04. Juni 2025
Einige linke Autoren argumentieren, die Konzentration von Macht in den Händen von Tech-Baronen markiere einen Übergang zum »Neofeudalismus«. Doch was wir erleben, ist in Wahrheit eher eine Verschiebung innerhalb des Kapitalismus als über ihn hinaus.
Mark Zuckerberg, Lauren Sanchez, Jeff Bezos, Sundar Pichai und Elon Musk während der Amtseinführung von Donald Trump in Washington, DC, am 20. Januar 2025.
Die Tech-Elite, die bei Donald Trumps Amtseinführung am 20. Januar dieses Jahres strategisch um ihn herum platziert wurde, war ein Who’s Who der US-Oligarchie. Von Jeff Bezos bis Mark Zuckerberg kamen die führenden Köpfe der US-Tech-Branche, um ihrem neuen Herrscher die Ehre zu erweisen.
Es roch nach Intrige am Hofe: Journalisten spekulierten über die Choreografie der Zeremonie und analysierten, ob oder wie die Platzierung der Tech-Barone Aufschluss über ihren Status und ihren Einfluss auf die neue Regierung geben könne. Die Pyramidenstruktur der amerikanischen Gesellschaft war wohl nie so deutlich sichtbar.
Donald Trumps Amtseinführung war sicherlich die anschaulichste Demonstration des wachsenden politischen Einflusses milliardenschwerer Tech-Bosse. In den vergangenen Jahren haben Kommentatoren und Autorinnen zu Begriffen wie »Technofeudalismus« oder »Neofeudalismus« gegriffen, um diese Entwicklung zu erklären. Letztendlich tragen diese Konzepte aber mehr zur Verwirrung als zu Klarheit in der Debatte bei, wie die Zukunft des Kapitalismus aussehen wird.
Das 2023 erschienene Buch Technofeudalismus: Was den Kapitalismus tötete von Yanis Varoufakis war vielleicht der am meisten diskutierte Beitrag zu diesem Thema. Jüngst kam Capital’s Grave: Neofeudalism and the New Class Struggle von Jodi Dean hinzu. Beide Werke legen nahe, dass die Welt den Kapitalismus hinter sich lässt und sich auf eine neue feudale Ordnung zubewegt.
Diese Theorien über vermeintliche neue Formen des Feudalismus schauen in die Vergangenheit, um ein Bild für die Zukunft zu entwerfen. Sie tun dies jedoch auf widersprüchliche Weise und stützen sich dabei auf höchst unterschiedliche Verständnisse der mittelalterlichen Vergangenheit. Für einige Befürworter der Idee eines »Neofeudalismus«, wie Katherine V. W. Stone und Robert Kuttner, ist die zentrale Veränderung eine rechtliche: Stone und Kuttner erinnern an die Zeiten, als die Justizstrukturen im Römischen Reich einer fragmentierteren, privatisierten Rechtsordnung des aufkommenden Mittelalters wichen.
In der heutigen Gesellschaft, so argumentieren sie weiter, erleben wir ebenfalls eine Korrumpierung der öffentlichen Rechtsprechung durch die Interessen des privatwirtschaftlichen Kapitals, was sich beispielsweise in Schlichtungsverfahren durch nichtstaatliche Schiedsgerichte oder der Unterwanderung staatlicher Regulierungsbehörden seitens der Wirtschaftswelt zeige. Aus dieser Perspektive kann die fortschreitende Privatisierung verstanden werden als die Perversion eines einst legitimen und nützlichen Kapitalismusmodells, das durch eine starke öffentliche Sphäre gestützt sei.
»Mittelalterforscher hassen die gängige Darstellung des Feudalismus.«
Dean hingegen versteht »Neofeudalismus« als ein grundlegend ökonomisches Phänomen. Sie beobachtet einen Wandel der Produktionsweise in unserer zeitgenössischen Gesellschaft. Wie Varoufakis erkennt Dean eine Abkehr von Wettbewerb und Profitmaximierung bei Unternehmensbossen wie Zuckerberg und Bezos. Diese seien heute vor allem darauf bedacht, Monopole zu etablieren und daraus Gewinne in Form von Renten zu extrahieren. Dies spiegele, so die Analogie, das Schicksal der mittelalterlichen Bäuerinnen und Bauern wider, die gezwungen waren, Pachtzinsen an die über ihnen stehenden »monopolistischen« Feudalherren zu zahlen.
Dean zitiert Stone und Kuttner zwar zustimmend, jedoch unterscheiden sich die Autoren faktisch sowohl in ihrem Verständnis vom historischen Feudalismus als auch in ihrer Diagnose der Gegenwart.
Es zeigt sich also, dass die Bedeutung und Verwendung des Begriffs »Feudalismus« in diesem Diskurs nicht eindeutig ist. Historikerinnen und Historiker haben Feudalismus in drei Hauptformen definiert, die allerdings für Analysezwecke miteinander unvereinbar sind. Zeitgenössische Autorinnen und Autoren vermischen diese Definitionen allzu oft.
Die erste Definition des Feudalismus existiert vor allem in der populärhistorischen Vorstellung. Er war demnach eine Welt starrer Hierarchien, die sich im Bild einer »feudalen Pyramide« verdichtet. Diese Vorstellung ist fester Bestandteil des Schulunterrichts, einer schnellen Google-Suche oder des Informationsmülls, den KI verbreitet.
Diese pyramidenförmige Darstellung des Feudalismus zeichnet das Bild eines in sich kohärenten Gesellschaftssystems, in dem Könige dem Adel Land im Austausch für Loyalität und Militärdienst gewährten. Die Bauern am unteren Ende der Pyramide bauten Nahrungsmittel an und erhielten dafür »Schutz« von ihren Lehnsherren.
Diese Definition hat sowohl eine gewisse Zeitlosigkeit (da sie angeblich mehr als tausend Jahre lang existierte) als auch einen starren Charakter (da vermeintlich fast niemand dieser festen, pyramidenförmigen Ordnung entkommen konnte). Es ist das Gesellschaftssystem, das die meisten Menschen, die nicht zum Mittelalter forschen, vor Augen haben, wenn sie Gegenwart und Vergangenheit gegenüberstellen.
Mittelalterforscher hingegen hassen diese gängige Darstellung des Feudalismus. Seit fünfzig Jahren kritisieren Historikerinnen und Historiker diese Vorstellung als zu pauschal und als unreflektiert angesichts einer durchaus dynamischen Periode der Menschheitsgeschichte. Was auch immer Game of Thrones und das Prequel House of the Dragon suggerieren mögen, die Gesellschaft stand nicht über Jahrhunderte hinweg still, ohne dass sich die Klassenstruktur veränderte – außer, man zählt Drachen als Klasse.
Darüber hinaus wurde der Begriff Feudalismus an sich erst nach dem Ende des Mittelalters geprägt. Seit den 1970er Jahren tendieren Historiker im englischsprachigen Raum inzwischen dazu, den Begriff »feudalism« beziehungsweise »feudal system« überhaupt nicht mehr zu verwenden. Manche sprechen scherzhaft vom bösen »F-Wort«.
Das führt uns zum zweiten, deutlich spezifischeren Begriff des Feudalismus. Demnach handelt es sich um ein Rechtskonzept, das die gegenseitigen Bindungen zwischen einem Herrscher und seinen untergebenen Eliten (meist Vasallen genannt) zum Ausdruck bringt. Ein Herrscher stellte einem solchen Untergebenen Land zur Verfügung, aus dem dieser Einnahmen erzielen konnte. Im Gegenzug erhielt der Herrscher vom Untergebenen ein Rechtsversprechen, das mit jeder neuen Generation erneuert werden musste. Dieses Versprechen umfasste in der Regel Militärdienste, Abgaben oder diverse andere Rechte für den Herrscher. Dies war der Kitt, der die damalige gesellschaftliche Elite zusammenhielt; es ging also nicht um die Bäuerinnen und Bauern. Dieses zweite Verständnis des Feudalismus spiegelt sich in den mittelalterlichen Darstellungen vom thronenden Herrscher mit vor ihm knienden und einen derartigen »Handel« zustimmenden Rittern wider.
Dieser Feudalismus war auf eine bestimmte Zeit (zirka 1100–1400), einen bestimmten Ort (hauptsächlich Frankreich und England) und bestimmte Personen (ausschließlich die damaligen Eliten) beschränkt. Mittelalterhistoriker verwenden dieses Rechtskonzept und dieses Verständnis von Feudalismus nach wie vor. Dabei handelt es sich aber nicht um den Feudalismus, über den heute in diversen anderen Kontexten diskutiert wird. Er ist zu eng gefasst, zu präzise und, nun ja, irgendwie zu mittelalterlich. Seine symbolische Kraft bleibt zwar in Metaphern wie »Vasallenstaaten« oder »Huldigung« gegenüber mächtigen Ländern erhalten, aber derartige Ausdrücke sind bildlich zu verstehen und nicht wörtlich.
Ein drittes Verständnis von Feudalismus ist die feudale Produktionsweise, in einer klassisch-marxistischen Formulierung der ökonomischen Rahmenbedingungen der damaligen Gesellschaft. Marx selbst hatte bereits diverse Produktionsweisen dargelegt, und heutige Theoretiker haben seinen Ideen in vielerlei Hinsicht weiterentwickelt.
Marxistische Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler gehen davon aus, dass sich die feudale Produktionsweise aus der antiken sklavenbasierten Produktion entwickelt hat. Anstelle von Sklavinnen und Sklaven, die einem Herrn gehörten und direkt von ihm beherrscht wurden, beherrschten Feudalherren eine große Masse an Bauern, die halb- bis ebenfalls komplett unfrei waren. Diese Bauernschaft produzierte Nahrungsmittel auf Land, das von den Eliten gepachtet wurde, die ihrerseits einen Teil des Überschusses für sich beanspruchten und in einigen Fällen auch weitergehende Arbeitsleistungen verlangten.
»Der Rückgriff auf archaische Modelle zur Erklärung aktueller Veränderungen ist ein morbides Symptom einer Zeit, in der Visionen für eine bessere Zukunft durch die bedrückende Angst vor Rückschritt ersetzt wurden.«
Unter diesem System beruhte die Macht der Elite auf dem Besitz von Land und gegebenenfalls der Anwendung von Gewalt, um produzierte Güter zu beschlagnahmen. Die genaue Aneignung solcher Güter konnte unterschiedlich ausfallen und sich beispielsweise aus Steuern oder Pachtzinsen ergeben, ebenso wie rechtliche Mittel, mit denen die Güter ihren Erzeugern entzogen wurden. Um diese feudale Produktionsweise von den beiden nicht-marxistischen Verständnissen des Feudalismus zu unterscheiden, haben Historiker wie John Haldon letztere Form als tributäre Produktionsweise bezeichnet.
Das grundlegende Problem bleibt: Zwar gibt es Ähnlichkeiten zwischen den drei Formen des Feudalismus, doch ohne eine präzise Abgrenzung ist es allzu leicht, einzelne Merkmale aus einer, zwei oder allen drei Formen herauszugreifen und sich so einen vermeintlich allumfassenden Feudalismusbegriff und ein idealisiertes Bild des Mittelalters zusammenzuschustern.
Dean zitiert beispielsweise Vertreter aller drei Strömungen, um ihre These zu untermauern: Marc Bloch und Joseph Strayer scheinen eine feudale Gesellschaft zu diskutieren (Variante 1), Susan Reynolds weist darauf hin, dass Mittelalterforscher über die Verwendung des Begriffs debattiert haben (Variante 2), während Perry Anderson (unter anderem) herangezogen wird, um die feudale Produktionsweise zu erörtern (Variante 3).
Wenn wir alle diese drei Strömungen oder Verständnisse des ursprünglichen Begriffs Feudalismus kombinieren, um ein Bild des »Neofeudalismus« zu schaffen, entfernen wir uns von solchen konzeptuellen Definitionen. Es entsteht ein transhistorisches (oder besser gesagt ahistorisches) Verständnis, das sich stets an den jeweiligen »neuen« Zweck anpassen lässt.
Dieses generische Verständnis des Feudalismus suggeriert heutigen Rückschritt und eine Rückkehr zu einer weniger entwickelten Gesellschaft mit mehr Ungleichheit, weniger Freiheiten, weniger Eigentum für Nicht-Eliten und geringeren Aufstiegschancen in die Eliteschicht hinein. Diese Sicht auf aktuelle Entwicklungen finden sich sowohl in marxistischen Ideologien (als ein Rückschritt vom Kapitalismus hin zum Feudalismus) als auch in liberalen Kritiken (als Scheitern einer progressiven Idee, die ins Stocken geraten und sich in ihr Gegenteil verkehrt hat). Unsere Zukunftsvisionen, ob sie nun vom Sozialismus oder einer loseren Form von »Fortschritt« geprägt sind, scheinen dabei in weite Ferne gerückt.
Doch nur wenige der aktuellen Entwicklungen können zwangsläufig mit dem Feudalismus in Verbindung gebracht werden. Die Tech-Bros können Präsident Trump oder anderen Herrschern Treue schwören, um ihre dezidiert kapitalistischen Ziele voranzutreiben. Dies kann durchaus Privatisierungen beinhalten, aber – auch hier wieder – in kapitalistischer Form. Ihr Ziel ist es, sich selbst und ihre Unternehmen in staatliche Handlungsbereiche einzuschleusen, um die unteren Klassen zu kontrollieren und ihnen ihren Willen aufzuzwingen.
Man denke an Elon Musk und das Department of Government Efficiency (DOGE). Es befürwortet staatliche Kontrolle auf Basis einer kapitalistischen Ideologie: Effizienz, Marktmacht und Privatisierung sind ihr Mantra, unabhängig davon, welche Ergebnisse tatsächlich erzielt werden. Weder Musks ideologische Rechtfertigungen noch seine rein materiellen Ziele ähneln dem zeitgenössisch so verstandenen Feudalismus mit starren Klassenstrukturen, zeremoniellen Ausdrucksformen von Herrschaft und Ordnung sowie einem bestenfalls zweideutigen Verständnis von Privateigentum.
Trump selbst scheint weniger an marktwirtschaftlichen Kräften oder Gesetzen interessiert zu sein, wie seine erratische Zollpolitik zeigt. Damit steht er aber in bemerkenswertem Widerspruch zu einem Großteil der Geldgeberklasse, die ihn an die Macht gebracht hat.
Mitglieder der Elite wie Musk dominieren seit langem die Politik, indem sie ihre eigenen privaten Rechtsordnungen schaffen. Dabei könnte man zurückgehen bis zu Figuren wie Robert I., Graf von Artois, der im Frankreich des späten 13. Jahrhunderts mit einem als Haustier gehaltenen Wolf die lokalen Bauern terrorisierte, über einen Tycoon der 1890er Jahre hin zur Disney Corporation heute. Allerdings waren die rechtlichen und ökonomischen Rahmenbedingungen für Graf Robert völlig anders als in den beiden letztgenannten Beispielen.
Wie solche privatisierten Rechtsordnungen im 21. Jahrhundert funktionieren, hängt direkt mit der derzeitigen Form des kapitalistischen Systems zusammen. In diesem System haben wir uns dafür entschieden, ökonomische Effizienz und Profite über das Wohlergehen von Menschen und ein gutes Leben für alle zu stellen. Solche Entscheidungen und Strukturen hätten in den meisten Regionen des mittelalterlichen Europas, beispielsweise auch bei Graf Robert, ziemlich deplatziert gewirkt.
Ein Teil des Problems liegt außerdem darin, dass ein vermeintlich einheitliches Verständnis des historischen Feudalismus benutzt wird – ganz gleich, ob wir diesen heute als Bild für eine chaotisch-privatisierte Rechtsprechung benutzen oder für eine Welt, in der Ausbeutung und Monopolmacht als die einzigen Mittel zur Erlangung von Reichtum erscheinen. Denn selbst im Mittelalter gab es nicht den einen Feudalismus. Zwar war die kapitalistische Produktionsweise vor der Moderne weder in Europa noch im Nahen Osten vorherrschend; dennoch waren Kapital, Lohnarbeit und Märkte an bestimmten Orten und zu bestimmten Zeiten dominant: Wie Chris Wickham kürzlich aufzeigte, spielten kapitalistische Produktionsverhältnisse in Teilen des östlichen Mittelmeerraums von etwa 950 bis 1150 eine wichtige Rolle, auch wenn das übergeordnete Wirtschaftssystem feudal blieb. Orientalistisch geprägte Sichtweisen auf die islamische Welt haben derweil dazu geführt, dass deren kapitalistischen Elemente ignoriert wurden.
Insgesamt dient das Mittelalter somit als ein vermeintlich unbeschriebenes Blatt, auf das sich viele unterschiedliche Vorstellungen von Feudalismus projizieren lassen, wobei heute »bekannte« Aspekte wie privatisierte Rechtsprechung und willkürliche Raubzüge/Ausbeutung kombiniert werden, um den aktuellen Erklärungsbedürfnissen zu genügen.
Um die heutige Form des Kapitalismus zu verstehen, müssen wir aber nicht auf eine Karikatur des mittelalterlichen Feudalismus zurückgreifen – auch wenn gewisse Elemente ähnlich erscheinen mögen. Die privatisierte Rechtshoheit hat in den vergangenen Jahrzehnten zweifellos explosionsartig zugenommen; Großkonzerne haben ihren Einflussbereich auf immer neue Lebensbereiche ausweiten können. Gleichzeitig sollten wir uns aber vor Augen halten, dass selbst der neoliberalste Staat weitaus mächtiger und einflussreicher ist als seine vorkapitalistischen Vorgänger.
Im direkten Vergleich zu den stärkeren Staaten in der Mitte des 20. Jahrhunderts mögen Staaten heute schwach erscheinen. Doch damals wurde ein Höhepunkt der Macht des Staates sowie der Gewerkschaftsmobilisierung und der Umverteilungspolitik erreicht. Das ist nicht der Maßstab, an dem wir den heutigen Kapitalismus messen sollten.
Wir haben es daher eher mit einer Transformation innerhalb des Kapitalismus zu tun als mit einem Übergang weg vom Kapitalismus. Tech-Plattformen mögen immer präzisere Daten generieren, benötigen dafür aber auch größere Kapitalzuführungen, um irgendwann rentabel zu werden und Gewinne zu erzielen. Einige, wie Google, sind zu Rentiers geworden, andere haben riesige Immobilienportfolios eingekauft. Anstatt wirklich neue Produkte zu entwickeln, ist es ihr Ziel, die Konkurrenz und bestehende Marktmachtverhältnisse zu zerstören, um immer größere Gewinne zu erzielen. Investoren pumpen Geld in stark verlustbringende Unternehmen – denn diese bieten die Aussicht auf vermeintlich »sichere« zukünftige Einnahmen. Dean hat Recht, wenn sie diese Veränderungen in ihrer Arbeit beschreibt; doch nichts davon stellt eine neue Produktionsweise dar. Es hat sich lediglich geändert, wie das Kapital wirkt.
»Man gesteht dem Kapitalismus zu viel zu, wenn man ihn als Antithese zu früherer Monopolmacht, privater Korrumpierung der Justiz und politischer Herrschaft von Unternehmenseliten betrachtet.«
Vor einem halben Jahrhundert war es noch ganz normal, dass Menschen einmal im Monat persönlich in eine Gemeindehalle gingen, um auf dem dortigen Flohmarkt gebrauchte Kleidung zu kaufen und zu verkaufen. Heute erfüllt Facebooks Marketplace jeden Tag eine ähnliche Funktion. Facebook hat den Markt für gebrauchte Kleidung dank seiner Effizienz erobert. Gleichzeitig nutzt der Meta-Konzern die gesammelten Daten, um weitere, neue Produkte zu verkaufen. Die Aufmerksamkeitsspannen der Verbraucherinnen und Verbraucher werden zu einem Nebenprodukt, das an Werbetreibende und Content-Produzenten verkauft werden kann.
Diese Geschäftspraxis verdankt viel der modernen Psychologie und ihren von Werbern und Tech-Unternehmen entwickelten Modellen – und hat nichts mit feudalen Verhältnissen zu tun. Shoshana Zuboffs Das Zeitalter des Überwachungskapitalismus hat dieses extraktive, datengesteuerte Geschäftsmodell als eine immer stärkere kapitalistische Kolonisierung des Privatlebens und des privaten Selbst bezeichnet. Das ist eine wesentlich spannendere Überlegung als die von einem Techno- oder Neofeudalismus.
Wir brauchen kein Bild des Feudalismus (in keiner seiner zahlreichen Varianten oder Formen), um die anhaltenden Probleme unserer heutigen Staaten und Systeme zu erklären. Der Rückgriff auf archaische Modelle zur Erklärung aktueller Veränderungen ist ein morbides Symptom einer Zeit, in der Visionen für eine bessere Zukunft durch die bedrückende Angst vor Rückschritt ersetzt wurden. Einige Dinge werden schlechter, andere besser. Doch man gesteht dem Kapitalismus in seinen verschiedenen Formen ganz sicher zu viel zu, wenn man ihn als Antithese zu früherer Monopolmacht, privater Korrumpierung der Justiz und politischer Herrschaft von Unternehmenseliten betrachtet.
Kapitalisten selbst haben ihre idealisierte Form des Kapitalismus oft als Gegenbild zum Feudalismus der »alten Welt« definiert, ganz besonders in den USA. Wir dürfen diese zutiefst ideologischen Perspektiven nicht für bare Münze nehmen. Wir fallen derzeit nicht in das System zurück, aus dem der Kapitalismus einst hervorgegangen war. Vielmehr erleben wir eine neue und gefährliche Transformation innerhalb des Kapitalismus selbst.
David Addison ist Religionshistoriker an der University of Liverpool.
Merle Eisenberg ist Assistenzprofessor für Geschichte an der Oklahoma State University. Er ist der Ko-Autor von Diseased Cinema: Plagues, Pandemics, and Zombies in American Movies.