28. November 2023
Der Wahlsieg von Geert Wilders wird von vielen als Schock empfunden. Dabei fiel dem Mainstream jahrelang nichts Besseres ein, als seine Rhetorik zu übernehmen. In der Folge könnten die Niederlande nun einen rechtsradikalen Ministerpräsidenten bekommen.
Kommunikation eines Gewinners: Geert Wilders am Tag nach der Wahl im Repräsentantenhaus, 24. November 2023.
Die Wahlen in den Niederlanden am vergangenen Mittwoch waren für viele in Europa ein Schock: die rechtsradikale Partei für die Freiheit (PVV) von Geert Wilders erhielt die meisten Stimmen. Künftig hat sie 37 der 150 Sitze im Parlament inne. Noch nie in der niederländischen Nachkriegsgeschichte hat eine rechtsradikale Partei derartig viel Zuspruch erhalten. Unter den liberalen Journalistinnen und Kommentatoren herrschen Ungläubigkeit und Empörung. Doch diese Kritik wirkt scheinheilig, denn der Vormarsch Wilders‘ hat sich schon lange abgezeichnet.
Zweifellos ist das Ergebnis symptomatisch für die weitere Radikalisierung der Rechten überall in Europa. Zwar spielten zunächst die Themen Lebenshaltungskosten und die demokratische Rechenschaftspflicht der Regierung bei dieser Wahl eine wichtige Rolle, doch entscheidend war letztlich die Politisierung der Migration. Einwanderung und Asyl wurden in den vergangenen Jahrzehnten immer wieder debattiert, wurden aber erst zu dem zentralen Thema, als die letzte Regierung am Streit darüber zerbrach. Wilders, der schon vor Donald Trump neben Rassismus mit äußerst fragwürdigen Frisur-Entscheidungen die Aufmerksamkeit der Polit-Presse auf sich zog, ließ sich vom Ex-US-Präsidenten zu seinem diesjährigen Wahlslogan inspirieren: »Niederländer zuerst«.
Für den Aufstieg Wilders‘ ist aber nicht nur dieser selbst verantwortlich. Die liberal-konservative Volkspartei für Freiheit und Demokratie (VVD), die unter dem scheidenden Ministerpräsidenten Mark Rutte 13 Jahre lang eine ruinöse neoliberale Politik betrieben hatte, ließ sich auf ein Vabanquespiel ein, indem sie sich in den letzten Wahlkampfwochen ebenfalls auf Migration konzentrierte. Die von Dilan Yeşilgöz geführte Partei musste letztlich deutliche Verluste hinnehmen und hat künftig nur noch 24 statt 34 Parlamentssitze. Der politische Neueinsteiger, der christdemokratische Neue Sozialvertrag (NSC) von Pieter Omtzigt, erhält 20 Sitze. Das Mitte-Links-Bündnis unter Frans Timmermans (PvdA-Grüne Linke) wurde mit 25 Sitzen zweitstärkste Kraft, was allerdings nicht ausreicht, um den allgemeinen Rechtsruck auszugleichen.
Geert Wilders gelang der (erste) Durchbruch bereits 2006, als er bei den damaligen Wahlen neun Sitze gewinnen konnte – und seine Partei in Partij voor de Vrijheid umbenannte. Zuvor hatte er die Position des rechten Führers vom ermordeten Pim Fortuyn übernommen, der nach den Anschlägen vom 11. September 2001 seinerseits vor einer »Islamisierung der Niederlande« gewarnt hatte. Auch Wilders machte einen imaginären Kulturkrieg gegen den Islam zum Leitmotiv der Partei. In seinem ersten Programm, das in der Folgezeit weitgehend unverändert bleiben würde, forderte er die Abschaffung von Artikel 1 der niederländischen Verfassung, dem grundsätzlichen Verbot von Diskriminierung. Stattdessen sollte es seiner Ansicht nach oberste Aufgabe des Staates sein, »die Dominanz der jüdisch-christlichen sowie humanistischen Tradition und Kultur« zu sichern.
Seitdem hat sich Wilders – das einzige Mitglied seiner doch recht eigenartig strukturierten »Partei« – als das insgeheim geliebte »schwarze Schaf« der niederländischen Politik inszeniert. Zu seinen größten PR-Stunts gehörten ein Redeverbot für Imame sowie eine – wie er es nannte – Kopvoddentaks, eine »Kopflappensteuer«, also eine Sondersteuer für muslimische Frauen, die Kopftuch tragen. Im Jahr 2010 erzielte er ein so gutes Wahlergebnis, dass die VVD und der Christdemokratische Appell (CDA) eine Minderheitsregierung bildeten, die von Wilders toleriert und unterstützt werden musste. Es war ein erster Wendepunkt hin zur Normalisierung der radikalen Rechten in den Niederlanden.
»Die niederländische Wirtschaft – in der es einen chronischen Mangel an Arbeitskräften für niedrig bezahlte, »einfache« Arbeit gibt – hat lange Zeit von der Arbeitsmigration profitiert.«
Die VVD unter Mark Rutte spielte bei diesem Wendepunkt eine wichtige Rolle. Aufgrund des externen Drucks der PVV sowie kleiner, immer neuer rechter Konkurrenten wie dem Forum für Demokratie (FvD) von Thierry Baudet, und interner Unzufriedenheit innerhalb der VVD hat sich die Partei langsam, aber sicher von ihren klassisch-liberalen Werten verabschiedet. Stattdessen machte man sich zunehmend die Sprache der radikalen Rechten zu eigen. Mark Rutte selbst thematisierte nun immer häufiger eine vermeintliche »Flüchtlingskrise«.
Er spielte kürzlich auch eine wichtige Rolle auf der EU-Bühne, als er zusammen mit Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen und der italienischen Rechtsaußen-Führerin Giorgia Meloni ein sogenanntes Flüchtlingsabkommen mit Tunesien abschloss. Nach Angaben von Menschenrechtsorganisationen werden im Rahmen dieses Abkommens Geflüchtete unter anderem in der Wüste ausgesetzt und sich selbst überlassen. Auf Twitter sprach Rutte triumphierend von »einem wahren Meilenstein«. Am 7. Juli zerbrach sein Kabinett, als er opportunistisch eine Höchstgrenze für die Zahl der Familienzusammenführungen für Asylsuchende (in seinen Worten: »ein Ultimatum«) stellte.
Angesichts der gestiegenen Preise für Lebensmittel und Energie sowie der anhaltenden Wohnungsknappheit in den Niederlanden schien das Thema soziale Sicherheit diesen Wahlkampf zunächst zu dominieren. Mit einem nostalgischen »Aufruf zur Wiederherstellung des Wohlfahrtsstaates« gelang es vor allem dem Christdemokraten Omtzigt, sich zu positionieren. In den letzten Wochen vor der Wahl nahm dann aber die Identitätspolitik in vielen Fernsehdebatten und Printmedien deutlich mehr Raum ein: Es könne nicht angehen, dass jede und jeder vom niederländischen Sozialstaat profitiert; fehlende Wohnungen seien vor allem auf die stetig ansteigende Einwanderung und auf Asylsuchende zurückzuführen, so der allgemeine Tenor.
Dies ist ganz klar politisches Framing und die Übernahme eines von der Rechten erdachten Märchens. Denn die Statistiken zeigen, dass die Zahl der Asylanträge in den Niederlanden seit den 1990er Jahren in etwa gleich geblieben ist. Außerdem handelt es sich bei 90 Prozent der Einwanderer um Arbeitsmigrantinnen und Expats, einschließlich ausländischer Studierender.
Die niederländische Wirtschaft – in der es einen chronischen Mangel an Arbeitskräften für niedrig bezahlte, »einfache« Arbeit gibt – hat lange Zeit von der Arbeitsmigration profitiert. Der Migrationsexperte Leo Lucassen kommentiert: »In den Bereichen Vertrieb, Logistik, Schlachtereien, Landwirtschaft und Gartenbau werden hauptsächlich Polen, Rumänen und Bulgaren beschäftigt. Sie arbeiten dort unter Bedingungen mit hyperflexiblen Arbeitszeiten, die die meisten Niederländer für sich selbst nicht haben wollen.«
»Wilders' Programm ist und bleibt so diskriminierend und rassistisch wie eh und je.«
Während des Wahlkampfs wurde über diese 90 Prozent natürlich nur wenig gesprochen. Wilders stellte die Niederlande als »ein großes Asylbewerberheim« dar. In gewisser Weise hat allerdings auch er sein Fähnchen in den aktuell blasenden Wind gehängt: Statt der üblichen Anti-Islam-Rhetorik konzentrierte er sich darauf, Asylsuchende im Allgemeinen zu dämonisieren und deutete an, dass er seine früheren verfassungsfeindlichen Vorschläge aufgeben würde, um an der neuen Regierung beteiligt werden zu können.
In den Mainstream-Medien hieß es deshalb, Wilders sei »milder« geworden. Das gilt allerdings nur für sein öffentliches Auftreten. Sein Programm ist und bleibt so diskriminierend und rassistisch wie eh und je.
Wie in ganz Europa ist der Sieg der PVV in den Niederlanden das Ergebnis einer langjährigen Normalisierung der radikalen Rechten. Die einst liberal-konservative VVD, die inzwischen mit dieser radikalen Rechten konkurriert, wollte mit dem Thema Migration punkten. Das ist wie so oft nach hinten losgegangen: Die Menschen wählen lieber das Original.
Offenbar hatten rund 15 Prozent der Wählerinnen und Wähler von Wilders zuvor VVD gewählt. Ebenso konnte er viele bisherige Nichtwähler mobilisieren, die für weitere 12 Prozent seiner Stimmen sorgten. Neben ihrer kleinen Kernbasis mit einer stramm rassistischen Anti-Islam-Ideologie, ist die Wählerschaft der PVV somit relativ vielfältig und kommt aus dem ganzen Land sowie aus unterschiedlichen Schichten. Vermutlich sind viele Stimmen auch auf Protest gegen und Unzufriedenheit mit den (weniger radikalen) etablierten Parteien zurückzuführen.
»Der niederländischen Linken droht, wie in weiten Teilen Europas, eine neue Eiszeit.«
Enttäuschend ist, dass es die Mitte-Links-Koalition von Ex-EU-Kommissar Timmermans in diesem Wahlkampf nicht vermocht hat, eigene Akzente zu setzen. Stattdessen wurde lediglich möglichst emotional auf Wilders reagiert und bei diversen Gelegenheiten betont, dieser müsse »gestoppt« werden. Für eigene politische Inhalte blieb da wenig Raum. In der letzten Phase des Wahlkampfes rief Timmermans‘ Truppe dazu auf, »strategisch« für die PvDA-Grüne Linke zu stimmen.
Nach der Wahl ist vor der Regierungsbildung; und diese bleibt in den Niederlanden kompliziert. Für eine Mehrheit im Parlament wäre eine Zusammenarbeit der rechtsradikalen PVV mit der nominal liberalen VVD und dem konservativen NSC möglich, oder aber ein Anti-Wilders-Kabinett aus VVD, NSC und PvdA-Grüne Linke. Diesbezüglich ist leider festzustellen, dass die »Brandmauer« der VVD und der NSC gegen Wilders bereits sehr brüchig zu sein scheint. Am Tag nach den Wahlen sprach der VVD-Vorsitzende Yeşilgöz jedenfalls in einem versöhnlichen Ton von einer »neuen politischen Realität".
Gleichzeitig droht der niederländischen Linken, wie in weiten Teilen Europas, eine neue Eiszeit. Die Koalition PvDA-Grüne Linke wollte einen »grünen« Wandel mit »roten« Themen wie sozialer Sicherheit verbinden. Möglicherweise auch aufgrund von Timmermans‘ Geschichte als Vordenker des sogenannten Green New Deal der EU konzentrierte sie sich allerdings zunächst sehr auf ihre Klimapolitik und vernachlässigte dabei ihr Sozialprogramm. Die Sozialistische Partei (SP), die einzige Kraft mit einer wirklich überzeugenden Agenda im Bereich soziale Sicherheit, fiel derweil von neun auf fünf Sitze zurück.
In den Niederlanden sitzt die radikale Rechte also fest im Sattel. Angesichts dieser Bedrohung muss die Linke aufhören, immer und immer wieder Kompromisse in ihrer Politik einzugehen – und endlich wieder kämpferisch werden.
Helmer Stoel ist Redakteur bei Jacobin NL.