15. Dezember 2024
Die Mormonen sind eine der treuesten Wählerschaften der US-Republikaner. Doch vor etwa hundert Jahren wollte die Glaubensgemeinschaft in Utah den Sozialismus aufbauen.
Eine Karawane von Mormonen auf dem Weg zum Salt Lake. Kupferstich, 1874.
Im Juni 1863 reiste Charles Dickens von England in die USA, die sich damals im Bürgerkrieg befanden. Ebenfalls an Bord waren einige für ihn offenbar merkwürdige Reisegefährten. Dickens zeigte sich in späteren Berichten beeindruckt von diesen Menschen, die ihm doch so gänzlich anders erschienen als seine üblichen Landsleute im viktorianischen England. Ja, es handelte sich eindeutig um arme Familien … aber sie tranken nicht, fluchten nicht und waren nicht missmutig. Und: Sie beschwerten sich nicht.
Schon nach wenigen Stunden Reisezeit hatten sich die Passagiere nicht nur kennengelernt, sondern auch alle organisatorischen Angelegenheiten untereinander ausdiskutiert; die Regeln, Vorschriften und die Arbeitsaufteilung auf dem gesamten Schiff wurden festgelegt. Diese Männer und Frauen waren gebildet, alle machten sich Notizen oder schrieben Briefe. Keine freie Minute wurde untätig verschwendet. Dickens bezeichnete sie als »die Auslese und Blüte Englands«. Er empfand diese Menschen als außerordentlich angenehm und liebenswert. Zunächst war ihm unklar, wer sie wohl sein mochten. Doch bald stellte sich heraus, dass der Schriftsteller sich auf einem Schiff mit 800 englischen und walisischen Mormonen befand. Ihr Ziel: Das Salt Lake Valley in Utah.
Das sogenannte Second Great Awakening (1790–1850) – die zweite Welle der Erweckungsbewegung – war in den USA nicht nur eine Zeit religiöser Revivals, sondern auch großer sozialer Umbrüche. Die Missionare und Prediger, die durch das weite amerikanische Land zogen, verbreiteten nicht nur neue Spielarten der Religion, sondern auch radikaldemokratische Ideen, darunter das Frauenwahlrecht, ökonomischer Egalitarismus und die Abschaffung der Sklaverei. Die Bewegungen sorgten dafür, dass neue Teilnehmer ins politische Leben der USA einbezogen wurden. Bei sogenannten Camp Meetings sprachen Prediger teils mit über 10.000 Frauen, Afroamerikanern und Migrantinnen. Freilich fanden sich bei den Veranstaltungen auch zahlreiche Trittbrettfahrer, Betrüger, Seher, religiöse Fanatiker und sonstige Glücksritter.
»Deutlich kontroverser war vermutlich, dass die Kirche Polygamie praktizierte und radikale Formen der Gleichheit predigte.«
Die alteingesessenen protestantischen Glaubensgemeinschaften wie Baptisten und Methodisten konnten in dieser Zeit tausende Neumitglieder willkommen heißen. Darüber hinaus gab es aber auch neue, kleinere Gruppen wie die Shaker oder die Adventisten. Die wohl seltsamste von ihnen wurde 1830 als Kirche Jesu Christi der Heiligen der Letzten Tage [fortan »die Kirche«] gegründet, deren Mitglieder gemeinhin als »Mormonen« bekannt sind.
Unter der Führung ihres Propheten Joseph Smith erlangten sie schnell landesweite Berühmtheit – und wurden dadurch nicht selten zu einem unmittelbaren politischen Problem. Smiths Anhänger glaubten, er habe mit Gott und Jesus gesprochen und von ihnen ein neues biblisches Testament erhalten, das in Amerika spielt, und den Titel Das Buch Mormon trägt. Deutlich kontroverser war vermutlich, dass die Kirche Polygamie praktizierte und radikale Formen der Gleichheit predigte, wenn sie die göttliche Offenbarung verkündete: »Wenn ihr in irdischen Gefilden nicht gleich seid, könnt ihr auch in himmlischen Gefilden nicht gleich sein.«
Wo auch immer die Kirche auftauchte, machte sie sich Feinde. Nachdem Smith und seine Anhänger von New York aus durch Pennsylvania gezogen waren und sich zeitweise in Ohio niedergelassen hatten (wo Smith nach einem gescheiterten Betrugsversuch später geteert und gefedert wurde), kamen sie in ein Gebiet im Nordwesten des heutigen Missouri, das sie als irdischen Garten Eden betrachteten. Dort ließen sie sich in mehreren Counties nieder, aus denen sie aber zum Teil wieder vertrieben wurden. 1831 empfing Smith in Missouri eine weitere Offenbarung Gottes. Darin heißt es: »Und ihr sollt gleich sein oder, mit anderen Worten, ihr sollt gleiche Ansprüche auf das Eigentum haben, damit ihr die Belange eurer Treuhandschaften nutzbringend verwalten könnt, ein jeder gemäß seinen Bedürfnissen und seinem Bedarf.« Das könnte ein Zitat eines jeden X-beliebigen Sozialisten der damaligen Zeit sein. Für die Kirche war es mehr: Es war das Wort Gottes.
Als die Mormonen sich auch in Missouri zunehmender Feindseligkeit gegenübersahen, bewaffneten sie sich. Es kam zu Auseinandersetzungen; der Gouverneur des Bundesstaates erließ 1838 den »Mormonen-Ausrottungsbefehl« (Mormon Extermination Order). Nach einem Massaker an achtzehn Mormonen in Hawn’s Mill flohen 15.000 mormonischen Gläubige aus dem Norden Missouris nach Illinois. Smith wurde des Landesverrats beschuldigt und mehrere Monate lang inhaftiert.
In Illinois gründeten die Mormonen ihre wichtigste Siedlung in Nauvoo. Hier wollte Smith eine permanente Lebens- und Glaubensgemeinschaft schaffen. Die Kirche erwarb Land entlang des Mississippi in der Nähe des Dreistaatenecks von Iowa, Illinois und Missouri. Die Kirche schaffte es durch die schiere Anzahl ihrer Mitglieder, eine Mehrheit in der Stadt und den benachbarten Landkreisen und somit zu einer wichtigen politischen Kraft zu werden. In nur wenigen Jahren sollte Nauvoo derart schnell wachsen, dass es in Größe und regionaler Bedeutung sogar mit Chicago konkurrieren konnte. Smith kündigte an, Präsident der USA werden zu wollen, und begann einen Wahlkampf, in dem er für die Abschaffung der Sklaverei und aller Gefängnisse, die Gleichheit aller Ethnien und die stärkere Verbreitung der Polygamie warb.
Nachdem ihn eine Zeitung kritisiert hatte, ließ Smith deren Druckerpresse zerstören und verhängte in Nauvoo das Kriegsrecht. Er wurde letztendlich verhaftet und wegen Aufwiegelung und Verrat angeklagt. 1844 wurden Joseph Smith und sein Bruder Hyrum in Carthage, Illinois, von einem wütenden anti-mormonischen Mob ermordet.
Die Mormonen schworen ihrerseits Rache an denen, die ihre Propheten getötet und sie selbst verfolgt hatten.
Apostel George Q. Cannon spricht 1872 vor der Generalkonferenz der Kirche: »Die Zeit muss kommen, in der wir dem gehorchen müssen, was uns als die Ordnung Henochs offenbart wurde: dass es unter den Heiligen der Letzten Tage keine Reichen und keine Armen geben wird; dass der Reichtum keine Versuchung sein wird; dass jeder Mensch seine Nächsten lieben wird wie sich selbst; dass jeder Mann und jede Frau für das Wohl aller genauso arbeiten wird wie für sich selbst.«
Vierzig Jahre nach Joseph Smiths Offenbarung gab es allerdings noch viel zu tun. Die Mormonen hatten seit der Gründung ihrer Kirche unterschiedliche Formen der kollektiven Produktion praktiziert, doch Probleme wie gewaltsame Auseinandersetzungen und Krieg, die weitere Kolonisierung und die teils schwierige Zusammenarbeit zwischen den Gemeinden sorgten dafür, dass die Entwicklung nahezu zum Stillstand kam. Cannon und andere Kirchenführer versuchten, die Arbeits- und Lebenspraktiken zu standardisieren, indem mehr als 200 Gemeinden in der sogenannten United Order zusammengefasst wurden. Doch noch vor Ende des Jahrzehnts existierten die meisten von ihnen nicht mehr.
Zwei Jahre nach der Ermordung von Smith wurde die Kirche – inzwischen unter der neuen Führung von Brigham Young – 1846 aus Illinois vertrieben. Von dort aus zogen die Mitglieder durch die Prärien des Mittleren Westens, bevor sie sich in dem Gebiet niederließen, das später Salt Lake City werden sollte. Young machte sich sofort daran, eine Art zentrale Planung zu entwickeln, um eine auf Landwirtschaft und handwerkliche Produktion basierende Wirtschaft aufzubauen. Während Joseph Smith noch einen utopisch-idealistischen Kommunitarismus vertreten hatte, war Young pragmatisch und utilitaristisch und hatte vor allem Autarkie und Unabhängigkeit der Mormonen als Ziel im Blick.
Das egalitäre Experiment war von Anfang an mit Mängeln behaftet. Zwar baute die Kirche ihre Wirtschaft ausdrücklich nicht auf Sklaverei auf; allerdings wurden schwarze Menschen, selbst wenn sie seit den frühesten Tagen Mitglieder der Kirche waren und sogar Smith nahegestanden hatten, fast zwei Jahrhunderte lang von den heiligsten Ritualen ausgeschlossen.
»Die Kirche wusste, dass viele von ihnen Fabrikarbeiter gewesen waren und somit dringend benötigte Arbeitskräfte darstellten, mit denen das Wachstum der kooperativen Wirtschaft der Mormonen vorangetrieben werden konnte.«
Die amerikanischen indigene Bevölkerung betrachtete die Mormonen derweil als verlorene Stämme Israels und somit als ihre spirituellen Brüder, die aber verflucht seien. Daher riefen die frühen mormonischen Siedler dazu auf, die Stämme der Ute, Paiute, Shoshonen und Navajo zu missionieren und vor allem mit ihnen zusammenzuarbeiten und diplomatische Beziehungen zu ihnen zu pflegen. Allerdings konnte dadurch nicht verhindert werden, dass es immer wieder zu Lynchmorden und Massakern an den indigenen Stämmen kam.
Die Spannungen mit dem Staat lösten sich ebenfalls nicht von selbst, sondern verschärften sich eher. Die Bundesregierung schien zur größten externen Bedrohung für die Kirche zu werden: 1857 entsandte Präsident James Buchanan ein Bataillon der Bundesarmee nach Utah, um dort einen Gouverneur einzusetzen. Mormonische Siedler traten zeitgleich als Banditen auf und griffen andere Siedler auf deren Weg nach Kalifornien an. Bei einem Vorfall während des Utah-Krieges (dem Mountain Meadows Massacre) griff die Miliz der Nauvoo-Legion einen Wagenzug an und tötete mehr als 120 Siedler. Sie kämpften dabei an der Seite der Paiute, konnten sich daher tarnen und die Schuld auf das indigene Volk schieben.
Der Krieg gegen den Staat war nur von kurzer Dauer, für die Mormonen aber äußerst schmerzhaft. Sie wurden vertrieben, das Salt Lake Valley entvölkert und niedergebrannt. Die Kirche überlebte jedoch politisch – sie musste lediglich hinnehmen, dass es nun einen entsandten Gouverneur in Utah gab und Bundestruppen auf ihrem Territorium stationiert waren.
Ihrer missionarischen Arbeit tat dies keinen Abbruch. Europäische Neusiedler kamen in der Regel nach einer beschwerlichen neunmonatigen Reise über den Atlantik und durch das amerikanische Grenzgebiet im Great Basin an. Die Kirche wusste, dass viele von ihnen Fabrikarbeiter gewesen waren und somit dringend benötigte Arbeitskräfte darstellten, mit denen das Wachstum der kooperativen Wirtschaft der Mormonen vorangetrieben werden konnte. Daher investierte die Kirche viel in Migration: Bei ihrer Ankunft wurden die Neuankömmlinge mit Festen und Feiern begrüßt. Ihr Leben sollte sich aber als nicht einfach erweisen. Neben Seuchen grassierte die Armut. Die meisten Neuankömmlinge waren bei den Institutionen der Kirche auf ewig verschuldet und zu arm, um sich an Praktiken wie der Polygamie beteiligen zu dürfen, die allerdings ohnehin nur noch von einer Minderheit der mormonischen Familien praktiziert wurde.
Brigham Young war weder Sozialist noch ein bewundernswerter »Freiheitskämpfer«. Aber er war zutiefst von seiner Vision einer kooperativen Wirtschaft überzeugt. Er forderte von den wohlhabenden Gemeindemitgliedern aggressiv einen hohen Zehnten; drängte sie, so viel wie möglich von ihrem Einkommen zu spenden; und drohte ihnen, wenn sie sich weigerten. Später in seinem Leben setzte er sich für eine Ausweitung der mormonischen Kooperativen ein und schuf weitergehende Systeme, die es einzelnen Gemeinden beispielsweise erlaubten, das Privateigentum komplett abzuschaffen.
Die kooperative Wirtschaft der Mormonen sorgte in vielen Teilen der Welt für Staunen. Dass sie besonders widerstandsfähig und nachhaltig war, zeigte sich am deutlichsten während der nordamerikanischen und europäischen Finanzkrise 1873. Plötzlich fehlte den Bergbaugemeinschaften, mit denen die mormonischen Kooperativen zuvor kaum mithalten konnten, die Stabilität, die die Mormonen langsam aufgebaut hatten. Die Kirche war auf Krisen vorbereitet und dank der institutionalisierten Fürsorge in Form der sogenannten Relief Society konnte sie ihre Mitglieder vor der Wirtschaftsflaute schützen, die den Rest des Landes erschütterte. Es zahlte sich plötzlich aus, früh auf Fabriken ohne privatwirtschaftliche Eigentümer gesetzt zu haben.
Zu Smiths Lebzeiten und im Laufe des 19. Jahrhunderts wurde immer wieder hinterfragt, ob die Mormonen die US-Staatsbürgerschaft bekommen sollten. Insbesondere die Polygamie und ihr Egalitarismus (sowie ihrer Bereitschaft, diese Praktiken gegen Eingriffe des Bundes zu verteidigen) waren den Eliten suspekt. Obwohl die Mormonen größtenteils aus dem angelsächsischen Raum immigriert waren, wurden sie von der nationalen Presse und von Politikern häufig durch eine orientalistische Brille dargestellt: Smith wurde mit Mohammed verglichen und die Mormongebiete als »Türkei inmitten unseres Landes« bezeichnet. Die Historikerin Christine Talbot fasst zusammen, warum die Mormonen einen exponierten Platz in der US-Gesellschaft einnahmen: »Was die nationalen Empfindungen wirklich verletzte, war das Entstehen eines mormonischen Andersseins, obwohl man doch ursprünglich gleich war.«
Als Young 1877 starb, starb mit ihm auch das egalitäre Wirtschaftssystem der United Order. Die Kirche bemühte sich umgehend um Appeasement zum Bund und versuchte, das »ursprünglich Gleiche« mit diversen Dekreten zu betonen. Der auf die Kirche spezialisierte Historiker Leonard J. Arrington spricht von der »großen Kapitulation«. Diese führte unter anderem zur Auflösung des größten Teils der radikal-kooperativen Wirtschaft. Apostel George Q. Cannon, der noch von Young mit dem Aufbau kooperativ wirtschaftender Gemeinschaften beauftragt worden war und zunächst wohl fest an sie glaubte, entwickelte sich zu einem der lautstärksten Antisozialisten in der Kirche. 1894 riet er den Mormonen, sich »vom Sozialismus fernzuhalten«. Sie entschieden sich zunächst anders.
Die sozialistische Bewegung in Utah entstand in einer turbulenten Zeit für die Mormonen-Kirche. Brigham Youngs Albtraum hatte sich bewahrheitet und die United Order war von »Kapitalisten aus dem Osten« ausgenommen worden. Hinzu kamen die Abschaffung des Frauenwahlrechts (das es in Utah seit 1870 gegeben hatte), das Ende der von der Kirche angeführten Volkspartei und das Verbot der Mehrfachehe. Es war ein hoher Preis für die offizielle Anerkennung als US-Bundesstaat. Als die Bundesregierung in Washington darüber hinaus begann, die Einbürgerung strikter zu regulieren, verlangsamte sich die Migration von Mormonen aus aller Welt nach Utah erheblich. Die Kirche wandte sich einer breiter gesteckten, nach außen schauenden Strategie zu – und mussten somit über den Tellerrand des eigenen »gelobten Landes« hinaus denken. Die mormonischen Arbeiter hatten das Gefühl, sie seien ihres früheren idyllischen Lebens im Land, das sie Zion nannten, beraubt worden.
Zeitgleich erstarkte die sozialistische Organisierung. Diese ist mit Blick auf Utah nicht hoch genug einzuschätzen: Zwischen 1900 und 1920 wurden in Utah mehr als 110 Mitglieder der Socialist Party of America (SPA) gewählt. Die SPA war sich zwar weitgehend einig, dass es Grenzen dafür gab, was sie an der Wahlurne auf nationaler Ebene erreichen konnten. Dennoch gab es Meinungsverschiedenheiten darüber, was zu tun sei, wenn sie es doch einmal, beispielsweise in Utah, an die Macht schaffen sollten. Einige argumentierten, das Hauptziel sei es, die Arbeiterklasse zur Revolution zu bewegen. Die meisten gewählten Sozialisten in Utah agierten jedoch gemäßigt und setzten auf realistisch erscheinende Wahlversprechen. In ihren Ämtern ließen sie Abwasserkanäle, Straßen und Schulen bauen. Ihr Hauptanliegen war es, den Sozialismus als eine Bewegung seriöser Reformer und fähiger Verwalter zu präsentieren.
»Um die Wende zum 20. Jahrhundert war Utah einer der Hauptschauplätze einer aufstrebenden Arbeiterbewegung, insbesondere in den Bergbaugemeinden rund um das Salt Lake Valley.«
Nun könnte man annehmen, dass dieses sozialistische Erstarken in Utah vor allem aus der säkularen Minderheit heraus geschah – doch weit gefehlt. Zu den ins Staatsparlament gewählten Sozialisten der SPA gehörten Bischöfe, die als geistliche Führer tausende Arbeiterinnen und Arbeiter vertraten, ebenso wie die Kinder von Kirchenvorstehern und (Ex-) Propheten und sogar Patriarchen aus den Zirkeln des aufkommenden mormonischen Fundamentalismus. Sie beschränkten sich dabei nicht auf Utah: Mormonische Sozialisten führten die SPA nicht nur in den Nachbarstaaten an, sondern auch weiter Richtung Osten bis nach Cleveland, Ohio. In Utah selbst war die SPA interreligiös geprägt. Zwar stellten die Mormonen die größte Gruppe, doch eine Vielzahl anderer religiöser Sozialisten, beispielsweise Unitarier und auch katholische Arbeiter, füllten die Reihen der Partei.
Um die Wende zum 20. Jahrhundert war Utah einer der Hauptschauplätze einer aufstrebenden Arbeiterbewegung, insbesondere in den Bergbaugemeinden rund um das Salt Lake Valley. Anfangs wurden die Erzvorkommen hauptsächlich von Nicht-Mormonen abgebaut. Brigham Young hatte sich noch vehement dagegen ausgesprochen, die lokale Wirtschaft im Great Basin auf den Erzabbau oder, schlimmer noch, auf Gold zu stützen. Unmittelbar nach seinem Tod begannen die Bergbau- und Eisenbahnunternehmen aus dem Osten in Utah aktiv zu werden und vor Ort das große Geld zu machen. Skandinavische Einwanderer machten einen großen Teil der Arbeitskräfte im Bergbau im Westen aus; hinzu kamen aber auch viele mormonische Pilger, die ins Tal einwanderten. Es bildete sich ein eklektischer Arbeiter-Mix: Durchreisende Mitglieder der Industrial Workers of the World wie Joe Hill, der selbst schwedischer Herkunft war, fanden sich an der Seite einfacher Mormonen wieder, die dieselbe Herkunft hatten, dieselben Zeitungen lesen konnten und nun vor allem einen gemeinsamen Kampf gegen die kapitalistisch geführten Bergbauunternehmen von der Ostküste führten.
Utah war einer von fünf Bundesstaaten, in denen der staatliche Gewerkschaftsbund die SPA offiziell und uneingeschränkt unterstützte, was jedoch nicht bedeutete, dass die Sozialisten sich immer erkenntlich zeigten: 1912 agierte die sozialistische Stadtverwaltung in Murray, Utah, als Streikbrecher in einer Metallhütte. In vielen sozialistisch geprägten Einrichtungen in Utah hatte die Partei darüber hinaus Schwierigkeiten, enge Beziehungen zu den neueren griechischen und anderen südeuropäischen Einwanderern aufzubauen, die inzwischen einen Großteil der Arbeiterklasse in den Fabriken bildeten.
Die Sozialisten in Murray wurden nicht wiedergewählt. In ihrem Streben nach »konstruktiven« Reformen gelang es ihnen nicht, sich wesentlich von den kapitalistischen Parteien abzugrenzen und zu unterscheiden. In ihrem Buch A History of Utah Radicalism merken die Historiker John S. McCormick und John R. Sillito an: »Die Sozialisten in Utah vermieden es tunlichst, als zu radikal zu erscheinen – und womöglich sind sie gescheitert, eben weil sie nicht radikal genug waren.«
Trotz derartiger Rückschläge wurde das Salt Lake Valley zu einem fruchtbaren Boden für offene Rede, Soapboxing und Agitation, eine wahre Kulturrevolution: Wenn die Arbeiter nicht über die Arbeiterbewegung erreicht werden konnten, konnten sie vielleicht im öffentlichen Raum und über Medien angesprochen werden. Für Sozialisten und Anarchisten war diese Form der Mobilisierung und Agitation ein wichtiges Mittel, um ihre Botschaften unters Volk zu bringen. Allerdings brachte sie dies auch häufig in Konflikt mit der Polizei. Joe Hill, der zu diesem Zeitpunkt bereits eine Art Legende unter den Arbeiterinnen und Arbeitern Utahs war, wurde 1914 ein Mord in die Schuhe geschoben, für den er schließlich trotz mangelhafter Beweislage verurteilt und hingerichtet wurde. Die Reaktionen auf den Prozess sorgte beim mormonischen Establishment und bei den Bischöfen hinter verschlossenen Türen für Panik: Sie beobachteten entsetzt, wie Petitionen von kompletten Gemeinden unterzeichnet wurden und wie sich ihr Schäfchen an unzähligen Protestaktionen beteiligten, auf denen Hills Freilassung gefordert wurde.
Letztlich war Hills Tod nur der Auftakt zu noch deutlich schlimmeren Entwicklungen für die Sozialisten in Utah. Der Staat sollte bald zum Epizentrum des ersten »Red Scare« werden; die SPA konnte danach nie wieder zu ihrer früheren Stärke zurückfinden.
Die Weltwirtschaftskrise der 1920er und 1930er Jahre traf Utah besonders hart. Anders als in der Krise 1873 konnte die Arbeiterklasse im Mormonengebiet nicht von den Turbulenzen der Weltwirtschaft abgeschirmt werden. Die Landwirtschaft erlebte bereits 1921, früher als in anderen Regionen, einen Abschwung. Die neu gegründete Kommunistische Partei hatte in Utah einige bescheidene Wahlerfolge, aber ihre Ergebnisse waren nicht mit denen der früheren SPA zu vergleichen. Die Kommunisten konnten jedoch von sich Reden machen, indem sie das Heer der Arbeitslosen mobilisierten. In der Krise waren Proteste von Arbeitslosen an der Tagesordnung, und als die Verantwortung für soziale Hilfsmaßnahmen vom Bund an den Staat Utah übertragen wurde, mussten die Zahlungen 1936 um die Hälfte gekürzt werden. Dies führte zu Ausschreitungen vor dem Hauptquartier der Sozialdienste in Salt Lake City.
Obwohl die sozialdemokratische New-Deal-Politik bei vielen Mormonen beleibt war, rieten die mormonische Presse und die Führung der Kirche hingegen dazu, bei kommenden Wahlen gegen diese Politik und gegen den demokratischen Präsidenten Franklin D. Roosevelt zu stimmen.
Ein lautstarker Kritiker des New Deal war Ezra Taft Benson, Sohn eines mormonischen Farmers aus Idaho. Er war von der kooperativen Wirtschaft der United Order aus der Zeit Brigham Youngs geprägt, trat als nationaler Anführer und Sprecher solcher Farmen auf und war überzeugt, dass diese Höfe ohne Subventionen eigenständig wirtschaften könnten. Benson wurde 1953 unter Dwight D. Eisenhower Landwirtschaftsminister und setzte sich in dieser Position unermüdlich dafür ein, die mit dem New Deal eingeführte staatliche Unterstützung für die Landwirtschaft rückgängig zu machen. Der Widerstand, auf den er in den Behörden stieß, bestärkte ihn in seiner Überzeugung, dass der »gottlose Sozialismus« die Bundesregierung und die Behörden infiltriert hatte.
Bensons Aufstieg zum Minister steht symbolisch für die wachsende Akzeptanz der Kirche im politischen Establishment: Ein mormonischer Apostel, der Teil des Kabinetts im Weißen Haus wurde, stand in krassem Gegensatz zu der Gegenwehr, denen sich politisch aktive Mormonen zuvor hatten stellen müssen. In den unmittelbaren Nachkriegsjahren gab es unter den Mormonen keine klare politische Präferenz: Wie der Rest des Landes wählten sie in etwa zu gleichen Teilen republikanisch und demokratisch. Als Bensons Amtszeit im öffentlichen Dienst 1961 endete, hatte sich dies jedoch geändert. Die einst starke mormonische Arbeiterklasse war weitgehend verschwunden und die Gemeinden hegten klare Sympathie für Bensons Kreuzzug gegen Kommunismus, Bürgerrechte und eine organisierte Arbeiterschaft.
»Die Gesellschaftsordnung in den Gemeinden wurde fortan als ›kommunitaristisch‹ und als ›Garant für soziale Sicherheit‹ beschrieben, in jedem Fall nicht als ›sozialistisch‹.«
Nach dem Zweiten Weltkrieg erlebte die Kirche parallel zum Babyboom ein explosives Wachstum. Dadurch wurden Mormonen auch zu wichtigen Fußsoldaten für den Konservatismus. Die Mitglieder der Kirche wurden mobilisiert, um gegen das Equal Rights Amendment und andere zivilrechtliche Reformen zu agitieren. Die extremistische John Birch Society sowie die Steuerverweigerungsbewegung fanden bei den Mormonen eine breite Anhängerschaft. Ein radikales Beispiel aus unserer heutigen Zeit sind die mormonischen Steuerverweigerer Cliven und Ammon Bundy, die eine bewaffnete »patriotische« Miliz anführten und sich 2014 sowie 2016 Auseinandersetzungen mit der Bundespolizei lieferten.
Auch Benson war niemand, der Politik und Religion voneinander trennte. Sein Antikommunismus richtete sich daher auch gegen die mormonische Kirche selbst: Er bekämpfte die Geschichtsabteilung der Kirche, als diese eine kurze Zeit lang autonom war und eine intellektuelle Bewegung namens »New Mormon History« hervorbrachte. Mitglieder der John Birch Society infiltrierten die Abteilung, um Informationen über die Arbeit der Historiker zu sammeln und sie zu stören. Die Rechtsextremen hatten allen Grund, die Historiker zu fürchten, denn diese stellten die heiligen Wahrheitsansprüche der Kirche in Frage und erinnerten an die egalitären Anfänge. Bei den Rechten und in der Führungsriege der Kirche fürchtete man, dadurch die Kontrolle über die Gemeinden zu verlieren.
Auch Fawn Brodies 1945 erschienene und sehr erfolgreiche Biografie über Kirchengründer Joseph Smith, No Man Knows My History, war der Kirche ein Dorn im Auge – nicht nur, weil sie bisher unbekannte Details über Smiths Polygamie enthüllte, sondern auch, weil sie über den frühen Egalitarismus in der Kirche berichtete. Im Gegensatz zu anderen Historikern, die die Kirche vom Sozialismus ihrer Vergangenheit distanzieren wollen, erklärte Brodie einem großen Publikum, dass »der Geist des wahren marxistischen Kommunismus – jeder nach seinen Fähigkeiten, jedem nach seinen Bedürfnissen – im gesamten System implizit verankert war«.
Der grassierende Antikommunismus und die Exkommunikation mehrerer Historikerinnen und Historiker, die in dieser kurzen Zeit der akademischen Freiheit aktiv waren, sorgten dafür, dass der ursprüngliche egalitäre Geist des Mormonismus kaum noch thematisiert wurde. Spätere Historiker (selbst die aus der New Mormon History-Bewegung) machten es sich zur Aufgabe, die Geschichte der Mormonen als eine uramerikanische Erfahrung darzustellen statt als etwas »Anormales« oder »Fremdes«. Die Gesellschaftsordnung in den Gemeinden wurde fortan als »kommunitaristisch« und als »Garant für soziale Sicherheit« beschrieben, in jedem Fall nicht (mehr) als »sozialistisch«.
Im Laufe der Jahre wurde die Geschichte der mormonischen Arbeiterklasse somit immer mehr »bereinigt« und so abgeschwächt in die offizielle Geschichte der Mormonen-Kirche integriert.
Gus Breslauer ist ein in Houston ansässiger Organizer, der über Schwulenpolitik, religiösen Sozialismus und Organizing-Strategien schreibt.