der Ausschreitungen in Amsterdam eine frappierende westliche Doppelmoral hinsichtlich akzeptabler und inakzeptabler Gewalt sowie eine gefährliche Instrumentalisierung des Antisemitismusbegriffs, gegen die es sich mit aller Macht zu wehren gilt.
Amadeus Marzai ist Historiker und Politikwissenschaftler und hat Internationale Beziehungen an der Universität Leiden studiert.