06. September 2024
Emmanuel Macron hat Michel Barnier zum Ministerpräsidenten Frankreichs ernannt, nachdem Marine Le Pen ihm ihre Unterstützung zugesichert hatte. Eine neue Regierung, die auf ihren Segen angewiesen ist, ist ein weiterer Schritt auf dem Weg der radikalen Rechten zur Macht.
Emmanuel Macron posiert mit Michel Barnier in Paris, 31. Januar 2020.
Als am 30. Juni die Ergebnisse der ersten Wahlrunde in Frankreich eintrudelten, war der altgediente gaullistische Politiker Michel Barnier geschockt: Seine Republikaner (Les Républicains) schienen auf ein Debakel zuzusteuern und weniger als sieben Prozent der Stimmen zu erreichen. Im Vorfeld der Wahl war es in der Partei zur Spaltung gekommen. Eine lautstarke Minderheit ging ein Bündnis mit Marine Le Pens Rassemblement National (RN) ein. Barnier stellte sich gegen die Abweichler, warnte aber ebenso vor einer Gefahr von links für die Republik.
In der zweiten Wahlrunde, so betonte er, müsse »eine Brandmauer sowohl gegen LFI [die linke La France Insoumise von Jean-Luc Mélenchon] als auch gegen den RN errichtet werden«. Damit erteilte er auch der Idee einer »republikanischen Front«, in der sich Vertreter aller demokratischen Parteien gegen die radikale Rechte zusammenschließen, eine Absage. In Dutzenden Wahlkreisen kam es bei den Stichwahlen am 7. Juli zum direkten Duell zwischen La France Insoumise und Le Pens RN. Dabei entschieden sich nicht wenige Wählerinnen und Wähler der Republikaner für die rechtsradikale Option. Das zeigt, dass viele Konservative den RN nicht mehr als inakzeptabel ansehen, sondern die rechte Partei sogar gemäßigten sozialdemokratischen und grünen Kräften vorgezogen wird.
Diese Republikaner-Wählerschaft war letztlich nicht ausreichend, um Le Pen eine Mehrheit zu verschaffen. Die meisten Linken (und etwas mehr als die Hälfte der Zentristen) stimmten wie geplant taktisch ab, um den Rechten den Aufstieg zur Macht zunichtezumachen. Letztendlich erhielt das linke Bündnis Nouveau Front Populaire (NFP) 192 Sitze, Macrons Allianz 166 und das Le-Pen-Lager 142. Dadurch kam es zur Pattsituation in der Nationalversammlung, in der nun drei große Blöcke existieren.
Schon bald ermöglichte Präsident Macron es aber der radikalen Rechten, erneut die Initiative zu ergreifen. Mit der Ernennung Barniers zum Premier ist der RN nun der »Königsmacher«: Ohne rechte Unterstützung oder zumindest Duldung der neuen Führung geht es schlichtweg nicht.
In der vergangenen Woche hatte der Präsident eine Regierung unter Führung des Linksbündnisses ausgeschlossen. Gleichzeitig beriet er sich mit Le Pen, um deren Zustimmung einzuholen, bevor eine neue Mitte-Rechts-Regierung gebildet würde. Le Pen drohte dabei mit Misstrauensvoten gegen potenzielle Kandidaten, die mit gemäßigten Linken oder auch mit in ihrer Partei verhasste Konservativen wie Xavier Bertrand zusammenarbeiten könnten. Gegenüber Macron versicherte Le Pen, sie würde einer Regierung Barnier zumindest nicht sofort das Misstrauen aussprechen. Öffentlich forderte sie derweil, die neue Regierung müsse die Agenda des RN sowie den Willen seiner über zehn Millionen Wählerinnen und Wähler »respektieren«.
Als Macron im Juni (trotz der damals katastrophalen Umfragewerte seiner Partei) Neuwahlen ausrief, schien es, als wolle er einen Weg finden, die radikale Rechte unter seiner Präsidentschaft in Regierungsverantwortung zu bringen und auf diese Weise einzuhegen. In den Umfragen vor der Wahl schien ein RN-Sieg höchstwahrscheinlich. Diese Prognosen wurden mit der zweiten Wahlrunde am 7. Juli scheinbar widerlegt. Doch letztendlich war die Einschätzung richtig: Barnier – und seine lediglich viertgrößte Fraktion in der Nationalversammlung – soll nun als Verbündeter Macrons Premierminister sein, ist aber vor allem und ganz offensichtlich von der Gunst Le Pens abhängig.
»In jedem Fall können wir davon ausgehen, dass dieses aktuelle Arrangement nur von kurzer Dauer sein wird.«
Die Linke kritisiert die Entscheidung für Barnier und wittert Verrat an den Wahlerfolgen der NFP. Mélenchon wirft Macron vor, »das Ergebnis der Wahl, die er selbst ausgerufen hat, zu leugnen«. Die Fraktionsvorsitzende von La France Insoumise im Europaparlament, Manon Aubry, sagte ihrerseits, die Wahlergebnisse seien »damit einfach ausradiert« worden. Barnier sei nun »Ministerpräsident mit dem Segen der extremen Rechten«.
Einige Mitglieder des rechten Flügels der Sozialistischen Partei mögen eine breit aufgestellte Regierung aus Mitte-Links und Mitte-Rechts befürwortet haben. Die größten Teile der Parteien in der NFP betonen jedoch weiterhin, das Ergebnis vom 7. Juli zeige, dass die Bevölkerung eine Linkswende will.
Die Bildung einer Regierung mit Le Pens Duldung ist eine weitere Etappe bei der »Integration« einer rechtsradikalen Partei durch die Eliten, die einst geschworen hatten, sie zu bekämpfen. Macrons Wahl ist aus seiner Sicht natürlich die pragmatischste Option: Barnier wurde ausgewählt, um möglichst bald den neuen Haushalt zu verabschieden – eine schwierige Aufgabe, nicht nur wegen der Kräfteverhältnisse im zersplitterten französischen Parlament, sondern auch angesichts der drohenden EU-Disziplinarverfahren. Frankreich hat in absoluten Zahlen die höchsten Schulden in der EU und ein Defizit von 5,5 Prozent des BIP. Abgesehen von seinem Ruf als EU-Kenner, der sich in Brüssel durchaus beliebt machen kann, hat der Ex-Kommissar Barnier sicherlich größere Chancen als die Linke, eine Parlamentsmehrheit für seine Ausgabenpläne zu finden. Dabei könnten sich beispielsweise die RN-Abgeordneten enthalten (wobei sie aber selbst Kürzungen im Staatsbudget fordern).
Darüber hinaus sind einige von Barniers Positionen, die er in seinem Wahlkampf zu den Präsidentschaftswahlen 2022 vertreten hat, für eine Annäherung an das Le-Pen-Lager bestens geeignet. Damals schlug er ein drei- bis fünfjähriges »Moratorium« für Migration in die EU, die Rückkehr zum verpflichtenden Wehrdienst und den Einsatz der Armee in Kommunen vor, in denen die Polizei angeblich die Kontrolle verloren habe. Als Reaktion auf seine Ernennung rief Le Pens Nichte Marion Maréchal den neuen Premier auf, seine Versprechen aus der Vergangenheit nun umzusetzen. Wie die meisten republikanischen Politiker spricht sich Barnier außerdem für eine Beibehaltung des aktuellen Renteneintrittsalters von 65 Jahren aus.»
Mit ihrer Entscheidung, Barnier zu dulden, will Le Pen demonstrieren, dass sie Verantwortung für den Staat übernehmen kann. Einen (wenn auch etwas eingeschränkten) Vergleich könnte man mit Giorgia Meloni ziehen. Diese hatte 2021/22 in Italien die »Regierung der nationalen Einheit« unter Führung des früheren EZB-Chefs Mario Draghi geduldet. Meloni betonte dabei stets, sie werde sich »konstruktiv« verhalten und die Parteipolitik hintanstellen – und vermied tatsächlich allzu heftige Kritik an der Technokraten-Regierung. Diese Haltung ermöglichte es Melonis Partei Fratelli d’Italia, von den anderen Parteien enttäuschte Wähler (praktisch alle konservativen und rechten Alternativen waren Teil von Draghis Koalition) für sich zu gewinnen, während sie sich gleichzeitig als seriös, staatstragend und regierungsfähig darstellen konnte.
»Die Brandmauer in Frankreich ist bereits gefallen.«
Doch es gibt auch Unterschiede: Anders als im italienischen Fall muss sich die französische radikale Rechte mit einer starken linken Konkurrenz auseinandersetzen. Letztere wird mit Sicherheit skandalisieren, wenn der RN eine unsoziale Austeritätspolitik Barniers mitträgt. Dabei ist der aktuelle Zeitpunkt entscheidend: angesichts der Schuldenstände drohen bereits Sparmaßnahmen. Hinzu kommen die Fingerzeige aus Brüssel sowie der Fakt, dass die EU-Schuldengrenzen nach ihrer Aussetzung aufgrund der Pandemie wieder greifen. Wenn man nach dem jüngsten Wahlkampf geht, dürfte der RN wahrscheinlich mit einer zweischneidigen Strategie vorgehen: So würde man einerseits Nachsicht und ein Entgegenkommen seitens der EU fordern und gleichzeitig »hinnehmen«, dass teure Pläne wie eine Senkung des Rentenalters »leider erst einmal hintangestellt werden müssen«. Andererseits wird man aktiv auf radikale Kürzungen in bei den Rechten unbeliebten Bereichen drängen.
In jedem Fall können wir davon ausgehen, dass dieses aktuelle Arrangement nur von kurzer Dauer sein wird. Le Pen wird sich nicht für den gesamten Zeitraum bis zu den Präsidentschaftswahlen 2027 in dieser Position binden. Die neue Führung ist eine Notstands- oder Übergangsregierung. Sie hat keine Mehrheit in der Nationalversammlung und es ist gut möglich, dass ihre Amtszeit bereits in zehn Monaten mit erneuten Neuwahlen zu Ende geht.
Es könnte sein, dass Le Pen sich selbst in eine Sackgasse manövriert hat und Teile ihrer Basis eine unnachgiebige Opposition statt Duldung gegen Barnier fordern werden. Wahrscheinlicher ist aber, dass der Rassemblement National in seiner neuen Position noch mehr Einfluss auf die französische Regierung ausüben wird. In diesem Sinne ist die Brandmauer in Frankreich bereits gefallen.
David Broder ist Europa-Redakteur von JACOBIN und Autor von Mussolini’s Grandchildren: Fascism in Contemporary Italy (Pluto Press, 2023).