30. April 2021
Der Neoliberalismus hat ausgedient. Diese Einsicht verbreiten mittlerweile sogar die bürgerlichen Leitmedien. Von dieser Kehrtwende sollte man sich allerdings nicht blenden lassen.
Sogar die FAZ-Redaktion zieht neuerdings in Erwägung, die Steuern für die Reichen zu erhöhen.
Wer im April des vergangenen Jahres, am Beginn der Corona-Krise, die Financial Times aufschlug, staunte wahrscheinlich nicht schlecht über das, was im semi-offiziellen Informationsblatt der Funktionsträger des globalen Kapitals geschrieben stand: Die Herausgeberinnen und Herausgeber brachen in einem Leitartikel explizit mit vier Jahrzehnten Neoliberalismus und forderten Maßnahmen, gegen die sie von der gleichen Kanzel zuvor noch energisch und unentwegt gepredigt hatten. Sie sprachen von »radikalen Reformen«, einer »aktiveren Rolle des Staates«, »weniger unsicheren Arbeitsmärkten«, einem Grundeinkommen und Vermögenssteuern. Sogar das Wort »Umverteilung« fiel.
Späte Gewissensbisse angesichts der verheerenden Folgen der Wirtschaftspolitik der vergangenen Jahrzehnte darf man als Grund für diesen radikalen Kurswechsel wohl ausschließen. Vielmehr zeigt sich, dass das bürgerliche Lager an einem neuen politischen Projekt arbeitet, nachdem der Neoliberalismus nun zwar nicht gescheitert ist – der Raubzug war immerhin sehr einträglich –, aber nun sein Ende findet.
Bereits in den 2010er Jahren war das Projekt in der Folge der Finanz- und Schuldenkrise ab 2009 so weit diskreditiert, dass man Privatisierungen, künstlich geschaffene Märkte, Austerität und die Verschlankung des Staats zunehmend nur noch anderen – etwa Griechenland – zumuten wollte, aber weniger der eigenen Bevölkerung. Im Zuge der Covid-Krise werden die Rhetorik und auch die Regierungspraxis der bürgerlichen Kräfte nun neu justiert: Der britische Finanzminister Rishi Sunak legte etwa dem Unterhaus jüngst einen Budgetentwurf vor, der eine deutliche Anhebung der Unternehmenssteuer und höhere Investitionen in den peripheren Regionen abseits Londons vorsah. Der Kurswechsel, den die Financial Times forderte, wird also zumindest in Großbritannien in eine Regierungspraxis übersetzt, die Margaret Thatcher sicherlich entsetzt hätte. Es mag für eine Charakterisierung der Regierung Boris Johnsons noch zu früh sein, dennoch lässt schon jetzt feststellen: im herkömmlichen Sinne »neoliberal« ist sie mit Sicherheit nicht.
Ob derzeit der Neoliberalismus in eine neue Phase übergeht oder der Kapitalismus seine neoliberale Phase verlässt, wird sich wahrscheinlich erst mit einigen Jahren Abstand sagen lassen. Doch dass sich am politischen und ökonomischen Gefüge westlicher Staaten derzeit etwas grundlegend ändert, ist bereits jetzt deutlich zu erkennen: Selbst der Internationale Währungsfond (IWF) ist von seiner Linie der absoluten Priorisierung staatlicher Ausgabenzurückhaltung abgerückt und preist nun einen investierenden Staat und US-amerikanische Konjunkturpakete, die zumindest im Vergleich zur Krise von 2009 gigantisch sind.
Dies sollte aber nicht als »Linksruck« fehlgedeutet werden: Die Politik von Präsident Biden ist vielmehr gerade deshalb bemerkenswert, weil Biden als aller linker Sympathien unverdächtiger Mitte-rechts-Politiker in seinen ersten hundert Tagen im Amt tatsächlich einen »neuen Konsens in Washington« etabliert, so die Financial Times, der viele einstmals nur von der Linken erhobene Forderungen in ein neues bürgerliches politisches Projekt integriert.
Und in Deutschland? Auf den ersten Blick passt das Klischee vom störrischen deutschen Establishment, das mit seiner üblichen Borniertheit an überkommenen ordoliberalen Grundüberzeugungen festhält. Doch ganz so einfach ist es nicht: Auch hierzulande haben die einstigen Apostel der Ausgabenzurückhaltung und der »Schwarzen Null« mittlerweile erkannt, dass man mit einer solchen Politik keine Wahlen gewinnt. Auch das bürgerliche Lager in Deutschland sucht nach einem neuen Kurs und wendet sich vom Neoliberalismus ab, wenngleich auch nicht so schnell wie in Großbritannien oder den USA.
In der Frankfurter Allgemeinen Sonntagszeitug kommentierte etwa Wirtschaftsredakteur Patrick Bernau den neuen Haushalt von Finanzminister Olaf Scholz (SPD). Sein Artikel liest sich zunächst einmal wie der übliche Sermon, den man vom Flaggschiff des deutschen Konservativismus gewohnt ist: Der Staat müsse sparen, Überschuldung sei ein Problem, Menschen müssten dazu gedrängt werden, länger und mehr zu arbeiten. Doch auch hier finden sich bemerkenswerte Zwischentöne: So klagt Bernau etwa über den gigantischen Investitionsstau in der Bundesrepublik. Er übergeht dabei natürlich geflissentlich, dass dieser eine direkte Folge der von Bürgerlichen innig geliebten Schuldenbremse ist, die Schulden ja nicht abschafft, sondern lediglich aus den Bilanzen in die Infrastruktur verlagert. Dennoch greift er hier einen der Hauptkritikpunkte auf, der einstmals vor allem von links gegen die Groko-Politik ins Feld geführt wurde.
Auf den Seiten der FAZ wird nun auch kritisiert, wie hemmungslos SPD und CDU das obere Viertel der bundesdeutschen Gesellschaft mit Steuergeld versorgt haben: Bernau empört sich in klaren Worten über die zehn Milliarden Euro, die ins Baukindergeld geflossen seien, »das vermutlich nicht viel mehr bewirkt hat, als die Immobilienpreise noch weiter in die Höhe zu treiben«. Dieses Eingeständnis ist bemerkenswert, dürfte doch die Mehrzahl der Leserinnen und Leser der FAZ eben jener sozialen Schicht angehören, die vom Baukindergeld profitiert hat. Und Bernau zieht gar in Erwägung, die Steuern für die Reichen zu erhöhen, um sie für die Mittelschicht zu senken. Beim gleichen Thema hätte sich die FAZ vor wenigen Jahren mit Sicherheit noch schützend vor die bedrohten »Leistungsträger« gestellt.
All das ist von der Kehrtwende, die die Financial Times vollführte, als sie vor einem Jahr ein bedingungsloses Grundeinkommen anregte, noch weit entfernt – Patrick Bernau lehnte ein solches zur selben Zeit ganz entschieden ab. Dennoch schlagen diese beiden Ausschnitte aus zwei Leitmedien des bürgerlichen Lagers in dieselbe Kerbe: Sie erwähnen mit keinem Wort, dass die hier angemahnten Projekte seit Jahrzehnten Talking Points der politischen Linken sind – und tun nebenbei noch so, als stünden die beklagten Probleme in keinerlei Zusammenhang mit den wirtschaftspolitischen Forderungen, die man selbst jahrzehntelang propagiert hat und die von der Politik aufgegriffen wurden.
Darüber hinaus sollte man in beiden exemplarischen Texten den Versuch erkennen, ein neues politisches Projekt zu formulieren und die eigene Klientel behutsam mitzunehmen. Dieser Richtungswechsel muss in Deutschland, dem Zuchtmeister Europas, etwas sachter vorgenommen werden, könnte aber durchaus gelingen, denn der radikale Flügel ist zu großen Teilen auf Nimmerwiedersehen zur AfD abgewandert. Dass vor allem in den Städten ein urbanes bürgerliches Milieu allem Anschein nach dauerhaft zu den Grünen übergelaufen ist, deutet ebenso keinesfalls eine Linkswende an, sondern ist vielmehr Ausdruck desselben Trends.
Es ist Bewegung in der politischen Landschaft und das bürgerliche Lager, das von den »Populismen« der 2010er Jahre zunächst verwirrt und dann empört war, beginnt sich neu zu sortieren. Die sozialistische Linke sollte daher einen wachsamen Blick auf die bürgerlichen Leitmedien richten. Um ihren hegemonialen Anspruch zu verteidigen, können die gesellschaftlichen Eliten in modernen Demokratien nicht nur mit Zwang herrschen. Sie müssen auch »führen«. Dazu müssen sie den Beherrschten Kompromisse anbieten – und in Publikationen wie der FAZ und der Financial Times wird verhandelt, wie diese aussehen könnten. Zwar sollte man die Rolle dieser Medien als Meinungsmacher auch nicht überschätzen. Doch ein Seismograph für die Befindlichkeiten unserer Gegnerinnen und Gegner sind sie allemal.
Für die deutsche Linke, die ohnehin am Ende einer strategischen Sackgasse angekommen ist, dürfte es schwierig werden, aus dieser unübersichtlichen Gemengelage Handlungsimplikationen abzuleiten. Fest steht jedoch, dass eine linke Strategie, die allein auf eine Opposition gegen Sparpolitik setzt, von diesem alten Gegner in neuem Gewand schnell ausmanövriert werden wird – zumindest in den kapitalistischen Zentren, wo die Spielräume der Staaten größer sind. Stattdessen einen auftrumpfenden »Alles für alle!«-Maximalismus zum Programm zu machen, um das materielle Angebot der bürgerlichen Kräfte zu überbieten, mag verführerisch sein, ist aber wahrscheinlich ebenso zum Scheitern verurteilt.
Vor allem aber sollte sich die Linke nicht entspannt zurücklehnen und darauf hoffen, dass nun das bürgerliche Lager die Umverteilung erledigt, die man selbst immer gefordert hat. Denn das Ziel eines von oben initiierten Kompromisses ist ja gerade, den Kern der Macht unangetastet zu lassen – und der besteht in der immer obszöneren Konzentration des Reichtums an der Spitze der Gesellschaft, die sich im vergangenen Krisenjahr nur noch weiter gesteigert hat.
Eine Formation, wie die wahrscheinliche schwarz-grüne Koalition, bei der nach jüngeren Umfragen sogar eine Beteiligung der FDP hinzukommen könnte, hätte selbstredend nicht das Ziel, für größere materielle Gleichheit in Deutschland (oder gar der EU) zu sorgen. Zwar würde sie wahrscheinlich zu einem gewissen Grad mit neuen Maßnahmen außerhalb des ehemaligen neoliberalen Konsenses gegen soziale Ungleichheit vorgehen. Deren eigentliche Ziele wären aber andere: Ökonomisch kann nur so eine Korrektur der Nachfrageschwäche des Binnenmarktes erfolgen, um in einer Zeit der nachlassenden Globalisierung das deutsche Exportmodell weniger krisenanfällig zu machen. Zudem erfordert die Wettbewerbsfähigkeit Deutschlands objektiv höhere staatliche Investitionen, wie die FDP nicht müde wird zu betonen.
Politisch würden solche neuen Maßnahmen der Integration der akademisch-urbanen Teile des Bürgertums in diese neue Koalition dienen, nachdem vor allem deren jüngere Generation in den letzten Jahren drohte, wegen steigender Immobilienpreise und prekärer Arbeitsverhältnisse »proletarisiert« zu werden. Dass man dieser Klientel vermeintlich »linke« Angebote wie höhere öffentliche Bildungsausgaben, großzügigere Kulturförderungen und kulturellen Liberalismus anbieten könnte, sollte nicht darüber hinwegtäuschen, dass ihr Ziel die Bewahrung von Ungleichheit ist, nicht ihre Aufhebung. Selbst die kooptierten unteren Schichten des Bürgertums hätten mit einer linken Politik mehr zu gewinnen.
Arbeiterinnen und Arbeiter werden ihre Interessen ohnehin nur noch marginal vertreten finden, was den Rechten einige Gelegenheiten eröffnen dürfte, sich durch die Ethnisierung sozialer Fragen als deren Anwalt zu inszenieren. Von der gewandelten Rhetorik des bürgerlichen Lagers sollte man sich also nicht blenden lassen. Eine Strategie, die Menschen entlang der Klassenlinien mobilisiert, ist gerade jetzt nötig und auch möglich.
Veit Groß ist Historiker, Mitglied der Linkspartei und lebt in Göttingen.
Veit Groß ist Historiker, Mitglied der Linkspartei und lebt in Göttingen.