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04. Oktober 2025

Sheinbaums erstes Amtsjahr war ein Triumph

Mexikos Präsidentin Claudia Sheinbaum zeigt: Der Ausbau von Infrastruktur und Sozialstaat ist ein Erfolgsmodell. 3.000 Kilometer neue Eisenbahnschienen, 1,8 Millionen neue Wohnungen und Zustimmungswerte um 80 Prozent sprechen für sich.

Claudia Sheinbaum hält eine Rede im Nationalpalast anlässlich des 215. Jahrestages der mexikanischen Unabhängigkeit in Mexiko-Stadt, 15. September 2025.

Claudia Sheinbaum hält eine Rede im Nationalpalast anlässlich des 215. Jahrestages der mexikanischen Unabhängigkeit in Mexiko-Stadt, 15. September 2025.

IMAGO / aal.photo

Am 15. September trat die erste Präsidentin in der Geschichte Mexikos, Claudia Sheinbaum, auf den Hauptbalkon des Nationalpalastes von Mexiko-Stadt und rief den grito de dolores. Ganz im Sinne der Initiative ihrer Regierung, bisher ignorierte Frauen der mexikanischen Geschichte zu würdigen, nahm sie Personen wie die an der Revolution 1810 beteiligten Josefa Ortiz Téllez-Girón und Leona Vicario sowie Manuela Molina, die als »La Capitana« kämpfte, in die Liste der Unabhängigkeitshelden auf.

Bei jeder Nennung brach die dicht gedrängte Menschenmenge auf dem Zócalo, dem zentralen Platz von Mexiko-Stadt, in Beifallsrufe aus. In ihren Augen war das erste Amtsjahr von Präsidentin Sheinbaum ein voller Erfolg.

Kontinuität und Innovation

Die Zeremonie bildete den Abschluss einer ereignisreichen zweiwöchigen Kampagne, mit der die Regierung Sheinbaum ihr einjähriges Jubiläum im Amt beging. Am 1. September hielt die Präsidentin ihre erste informe, Mexikos Pendant zur US-amerikanischen Rede zur Lage der Nation. Danach begab sie sich auf eine Reise, um in jedem der 32 Bundesstaaten weitere informes zu halten.

Und es gab viel Positives zu berichten: Nach den neuesten Statistiken wurden während der Amtszeit ihres Vorgängers Andrés Manuel López Obrador (AMLO) 13,4 Millionen Mexikanerinnen und Mexikaner aus der Armut befreit. Der Gini-Koeffizient ist von 0,426 auf 0,391 gesunken. In Sheinbaums erstem Amtsjahr wurden zahlreiche Gesetze und Verfassungsreformen verabschiedet, darunter eine Justizreform, die eine Direktwahl der Bundesrichter vorsieht, mehr Autonomie für indigene und afro-mexikanische Völker, die Ausrufung einer »mexikanischen Ära« für Frauenrechte, eine verstärkte öffentliche Kontrolle über den Energiesektor, die gesetzliche Genehmigung für die öffentliche Bereitstellung von Internetdiensten, den Bau von mehr als 3.000 Kilometern Eisenbahnschienen sowie 1,8 Millionen Wohneinheiten. Dazu kommen ein weltweit einzigartiges App-Gesetz, das Vorteile für Fahrdienst-Arbeiter bietet, und ein Verbot des Anbaus von gentechnisch verändertem Mais – wobei das Land nach einer Niederlage vor einem Streitbeilegungsgremium des USMCA (United States-Mexico-Canada Agreement) weiterhin gezwungen ist, diesen aus den USA zu importieren.

»Infrastruktur wie Eisenbahnen und Häfen soll gefördert und gleichzeitig ein Wohlfahrtsstaat aufgebaut werden, der auf verfassungsmäßig verankerten sozialen Rechten basiert – und nicht wie bisher auf kurzlebigen Zugeständnissen.«

Die makroökonomischen Statistiken sind solide, trotz der ständig drohenden Zölle, zu deren Aufschub Sheinbaum Donald Trump bereits dreimal bewegen konnte. In einigen Bereichen kann sie auf Initiativen aufbauen, die unter AMLO begonnen wurden. So wurden die jährlichen Mindestlohnsteigerungen fortgesetzt; die täglichen öffentlichen Pressekonferenzen, die mañaneras, beibehalten; das Rentenalter für Frauen auf sechzig Jahre gesenkt; die bereits existierenden Schulstipendien auf alle Klassenstufen ausgeweitet; und staatliche tiendas del bienestar (»Wohlergehensmärkte«) eingeführt, in denen Grundnahrungsmittel von Kleinerzeugern verkauft werden.

In anderen Bereichen geht Sheinbaum hingegen eigene Wege. Dazu gehören ein Programm zur häuslichen Gesundheitsversorgung für Senioren; Entwicklungsgelder für einen mexikanischen Satelliten, Halbleiter und ein elektrisches Kleinfahrzeug; die Schaffung eines Ministeriums für Frauenangelegenheiten sowie eines Ministeriums für Natur- und Geisteswissenschaften, Technologie und Innovation. Bedeutend ist außerdem ein Rückgang der Mordrate in Mexiko um 25 Prozent.

Vor diesem Hintergrund ist es nicht verwunderlich, dass Sheinbaum eine konstante Zustimmungsrate von rund 80 Prozent aufweisen kann. Damit gehört sie zu den beliebtesten Staatschefs der Welt. Wo AMLO mit seiner volksnahen Art, seinem Faible für Anekdoten und Spitznamen und seiner unerschöpflichen Fähigkeit, selbstverliebte Eliten zu provozieren, als der große Fürsprecher des mexikanischen Volkes wahrgenommen worden war, hat Sheinbaum der sogenannten Vierten Transformation die dringend benötigte internationale Aufmerksamkeit verschafft.

Ein Beispiel dafür sind die Videos von ihrer informe, die auch in ausländischen sozialen Medien weit verbreitet wurden, sodass ein großer Teil der Öffentlichkeit – darunter auch gewisse Linke – nach sieben Jahren feststellen mussten, dass in Mexiko etwas wirklich Interessantes geschieht.

El Plan México

Ein erfolgreiches erstes Jahr allein dürfte jedoch weder die einschüchternden bis verstörenden Drohungenaus dem Weißen Haus verhindern noch Mexiko automatisch an die sich rasch verändernden Realitäten einer multipolaren Welt anpassen. Um dies zu erreichen, hat Sheinbaum daher den »Plan México« ins Leben gerufen – eine Initiative zur Industrieplanung und Importsubstitution, die darauf abzielt, die Führungsrolle des Staates in strategischen Bereichen wie Energie zu nutzen, um ein mexikanisch orientiertes Modell für nachhaltige Entwicklung zu fördern.

Grob gesagt soll AMLOs Einstehen für nationale Souveränität und Selbstversorgung mit einer stärkeren Betonung von Wissenschaft und Technologie verknüpft werden. So soll Infrastruktur wie Eisenbahnen und Häfen gefördert und gleichzeitig ein Wohlfahrtsstaat aufgebaut werden, der auf verfassungsmäßig verankerten sozialen Rechten basiert – und nicht wie bisher auf kurzlebigen Zugeständnissen. Darüber hinaus geht es auch um Marktdiversifizierung, um die Abhängigkeit Mexikos von seinem nördlichen Nachbar zu verringern (aktuell gehen rund 80 Prozent der mexikanischen Exporte in die USA). Dies zeigt sich unter anderem im jüngsten mexikanisch-brasilianischen Handelsgipfeltreffen.

»In Mexiko müsste man inzwischen wissen, dass die US-Regierung sich niemals mit Zugeständnissen zufrieden geben, sondern immer mehr fordern wird.«

Auf dem Papier mag dies wie genau das erscheinen, was Mexiko benötigt. In der Praxis gibt es jedoch Anlass zur Besorgnis: Die Erinnerungen an die massive Ausweitung des sogenannten Maquiladora-Modells in den 1990er Jahren sind noch frisch. Damals profitierten mexikanische Konzerne von den Zollvorteilen des Freihandelsabkommens NAFTA und den Steuererleichterungen, die mehrere aufeinanderfolgende neoliberale Regierungen gewährten. Gerade in den Grenzregionen entstand ein Gebiet mit zahlreichen schlecht bezahlten, einfachen Tätigkeiten in der Montageindustrie.

2016 versuchte der damalige konservative Präsident Enrique Peña Nieto, das chinesische Modell der Sonderwirtschaftszonen in vier der ärmsten Bundesstaaten Mexikos einzuführen. Das Projekt, dessen Schwerpunkt erneut auf kostspieligen Steuererleichterungen statt auf tatsächlichen Vorteilen für die betroffenen Kommunen lag, war ein derartiger Misserfolg, dass AMLO sie nach seiner Machtübernahme umgehend wieder abschaffte. Stattdessen baute er auf sogenannte »Entwicklungspole«, mit denen Steueranreize für soziale Entwicklungsziele in den Bereichen Wohnen, Ausbildung und Einbindung lokaler Anbieter in die Lieferketten geschaffen wurden. Die bisherigen Ergebnisse sind allerdings uneinheitlich.

Hier kommt der Plan México ins Spiel: Er bietet einen echten Schwerpunkt auf die lokale Entwicklung in Form von Wissen, Produktion, Patenten und geistigem Eigentum. Das Ziel besteht darin, ausländische Direktinvestitionen gezielt einzusetzen und mit den übergeordneten industriepolitischen Zielen in Einklang zu bringen. Lokale Industrien sollen strategisch gefestigt werden, und es soll sichergestellt werden, dass der Technologietransfer über die reine Mitarbeiterschulung hinausgeht. Anstelle eines »einfachen« Prozesses der Bereitstellung öffentlicher Infrastruktur für private Großkonzerne sollen die staatlichen Eingriffe mehr lokale Eigenständigkeit ermöglichen.

In der Praxis scheinen sich die ersten Bemühungen jedoch zu sehr auf ausländische Direktinvestitionen um ihrer selbst willen zu konzentrieren. So wird ausländischen multinationalen Konzernen wie Coca-Cola oder Nestlé ermöglicht, ihre Produktion schlicht mit dem Label »Made in Mexico« zu versehen und dies als Erfolg zu verbuchen. Kurz gesagt: Man fühlt sich nicht selten an die gescheiterten Experimente der Vergangenheit erinnert.

Der Druck der USA

Und dann ist da noch das Thema China. Im Frühjahr führte die Regierung Sheinbaum erste (vergleichsweise) moderate Zölle auf Textilien, Bekleidung, Schuhe und ausgewählte Konsumgüter ein. Als Grund wurde der Schutz der heimischen Produktion vor großvolumigen, preisgünstigen Importen angeführt. Angesichts der schwierigen Erfahrungen Mexikos, das seit Jahrzehnten mit einem ähnlichen Phänomen aus den Vereinigten Staaten zu kämpfen hat, mag dies eine nachvollziehbare Maßnahme sein.

Eine zweite Runde an Zöllen, die am 10. September angekündigt wurde, war jedoch wesentlich gravierender und umfassender. Sie betraf über 1.400 Produkte, darunter Elektronik und Automobile, mit Zöllen von bis zu 50 Prozent. Obwohl die Regierung Sheinbaum betonte, dies richte sich gegen alle exportierenden Länder, die kein Freihandelsabkommen mit Mexiko haben, ist offensichtlich, dass China das Hauptziel war. Es wäre traurig-ironisch, wenn die Zollpolitik mit dem angeblichen Ziel, die nationale Entwicklung im Rahmen des Plan México zu fördern, dazu führen würde, dass mexikanische Unternehmen von chinesischen Industriekomponenten, Fertigungsanlagen und grüner Technologie in Form von Sonnenkollektoren und Elektrofahrzeugen abgeschnitten werden. Vor allem würde Mexiko damit noch enger an die USA gebunden – und das in einem Moment, in dem die USA unter Trump in Sachen Energiewende mit voller Kraft rückwärts gehen.

»In global düsteren Zeiten macht Mexiko nicht nur beeindruckende Fortschritte bei Entwicklung, Rechten und Wohlfahrt, sondern zeigt auch, dass ein solches Projekt bei Wahlen erfolgreich sein und sogar dominieren kann.«

Man muss sich daher fragen: Inwieweit beruht die Entscheidung der mexikanischen Regierung auf legitimen industriepolitischen Erwägungen; und inwieweit war sie ein Versuch, anti-chinesische Ressentiments der USA zu bedienen und sich mit dem großen Nachbarn gut zu stellen? In letzterem Fall müsste man in Mexiko inzwischen wissen, dass die US-Regierung sich niemals mit Zugeständnissen zufrieden geben, sondern immer mehr fordern wird. Insbesondere, da die Konsultationen für eine Überprüfungs- und Anpassungsphase des UMSCA 2026 beginnen, wäre Mexiko gut beraten, sich dieser Erkenntnis mehr denn je bewusst zu sein.

Zurück zum Zócalo

Am 5. Oktober wird sich der Zócalo erneut mit Menschen füllen: Anlass ist der erste Jahrestag der Amtszeit von Präsidentin Sheinbaum. Es gibt viel zu feiern. In global düsteren Zeiten macht Mexiko nicht nur beeindruckende Fortschritte bei Entwicklung, Rechten und Wohlfahrt, sondern zeigt auch, dass ein solches Projekt bei Wahlen erfolgreich sein und sogar dominieren kann.

So wirkt das Land wie ein Leuchtfeuer gegen das Erstarken eines internationalen Neofaschismus mit besonderer Aggressivität und Gewaltaffinität. Mit Sheinbaum verfügt Mexiko zudem über eine fähige Führungskraft – sowohl im politischen als auch im technokratischen Sinne. Zudem steht sie an der Spitze einer Bewegung, die nach wie vor motiviert und mobilisiert ist.

Die Herausforderung besteht nun darin, die notwendigen Schritte in Richtung einer echten ökonomischen Souveränität zu unternehmen, die den rhetorischen Ankündigungen gerecht wird. Dafür bedarf es wohl noch mehr schwieriger Entscheidungen, die nicht mehr lange aufgeschoben werden können.

Kurt Hackbarth ist Schriftsteller, Dramatiker, Journalist und Mitbegründer des unabhängigen Medienprojekts MexElects. Derzeit arbeitet er an einem Buch über die mexikanischen Wahlen im Jahr 2018 mit.