22. August 2025
In Deutschland wird so viel vererbt wie noch nie. Warum es eine progressive Einkommenssteuer gibt, während Vermögen und Erbschaften beinahe unangetastet bleiben, erklärt Martyna Linartas im Gespräch.
Gegen die Einführung einer Vermögensteuer wird hart lobbyiert, erklärt Linartas.
Die CDU rüttelt an der 40-Stunden-Woche: Um den Wohlstand der Bundesrepublik zu sichern, müssten alle mehr arbeiten. Doch aus Lohneinkommen entsteht kein Vermögen. Stattdessen wird in Deutschland mehr vererbt und verschenkt als je zuvor. Warum ist das so – und wie ließe es sich ändern?
Martyna Linartas forscht zu Vermögensungleichheit, Besteuerung und Reichtum. In ihrem Buch Unverdiente Ungleichheit zeichnet sie nach, wie stark in Deutschland Vermögen vererbt wird und welche politischen und gesellschaftlichen Folgen das hat. Ein Gespräch über Erbschaftsteuern, Mythen über Betriebsvermögen – und die Frage, ob ein Grunderbe eine gerechte Zukunftsvision sein kann.
Selbst SPD-Finanzminister und Vizekanzler Lars Klingbeil zieht nun eine höhere Besteuerung von Vermögenden und Spitzenverdienern in Betracht. Wie schätzt Du das ein? Die SPD hat sich ja auch unter der vorherigen Regierung, als sie den Kanzler stellte, zu keiner Vermögensteuer hinreißen lassen.
Eben, das ist der eine Grund, der meine Hoffnung stark schmälert. Und zweitens ziehen Finanzminister Klingbeil und Bundeskanzler Merz in Steuerfragen nicht an einem Strang – wie der jüngste Vorstoß von Merz gezeigt hat, als er für sage und schreibe einen Tag davon sprach, er wolle die globale Mindeststeuer für große Unternehmen aussetzen. Bei einem solchen Tauziehen der Regierung wird sich nichts bewegen. Hinzu kommt, dass der Bundesrat ein wichtiges Wörtchen mitzureden hat: Die Bundesregierung alleine reicht nicht, auch die Länder müssten mitziehen. Und diese sind überwiegend von der Union geführt.
Deutschland ist eine Erbengesellschaft, keine Leistungsgesellschaft – das schreibst Du in Deinem Buch Unverdiente Ungleichheit. Inwiefern tragen Erbschaften zur Ungleichheit bei, insbesondere bei Vermögen?
Die Vermögensungleichheit und der Anteil von Erbschaften sind auf einem historischen Höchststand. Und statt gegenzusteuern, wird das unter dem Vorwand »gut für die Wirtschaft« verteidigt. Es heißt: Höhere Steuern gefährden Arbeitsplätze oder treiben Unternehmen ins Ausland. Doch das sind Mythen – vielfach wissenschaftlich widerlegt, auch von der OECD und dem Wissenschaftlichen Beirat beim Bundesfinanzministerium. Trotzdem halten viele Politikerinnen und Politiker daran fest – wider besseres Wissen. Akteure wie Friedrich Merz oder Lars Klingbeil vertreten weiterhin die Trickle-Down-Idee, obwohl die Forschung sie längst widerlegt hat.
»75 Prozent des Vermögens von Milliardärinnen und Milliardären in Deutschland besteht aus Erbschaften oder Schenkungen.«
Erbschaften und Schenkungen machen inzwischen mehr als die Hälfte des Vermögens aus – Tendenz steigend. Das heißt: Immer weniger zählt der eigene Beitrag zur Gesellschaft, sondern ob man Glück oder Pech in der sogenannten Spermalotterie hatte – ich sage bewusst Spermalotterie, weil große Vermögen meist über den Vater oder Großvater vererbt werden. Fast 70 Prozent aller Millionärinnen und Millionäre in Deutschland sind westdeutsche Männer über 50.
Je weiter man in der Vermögensverteilung nach oben geht – in den Millionen- oder Milliardenbereich –, desto zentraler werden Erbschaften. Forbes veröffentlichte im Juni neue Zahlen: 75 Prozent des Vermögens von Milliardärinnen und Milliardären in Deutschland besteht aus Erbschaften oder Schenkungen. Der Elitenforscher Michael Hartmann schätzt den Anteil sogar auf 80 Prozent. Deutschland liegt damit international an der Spitze.
Seit Aussetzung der Vermögensteuer gibt es keine amtliche Erhebung über große Vermögen in Deutschland. In der ZDF-Doku Die Geheimwelt der Superreichen ging es unter anderem um die Familien Böhringer und von Baumbach, die neben Lidl-Eigentümer Dieter Schwarz wohl zu den reichsten Familien Deutschlands gehören, aber kaum jemand kennt.
Diese Familien wollten nicht in der Reichenliste des Manager Magazins erscheinen – also wurden sie nicht geführt. So einfach ist das. Bei Böhringer und von Baumbach ist von einem Vermögen zwischen 52 und 101 Milliarden Euro die Rede. Lange Zeit kannte sie kaum jemand. Der Rechercheur Andreas Bornefeld hat deshalb mit dem Netzwerk Steuergerechtigkeit einen alternativen Reichtumsbericht erstellt – die Grundlage für die Doku von Julia Friedrichs und Jochen Breyer. Trotz solcher Recherchen bleibt vieles im Dunkeln. Wir wissen nicht, wie extrem der Überreichtum tatsächlich ist.
Wir sind auf Schätzungen angewiesen, etwa jene Reichenliste des Manager Magazins. Ein wichtiger Fortschritt war die Studie »MillionärInnen unter dem Mikroskop« von Carsten Schröder und Kolleginnen und Kollegen vom Deutschen Institut für Wirtschaftsforschung aus dem Jahr 2020. Ergänzend zum Sozioökonomischen Panel haben sie eine Zusatzstichprobe für Hochvermögende erhoben und versucht, Datenlücken mit mathematischen Modellen zu schließen – etwa im Abgleich mit der Reichenliste.
Das Ergebnis: Das reichste 1 Prozent besitzt nicht 22, sondern über 35 Prozent des Vermögens. Man hatte sich also deutlich verschätzt. Das zeigt, wie groß die Datenlücken sind – und wie wichtig es wäre, die Vermögensteuer selbst bei einem Steuersatz von 0 Prozent schon zur Datenerhebung wieder einzuführen, um darauf politische Diskussionen und Forderungen zu stützen.
In Deutschland ist der Gini-Koeffizient, der Ungleichheit misst, bei Vermögen deutlich höher als bei Einkommen – auch aufgrund der unterschiedlichen Besteuerung. Denn bei Einkommen greift in Deutschland ein verhältnismäßig progressiver Steuersatz, der die Ungleichheit zwischen den Einkommen reduziert, zumindest in Bezug auf den Netto-Betrag. Dient die progressive Einkommensteuer als Feigenblatt, um zu zeigen: Schaut, wir besteuern doch die Wohlhabenden mehr – und gleichzeitig davon abzulenken, dass man eben dies bei Vermögen und Erbschaften nicht ausreichend tut?
Genau. Wir reduzieren die Einkommensungleichheit deutlich durch progressive Steuern. Das Wort »Steuern« im Deutschen erlaubt ein schönes Wortspiel – durch Einkommenssteuer steuern wir gegen die Einkommensungleichheit. Genauso könnten wir mit einer Vermögensteuer gegen Vermögensungleichheit ansteuern. Und mit der Erbschaftsteuer gegen die Erbengesellschaft.
Doch stattdessen konzentriert sich die Debatte fast nur aufs Einkommen aus Lohnarbeit – obwohl das bei den Reichsten kaum noch eine Rolle spielt. Je vermögender man ist, desto seltener stammen die Einkünfte aus Arbeit. Das oberste 1 Prozent – rund 900.000 Menschen – lebt vor allem von Kapitalerträgen.
»Seit der Weimarer Republik gab es keine derartige Privilegierung von Betriebsvermögen, wie es heute der Fall ist.«
Da greift die Einkommensteuer kaum. Wer Reichtum gerecht besteuern will, muss direkt ans Vermögen ran – dafür braucht es eine Vermögensteuer. Und genau dagegen richtet sich der massive Widerstand der Finanzlobby. Das steht im starken Gegensatz zur öffentlichen Meinung: In der Bevölkerung gibt es eine klare Mehrheit für die Wiedereinführung. Auch zivilgesellschaftlich ist viel passiert. Die Allianz »Vermögen besteuern jetzt« begann mit 22 Organisationen – inzwischen sind wir über 30.
Wer lobbyiert gegen Vermögen- und Erbschaftsteuern?
Es gibt mächtige Lobbygruppen, die den Status quo verteidigen. Im Bereich Erbschaftsteuer sind das vor allem die »Stiftung Familienunternehmen«, dazu kommt der Verein »Die Familienunternehmer«, früher ASU (Arbeitsgemeinschaft Selbständiger Unternehmer). Die Umbenennung war strategisch klug gewählt: »Familienunternehmer« klingt, als wären sie die Sympathieträger des ganzen Landes.
Hinter diesen Gruppen stehen große Konzerne – sie sind die Speerspitze der Finanzlobby. Und das ist die mächtigste Lobby in Deutschland, nicht die Auto- oder Chemiebranche. Die Finanzlobby konzentriert sich auf den entscheidenden Hebel: die Steuergesetzgebung. Die NGO LobbyControl hat das ausführlich dokumentiert. Das Ziel dieser Konzerne: eine möglichst schwache oder privilegierende Erbschaftsteuer – und das ist aktuell der Fall. Seit 2009 sind dem Staat dadurch über 87 Milliarden Euro entgangen.
2009 wurde die Erbschaftsteuer reformiert und 2016 ein weiteres Mal. Das Bundesverfassungsgericht kritisierte jeweils bestimmte Aspekte der Erbschaftssteuer. Die Regierenden schwächten letztere dann als Antwort darauf. Wie sah dieser Prozess politisch aus?
Seit Ende der 1990er gab es drei große Reformen: 1997, 2009 und 2016. Jedes Mal kritisierte das Bundesverfassungsgericht, dass bestimmte Vermögensarten – vor allem Betriebsvermögen – zu stark privilegiert wurden. Das widerspricht dem Gleichheitsgrundsatz in Artikel 3 des Grundgesetzes.
Zunächst ging es um Immobilien, die viel zu niedrig bewertet wurden. Das war auch ein Grund für die Aussetzung der Vermögensteuer – nicht die Steuer selbst, sondern die mangelhafte Bewertung. Das Gericht forderte Korrekturen, doch politisch wurde das genutzt, um neue Ausnahmen einzubauen – vor allem für Betriebsvermögen. Seit 1906 gab es in Deutschland eine einheitliche Erbschaftsteuer, aber nie zuvor wurden Betriebsvermögen so stark begünstigt wie heute.
Seit Anbeginn konnte man Steuerzahlungen bei Betriebsvermögen großzügig stunden, um Arbeitsplätze zu schützen – das war nachvollziehbar. Aber 2016 kam mit der sogenannten Verschonungsbedarfsprüfung die Möglichkeit, sich bei großen Betriebsvermögen »arm« zu rechnen – und kaum oder keine Steuer zu zahlen.
»Die CDU-geführte Regierung beschloss damals, dass Vermögende 50 Prozent ihres Vermögens abgeben müssen.«
Das wirkt technokratisch, betrifft aber enorme Summen. Marxistinnen und Marxisten würden sagen: Betriebsvermögen sind Produktionsmittel. Und die sind extrem ungleich verteilt – die reichsten 1,5 Prozent halten über 86 Prozent davon. Genau dieses Vermögen wird steuerlich fast komplett verschont. Seit der Weimarer Republik gab es keine derartige Privilegierung von Betriebsvermögen, wie es heute der Fall ist. So zementieren sich Familiendynastien über Generationen. Wir leben zunehmend in einem Neofeudalismus – nicht mehr über blaues Blut, sondern durch Geldadel.
In Deinem Buch beschreibst Du auch die Geschichte der Erbschaftsteuer in der Weimarer Republik, etwa im Zusammenhang mit Matthias Erzberger, der 1921 von Rechtsradikalen ermordet wurde. In der Weimarer Verfassung stand erstmals der Satz »Eigentum verpflichtet«, auf den sich heute etwa bei der Vergesellschaftungsdebatte bezogen wird. Welches Steuerverständnis herrschte damals vor?
Ein ganz anderes als heute. Die Frage, welches Wirtschaftssystem man anstrebt, wurde offen diskutiert – auch auf der Regierungsbank. Debatten um »Kapitalismus oder Sozialismus« waren viel präsenter. Passagen in der Weimarer Verfassung wie »Eigentum verpflichtet« oder »soll dem Wohle der Allgemeinheit dienen« boten politischen Spielraum – je nach Lager. Am Ende setzte sich zwar der Kapitalismus durch, aber das starke linke Lager sorgte dafür, dass er anfangs stärker reguliert wurde.
Erzberger selbst war kein Sozialist, aber er hatte ein egalitäres und demokratisches Verständnis von Steuern. In seiner Antrittsrede sagte er: »Ein guter Finanzminister ist der beste Sozialisierungsminister.« Für ihn waren Steuern kein rein fiskalisches Mittel, sondern ein zentrales Instrument für Gerechtigkeit und gesellschaftliche Teilhabe. Natürlich spielte auch der finanzielle Druck nach dem Ersten Weltkrieg eine Rolle – etwa durch die Reparationsforderungen. Doch in den Parlamentsdebatten wird deutlich: Erzberger stellte Gerechtigkeit und Demokratie in den Mittelpunkt – nicht nur die Staatskasse.
Wie sah es nach dem Zweiten Weltkrieg aus? Gab es vergleichbare Mechanismen zur Verringerung von Ungleichheit wie nach dem Ersten Weltkrieg?
Ja, auch damals war das Gerechtigkeitsempfinden in der Bevölkerung stark ausgeprägt. Die Alliierten führten zunächst sehr hohe Steuersätze ein – etwa einen Spitzensteuersatz bei der Einkommensteuer von 95 Prozent. Auch die Erbschaftsteuer lag deutlich höher.
Als die Verantwortung wieder bei der deutschen Regierung lag, wurden die Sätze gesenkt – aber von einem sehr hohen Niveau aus. Und es gab ein Instrument, das heute kaum noch bekannt ist: die Vermögensabgabe im Rahmen des Lastenausgleichsgesetzes von 1952. Die CDU-geführte Regierung beschloss damals, dass Vermögende 50 Prozent ihres Vermögens abgeben müssen – in Raten über dreißig Jahre. De facto war das eine zusätzliche Vermögenssteuer.
In Kombination mit einer progressiven Einkommensteuer und einer niedrigen Mehrwertsteuer führte das dazu, dass die Vermögensungleichheit deutlich zurückging. Ein zentrales Ergebnis der Forschung lautet: Es waren nicht Krieg oder Zerstörung, die für mehr Gleichheit sorgten, sondern ein gezielt eingesetztes, progressives Steuersystem.
In Deinem Buch schlägst Du das Konzept eines Grunderbes vor. Was verbirgt sich genau dahinter, und warum ist das aus Deiner Sicht ein sinnvoller Ansatz?
Das Grunderbe basiert für mich auf zwei Säulen. Erstens: Es wäre ein wirksames Instrument, um Ungleichheit schnell zu reduzieren. Die Vermögensungleichheit ist so extrem, dass eine bloße Besteuerung der Spitze nicht reicht – wir müssen auch den Vermögensaufbau von unten fördern.
Zweitens geht es um Gerechtigkeit. Vermögen wird oft als individuelle Leistung dargestellt, als sei es der verdiente Ertrag von Menschen, die besonders risikobereit und innovativ sind. Aber setz mal jemanden, der hier Milliardär geworden ist, allein in der Wüste aus – dort kann er kein Vermögen aufbauen. Vermögen ist fast immer kollektive Leistung, etwa in Form von Betriebsvermögen, an dem viele Menschen beteiligt sind.
Ein Grunderbe, finanziert über eine reformierte Erbschafts- oder Vermögenssteuer, könnte je nach Modell zwischen 20.000 und 190.000 Euro pro junger Person betragen – ausgezahlt mit 18 oder 25 Jahren. Wüssten Jugendliche, dass sie mit 18 oder 25 ein Grunderbe erhalten, könnten sie langfristiger planen, Projekte starten, sich selbstständig machen oder Wohnprojekte gründen. Bei meinen Lesungen war beeindruckend, wie viele kreative Ideen entstanden, wenn junge Menschen ein Startkapital in Aussicht hatten, auch ohne vermögende Eltern. Ein Grunderbe könnte Kindern aus Alleinerziehenden-Haushalten oder mit Migrations- und Fluchtgeschichte echte Chancen ermöglichen.
Es wäre zudem das erste Mal, dass die ärmere Hälfte der Bevölkerung in Deutschland nennenswertes Vermögen bekäme. Selbst in Zeiten geringerer Ungleichheit gab es dafür kaum Chancen. Viele große Vermögen hier stammen zudem aus kolonialen oder NS-Zusammenhängen.
Doch ein Grunderbe greift nicht an der Wurzel des Problems an – also dem Verhältnis von Arbeit und Kapital.
Ich glaube nicht, dass ein einzelnes Instrument das ganze System überwinden kann. Das Grunderbe ist nur eines von vielen Werkzeugen. Wir brauchen ein ganzes Maßnahmenpaket – wie beim Hausbau mehr als nur einen Hammer.
Anthony Atkinson, ein führender Ungleichheitsforscher, hat in seinem Buch Ungleichheit. Was wir dagegen tun können fünfzehn Maßnahmen vorgeschlagen. Das Grunderbe war nur eine davon. Es geht darum, an vielen Stellen anzusetzen: Vermögensteuern nach oben hin, progressivere Einkommensteuern, bessere öffentliche Infrastruktur, armutsfeste Kindergrundsicherung, armutsfeste Löhne, kostenloser ÖPNV, bezahlbarer Wohnraum – all das gehört zusammen.
Ich sehe das Grunderbe nicht als Allheilmittel, sondern als konkreten Vorschlag, der helfen kann, die massive Vermögensungleichheit anzugehen – und vielleicht unsere Vorstellungen von Besitz, Leistung und Gerechtigkeit neu zu denken.
Martyna Berenika Linartas ist Doktorandin am Exzellenzcluster »Contestations of the Liberal Script (SCRIPTS)« an der Freien Universität Berlin. Sie ist Gründerin und Projektleiterin von ungleichheit.info, einer Initiative, die Wissen zu Ungleichheit allgemeinverständlich vermittelt.