28. November 2024
Gegen Marine Le Pen läuft ein Prozess wegen Veruntreuung, der dazu führen könnte, dass sie 2027 nicht bei den Präsidentschaftswahlen antreten dürfte. Nachdem sie selbst lange ein hartes Vorgehen gegen Korruption in der Politik gefordert hatte, inszeniert sie sich nun als Opfer eines politischen Schauprozesses.
Marine Le Pen im Pariser Strafgericht, wo sie wegen des Verdachts der Veruntreuung öffentlicher Gelder angeklagt ist, 26. November 2024.
In Frankreich befasst sich die Justiz mit einem der brisantesten Korruptionsfälle der jüngeren Vergangenheit: Marine Le Pen und ihrer Partei Rassemblement National (RN) werden Veruntreuung vorgeworfen. Die Anhörungen endeten am gestrigen Mittwoch; ein Urteil wird es wohl Anfang 2025 geben.
Die rechtsradikale Partei und ihre Vorsitzende werden beschuldigt, über einen Zeitraum von zwölf Jahren mehrere Millionen Euro durch falsche Lohnabrechnungen ihrer Europaabgeordneten veruntreut zu haben. Nach Ansicht der Staatsanwaltschaft haben die Rechten diverse Parteikader unrechtmäßig zu parlamentarischen »Assistenten« dieser Abgeordneten ernannt und sich dadurch zusätzliche Mittel für Arbeiten gesichert, die allerdings nichts mit Aufgaben im Europäischen Parlament zu tun hatten.
Le Pens Verteidigung weist die Anschuldigungen zurück und kritisiert, die Anklage ignoriere, dass es für die Funktionäre durchaus sich überschneidende Rollen – von der eigentlichen parlamentarischen Arbeit bis hin zu Wahlkampfaktivitäten – geben könne. Nur so könne eine moderne Partei funktionieren.
Die Affäre war bereits 2014 erstmals bekannt geworden, als Le Pen (damals selbst EU-Parlamentsabgeordnete für den RN-Vorgänger Front National) Gegenstand einer EU-Untersuchung war. Ihr wurde vorgeworfen, zwei Angestellte – namentlich ihren persönlichen Leibwächter Thierry Léger und ihre damalige Stabschefin Catherine Griset – lediglich zum Schein in Straßburg und Brüssel beschäftigt zu haben. Griset, die im Juni 2024 selbst für eine zweite Amtszeit als Europaabgeordnete gewählt wurde, erhielt zwischen Oktober 2014 und August 2015 demnach ein Gehalt als parlamentarische Assistentin, obwohl sie insgesamt nur zwölf Stunden im Europäischen Parlament verbrachte. Die an Griset und Léger überwiesenen Gelder wurden auf 340.000 Euro geschätzt, wobei spätere Nachforschungen seitens der EU und in Frankreich ergaben, dass ein weitaus größeres Personennetz beteiligt war. Das Europäische Parlament schätzt, dass zwischen 2004 und 2016 bis zu 6,8 Millionen Euro abgezweigt wurden; an dem Betrug seien mehr als zwanzig Funktionäre des Front National beteiligt gewesen.
In einer Nachricht an Le Pen schrieb der damalige Schatzmeister der Partei, Wallerand de Saint-Just, im Juni 2014: »Wir werden uns nur über Wasser halten können, wenn wir dank des Europäischen Parlaments erhebliche Einsparungen erzielen.«
Es ist beileibe nicht das erste Mal, dass derartige Scheinbeschäftigungen Gegenstand von Korruptionsskandalen in Frankreich sind. Parlamentarische Assistenzen werden aus nationalen Geldtöpfen bezahlt. Diverse politische Kräfte nutzten dieses System illegal oder zumindest in Graubereichen aus, sei es zur persönlichen Bereicherung oder als Mittel, um Löcher in den Parteikassen zu stopfen. Die Kandidatur von François Fillon – der für die konservative Partei Les Républicains vermutlich in den Präsidentschaftswahlkampf 2017 gegangen wäre – scheiterte aufgrund eines Skandals um Zahlungen an seine Frau. Diese war für offenbar fiktive »Verwaltungsarbeiten« während Fillons Zeit als Parlamentarier in den 1990er und 2000er Jahren bezahlt worden. Beide wurden später verurteilt. Gegen Fabien Roussel, den Nationalsekretär der Kommunistischen Partei Frankreichs, wurde 2022 wegen angeblicher Veruntreuung aus seiner Zeit als parlamentarischer Mitarbeiter in den späten 2000er Jahren ermittelt. François Bayrou, seit 2017 ein wichtiger Verbündeter von Präsident Emmanuel Macron, wurde im Februar 2024 freigesprochen. Auch ihm und seiner Partei MoDem war zuvor Scheinbeschäftigung vorgeworfen worden.
»Ironischerweise hatte sich Le Pen einst als entschiedene Kritikerin der häufigen Veruntreuungsskandale in den 1990er- und 2000er-Jahren profiliert.«
Was den aktuellen Fall von anderen unterscheidet, ist das Ausmaß des potenziellen Betrugs: Die Staatsanwaltschaft spricht von einem »gut organisierten System«, mit dem Gelder aus dem Europäischen Parlament in die Taschen von Parteifunktionären flossen. In ihren Anträgen fordert sie dementsprechend eine harte Strafe für die rechtsradikale Parteichefin, einschließlich eines fünfjährigen Verbots, ein nationales Amt anzustreben. Damit wäre Le Pen, die bei den Präsidentschaftswahlen 2027 vermutlich als RN-Spitzenkandidatin antreten würde, von einer Kandidatur ausgeschlossen. Ihren derzeitigen Sitz in der französischen Nationalversammlung müsste sie hingegen nicht räumen.
Die Staatsanwaltschaft fordert darüber hinaus eine fünfjährige Haftstrafe für Le Pen (drei Jahre auf Bewährung und zwei Jahre, die möglicherweise mit einer elektronischen Fußfessel verbüßt werden müssten) sowie 300.000 Euro Schadenersatz. Gegen die 24 weiteren Angeklagten aus den Reihen des Rassemblement National werden diverse mildere Haft- und Amtsenthebungsstrafen gefordert, die zudem mit einer Gesamtgeldstrafe in Millionenhöhe kombiniert würden.
Laut Le Pen handelt es sich um einen politisch motivierten Prozess, mit dem sie zum Schweigen gebracht werden solle. »Die Staatsanwälte wollen mich [stoppen] und das französische Volk daran hindern, für die Personen zu stimmen, die sie wollen. Das ist das einzige Ziel«, sagte sie am 13. November gegenüber der Presse vor dem Gerichtssaal. Regierungsbeamte betonen ihrerseits, das Justizsystem arbeite so, wie es vorgesehen sei. Sie verweisen auf die Unabhängigkeit der Staatsanwaltschaft und deren Verpflichtung, das Gesetz in der von den Volksvertretern im Parlament verabschiedeten Fassung anzuwenden.
Tatsächlich gibt es seit Längerem die Möglichkeit, verurteilte Personen von öffentlichen Ämtern und dem passiven Wahlrecht auszuschließen. Ein unter dem sozialistischen Präsidenten François Hollande verabschiedetes Gesetz schreibt seit 2016 außerdem explizit vor, dass gewählte Amtsträger, denen die Veruntreuung öffentlicher Gelder nachgewiesen wurde, automatisch für unwählbar erklärt werden müssen (womit das passive Wahlrecht eingeschränkt werden kann).
Ironischerweise hatte sich Le Pen einst als entschiedene Kritikerin der häufigen Veruntreuungsskandale in den 1990er- und 2000er-Jahren profiliert. Ein Video, das in den vergangenen Wochen immer wieder zirkulierte, zeigt Le Pen im Jahr 2004, wie sie sich über die Korruption in der französischen Politik empört: »Alle haben ihre Hände in den Staatskassen. Alle, außer dem Front National. Sollen wir etwa glauben, dass so etwas normal ist?« Weiter erklärte sie damals: »Die Franzosen sind es nicht leid, von diesen Skandalen zu hören. Sie sind es leid, diese Skandale erleben zu müssen! Sie sind es leid, gewählte Amtsträger zu sehen, die – tut mir leid, dass ich das so sagen muss – öffentliche Gelder veruntreuen. Das ist ein Skandal.«
Zwanzig Jahre später tönt es aus der rechten Ecke etwas anders daher: Offenbar handele es sich beim Verfahren gegen Le Pen und ihre Verbündeten um nicht weniger als einen politisch koordinierten Angriff oder gar eine Verschwörung, heißt es nun. »Die Staatsanwaltschaft ist nicht auf der Seite der Gerechtigkeit. Sie strebt [...] Rache gegen Marine Le Pen an«, behauptete beispielsweise der RN-Vorsitzende Jordan Bardella per Twitter/X. »Diese skandalösen Forderungen nach einer Verurteilung zielen darauf ab, Millionen von Franzosen ihrer Stimme [bei der Präsidentschaftswahl] 2027 zu berauben. Das ist ein Angriff auf die Demokratie.« Zeitgleich wurde der Hashtag #jesoutiensmarine (Ich unterstütze Marine) in rechtsradikalen Kreisen massiv geteilt. Der Rassemblement National hat inzwischen auch eine Petition zur »Verteidigung von Marine« auf seiner Website veröffentlicht. Auch dort werden die Ermittlungen als »Versuch, die Stimme der wahren Opposition auszuschalten« bezeichnet.
»Es ist wenig überraschend, dass eine angeklagte Le Pen ihre ohnehin aggressive Kritik an den französischen Gerichten verschärft. Der RN attackiert seit Jahren, dass das angeblich laxe Justizsystem, Straftäter ›zu nachsichtig‹ behandelt würde.«
Auch Personen, die Le Pen (offiziell) kritisch gegenüberstehen, haben Bedenken hinsichtlich einer möglichen Verurteilung geäußert. Christian Estrosi, Mitglied der rechtsliberalen Partei Horizons (die im Parlament inzwischen mit den Macronisten verbündet ist), rief das Parlament bereits auf, die Regelung für eine automatische Aberkennung des passiven Wahlrechts abzuschaffen. Er sprach von einem »gefährlichen Prinzip, das die demokratische Debatte abwürgt«. Auch der frühere Innenminister Gérald Darmanin, der sich vor seiner möglichen Präsidentschaftskandidatur 2027 offenbar schon einmal Unterstützung von rechts sichern will, schrieb auf Twitter/X: »Es wäre wirklich schockierend, wenn Marine Le Pen für nicht wählbar erklärt würde [...] Lasst uns keine Angst vor der Demokratie haben und aufhören, den Graben zwischen den ›Eliten‹ und der großen Mehrheit unserer Bürgerinnen und Bürger noch weiter zu vertiefen.« Macrons Ex-Innenminister legt damit ein seltsames Verständnis von Demokratie und der Rolle der Gerichte in einem Staat mit Gewaltenteilung an den Tag.
Fabrice Arfi, leitender Redakteur für investigative Berichterstattung beim Portal Mediapart (das die Le-Pen-Affäre seit ihrem ersten Bekanntwerden akribisch verfolgt hat), kritisierte hingegen in einem Interview mit France 5, die reinen Fakten im Verfahren würden durch die Bekanntheit der Angeklagten in den Hintergrund gedrängt. »Seit sage und schreibe 13 Jahren wird in dieser Angelegenheit ermittelt; aber in den Morgen- und Abendnachrichten wurde darüber nicht berichtet«, so Arfi. »Das Problem ist nicht, dass eine politische Partei der Veruntreuung von Geldern beschuldigt wird [...]. Das Problem ist, dass Marine Le Pen einfach beschließen kann, daraus einen politisierten Skandal zu machen.«
Dabei ist es wenig überraschend, dass eine angeklagte Le Pen ihre ohnehin aggressive Kritik an den französischen Gerichten verschärft. Der RN attackiert seit Jahren, dass das angeblich laxe Justizsystem, Straftäter »zu nachsichtig« behandelt würde. Die Rechten befürworten unter anderem automatische »Mindeststrafen«, um den Ermessensspielraum der Richterinnen und Richter einzuschränken. Darüber hinaus wird die Justiz beschuldigt, ein angemessen hartes Vorgehen gegen die Migration nach Frankreich zu blockieren. So löste die Entscheidung des Verfassungsrates vom Januar, einige der strengsten Elemente eines Einwanderungsgesetzes aus dem Jahr 2023 zu blockieren, bei der radikalen Rechten einen Sturm der Entrüstung aus. Da ist es kein großer Schritt mehr, Le Pen zur Märtyrerin und zum Opfer angeblich politisch motivierter Staatsanwälte zu machen. Das wird sich die radikale Rechte in den kommenden Wochen und Monaten nicht nehmen lassen – selbst, wenn die Richter in ihrem Urteil die Strafforderungen der Staatsanwaltschaft deutlich zurückschrauben sollten.
Einige Kommentatoren spekulieren derweil, dass Le Pens rechtliche Probleme ein Grund für die Spannungen zwischen der RN-Fraktion im Parlament und der von ihr geduldeten Minderheitsregierung unter Premier Michel Barnier sind. Für die seit September stehende, aber überaus wackelige Regierung Barnier geht es nun in die entscheidenden Diskussionsrunden über das Haushaltspaket 2025. Da ihm die Mehrheit im Parlament nicht sicher ist, könnte der Premierminister sich bald gezwungen sehen, das entsprechende Finanzgesetz durch eine besondere Verfassungsbestimmung, den sogenannten Artikel 49.3, zu verabschieden.
Sollte diese Bestimmung angewendet werden, würde Barnier im Gegenzug ein Misstrauensvotum ins Haus stehen. Le Pen und ihre rechten Verbündeten haben in den vergangenen Tagen zunehmend ihre Bereitschaft bekundet, eine solche Regelung anzunehmen. Konkret heißt das: Wenn die radikale Rechte und die linksgerichtete Nouveau Front Populaire einen solchen Antrag zum Haushalt unterstützen, hätten sie gleichzeitig auch die Stimmen, um die Regierung zu stürzen. Barnier befinde sich daher »auf dem besten Wege« zum Ende seiner Amtszeit, warnte der RN-Vorsitzende Bardella am 18. November.
Der RN dürfte nun versuchen, den Haushaltsstreit für seine Zwecke auszuschlachten; Marine Le Pen wird den Preis für ihre weitere Unterstützung von Barniers angeschlagener Führung sicherlich in die Höhe treiben.
Harrison Stetler ist ein freier Journalist und Lehrer aus Paris.