23. Juli 2025
Mit dem Versprechen auf einen guten Job angelockt, werden Menschen in Südostasien in Scam-Fabriken festgehalten und zur Online-Betrügerei gezwungen. Eine brutale Industrie, die Milliarden umsetzt – und in Krisenzeiten besonders schnell wächst.
Drohnenaufnahme von KK Park, einem gefängnisartigen Komplex an der Grenze zwischen Thailand und Myanmar, wo Tausende gezwungen werden, Menschen über das Internet mit Betrugsmaschen auszunehmen.
Schätzungen zufolge arbeiten mehr als 220.000 Menschen in Online-Betrugsnetzwerken in Südostasien. Unter falschen Vorwänden und Versprechungen werden sie in Grenzstädte gelockt und dort gezwungen, entweder als Online-Betrüger oder aber auch als Sexarbeiter oder andere Dienstleister in den Lagern zu arbeiten.
Die Sklaverei, die Gewalt und die gefühlte Gesetzlosigkeit der »Branche« haben die Regierungen in der Region zumindest teilweise zum Handeln gezwungen. So wurde die Entführung und Versklavung eines jungen Schauspielers im Jahr 2024 in den chinesischen sozialen Medien zu einem viralen Event und führte im Januar 2025 zu seiner Rettung. Im Februar gab es erneut aufsehenerregende Berichte in Festlandchina, Hongkong und Macau über die Entführung junger Menschen. Die chinesische Regierung koordinierte mit Myanmar und Thailand Razzien in derartigen Arbeitslagern in der Grenzregion. Dabei konnten tatsächlich rund 7.000 Menschen befreit werden.
Trotz der Razzien erzielt die Betrugsindustrie weiterhin jährliche Einnahmen in Höhe von mehreren hundert Milliarden Dollar. Sie ist mittlerweile äußerst komplex und beschäftigt möglicherweise bis zu 6 Millionen Menschen außerhalb der Arbeitsanlagen, die den Geldfluss aus den Betrügereien sichern.
Ivan Franceschini, Ling Li und Mark Bo haben die Strukturen dieser mächtigen Schattenindustrie analysiert. Dafür haben sie Interviews mit Hunderten Opfern dieser Scam-Systeme geführt. Ihre Recherchen zeichnen ein düsteres Bild einer stetig wachsenden Industrie des zeitgenössischen Kapitalismus.
Für Jacobin sprach Chris Dite mit Franceschini, Li und Bo über ihre Arbeit und darüber, warum wir ein differenzierteres Verständnis für die Vorgänge in Südostasien benötigen.
Sie berichten in Ihrer Arbeit von einem Wirtschaftsmodell, das Sie als »compound capitalism« – Lagerkapitalismus – bezeichnen. Was genau ist damit gemeint?
Franceschini: Wir betrachten solche Arbeitslager der Scam-Industrie als eine der neuesten Erscheinungsformen des Raubtierkapitalismus. Cyberbetrug im industriellen Maßstab ist etwas Neues, aber gleichzeitig lässt sich dieses Phänomen in einen breiteren, längerfristigen Kontext einordnen. Wir heben vier Dimensionen dieser Situation hervor.
Die erste ist ihre Außergewöhnlichkeit. Diese Lager/Komplexe in Südostasien sind so etwas wie eine extremere Form von Sonderwirtschaftszonen. Es herrscht absolute Isolation: Es gibt Mauern, Überwachung, Stacheldraht, überall Wachpersonal und Kameras. Und staatliche Akteure sind daran beteiligt. Die Menschen, die dort gefangen sind, sind über das Internet rund um die Uhr mit der Außenwelt verbunden, können aber trotzdem nicht frei kommunizieren.
Der zweite Aspekt ist die Arbeitsorganisation und die Kontrolle der Arbeitskräfte. Diese »Arbeitgeber« stellen Unterkünfte zur Verfügung und versuchen, die Arbeitskräfte zu kontrollieren, indem alle Aspekte der Produktion genauestens organisiert werden. Die Arbeiterinnen und Arbeiter werden in Gebäuden, in denen sie schlafen, essen und den gesamten Rest ihrer Zeit verbringen, praktisch gefangen gehalten. Es gibt historische Präzedenzfälle für derartige Arrangements, beispielsweise die Bergbaukomplexe in Südafrika während der Apartheid oder das Wohnheim-System in China während der Reform- und Öffnungsphase.
»Die Arbeiterinnen und Arbeiter werden in Gebäuden, in denen sie schlafen, essen und ihre gesamte Zeit verbringen, praktisch gefangen gehalten.«
Die dritte Dimension ist die Datenextraktion. Betrügerische Unternehmen extrahieren wie legitime Tech-Unternehmen auf raffinierte Weise Daten von Usern. Es handelt sich um eine Branche, die auf der Aneignung von Informationen basiert und damit eine sehr starke persönliche Komponente hat. Indem solche Firmen ihren Opfern das Gefühl geben, gesehen und gehört zu werden, schaffen sie eine Art Sucht.
Li: Hier muss man betonen: Betrüger nutzen fundamental menschliche Schwächen aus. Einsamkeit ist ein globales Problem, und trotz des technologischen Fortschritts haben sich soziale Beziehungen nicht wirklich gefestigt. Dating oder das Knüpfen neuer Freundschaften sind heute vermutlich noch schwieriger als früher. Betrüger nutzen die entsprechend entstehenden Emotionen aus. Ein ehemaliger Scammer erzählte mir, wie die persönlichen Hintergründe [des Opfers] analysiert werden. Es geht darum, herauszufinden, was das Opfer am meisten braucht, ihm oder ihr einen Traum vor Augen zu führen und glauben zu machen, dass dieser Traum verwirklichbar ist. Je ärmer und marginalisierter die Menschen sind, desto anfälliger sind sie für Betrüger – schlicht, weil sie sich etwas wünschen und brauchen.
Franceschini: Der letzte Aspekt dieses Scam-Kapitalismus ist Enteignung und Proletarisierung. Viele der Menschen, die in den Lagern landen, stammen aus einkommensschwachen Umfeldern und verfügen meist maximal über eine Grundbildung. Oft kommen sie aus Familien, die ihre Existenzgrundlage verloren haben, oder sie sind junge Menschen, die Schwierigkeiten haben, eine gut bezahlte Arbeit zu finden. Sie sind verzweifelt, fühlen sich für ihre Familien verantwortlich und haben keine adäquaten Alternativen, um ihren Lebensunterhalt zu erwirtschaften.
Sie argumentieren, dass jeder Versuch, ein Profil des typischen Opfers von solcher Zwangskriminalität zu erstellen, wahrscheinlich eine zu starke Vereinfachung darstellen würde. Inwiefern?
Li: Es gibt ein breites Spektrum an Erfahrungen. Daher ist es unmöglich, Verallgemeinerungen zu treffen. Die Menschen geraten unter höchst unterschiedlichen Umständen in diese Machenschaften. Einige werden durch gefakte Stellenanzeigen angelockt, andere werden wortwörtlich verschleppt, und wieder andere wiederum wissen, dass sie illegale Arbeit verrichten werden, sind sich jedoch des vollen Ausmaßes der Gefahr nicht bewusst. Das bedeutet bei vielen auch, dass sie nicht zwangsläufig vorhatten, Online-Betrüger zu werden: Wir haben Menschen getroffen, die dachten, sie würden in die Grenzstädte gehen, um Jade zu schmuggeln, oder nach Kambodscha, um Bitcoin zu schürfen.
Viele Opfer entsprechen dem klassischen Profil von Menschenhandel. Sie sind relativ jung, haben einen niedrigen Bildungsstand und befinden sich in einer finanziellen Notlage. Dies trifft jedoch nicht auf alle zu – Opfer aus Südasien verfügen oft über eine höhere Bildung und Englischkenntnisse. Viel hängt von den unterschiedlichen Anwerbemethoden ab. Chinesische, vietnamesische oder indonesische Opfer werden eher über informelle Verbindungen wie Freunde, Menschen aus demselben Dorf oder über Online-Stellenanzeigen in sozialen Medien vermittelt. Andere südasiatische oder auch afrikanische Opfer kommen oft über vermeintliche Arbeitsagenturen, die sich als Menschenhändler herausstellen.
»Indem solche Firmen ihren Opfern das Gefühl geben, gesehen und gehört zu werden, schaffen sie eine Art Sucht.«
Einige Opfer werden zu Programmieraufgaben oder in KI-Teams gezwungen, doch viele andere verrichten eher einfache Tätigkeiten, die keine technischen Vorkenntnisse erfordern, wie das Kopieren und Einfügen von Textbausteinen. In vielen Betrieben müssen die Opfer keine Fremdsprache sprechen – hier wird ChatGPT recht effizient genutzt. Es ist daher falsch anzunehmen, dass Opfer, weil sie an Cyberkriminalität beteiligt sind, über gewisse IT- oder Sprachkenntnisse verfügen müssen. Diese Annahme birgt vielmehr die Gefahr, dass die vulnerabelsten und schutzbedürftigsten Opfer übersehen werden.
Auch die »offizielle« Wirtschaft basiert auf ausbeuterischen oder verelendenden ökonomischen Praktiken und Strategien. Inwiefern beeinflussen andere Branchen die Schattenindustrien, die Sie analysieren, und wie verschärfen sie die Problematik möglicherweise?
Franceschini: Diese Branche profitiert von ökonomischen Krisen. Sie erlebte während der Coronavirus-Pandemie einen rasanten Aufschwung, als die Mobilität eingeschränkt und es schwierig war, Arbeit zu finden, und die Menschen sich insgesamt einsam, unglücklich und gestresst fühlten. Dies schuf eine Nachfrage nach den »Dienstleistungen«, die diese Betrüger anbieten. Es ist wesentlich einfacher, vereinsamte Menschen anzusprechen und in die Falle zu locken.
Diese Branche profitiert von ökonomischen Notlagen: Zu dieser Zeit verloren viele Menschen ihren Arbeitsplatz und zahlreiche Familienbetriebe gingen in Konkurs. Viele Menschen waren verzweifelt auf der Suche nach Arbeit. Wenn jemand mit dem Angebot »Ich habe da etwas für Sie« auf sie zukam, stellten sie keine Fragen – und landeten in diesen Lagern. In normalen Zeiten hätten sie vielleicht zweimal überlegt, bevor sie für irgendeinen ominösen Job in ein anderes Land gehen.
Diese Situation wird sich wahrscheinlich noch verschärfen. Viele Volkswirtschaften stehen vor strukturellen Herausforderungen; insbesondere die chinesische Wirtschaft verlangsamt sich. Junge Menschen leiden, verlieren die Hoffnung und greifen zu Maßnahmen wie »Tangping« (zu Deutsch in etwa: »flach liegen« – sich vollständig aus dem hart umkämpften chinesischen Arbeitsmarkt zurückziehen). Es ist einfach sehr schwierig, einen Arbeitsplatz zu finden, bei dem man ausreichend verdient.
Einige Beobachter legen nahe, die chinesische Belt and Road Initiative (BRI) habe zum Wachstum solcher Scam-Arbeitslager beigetragen. Stimmt das?
Bo: Wir versuchen, die Rolle des chinesischen Staates nüchtern und objektiv zu betrachten. In vielen Analysen wird versucht, das Wachstum der Scam-Industrie mit der BRI in Verbindung zu bringen. Ein Problem dabei ist aber, dass sehr viele Länder entsprechende Absichtserklärung zur Kooperation im Rahmen der BRI mit China unterzeichnet haben. Die Betrugsindustrie konzentriert sich jedoch auf nur eine Handvoll Länder. Singapur, Malaysia und Indonesien haben beispielsweise Belt-and-Road-Abkommen unterzeichnet, aber keine derartige Explosion von Scam-Aktivitäten erlebt wie Kambodscha, Laos oder Myanmar.
Deswegen gehen wir davon aus, dass die lokalen Bedingungen der entscheidende Faktor sind, der kriminelle Aktivitäten begünstigt und florieren lässt. Die Belt and Road Initiative ist in diesem Sinne weit weniger ausschlaggebend. Tatsächlich hat die Betrugsindustrie dem Ruf der BRI sogar geschadet – in Einzelfällen haben Betrüger und andere dubiose Investoren fälschlicherweise behauptet, Teil der BRI zu sein oder eine Art staatliche Unterstützung zu genießen.
»Diese Branche profitiert von ökonomischen Krisen.«
Dennoch lohnt es sich auf jeden Fall, die Beteiligung chinesischer Staatsunternehmen an der Betrugsindustrie zu untersuchen. Wir haben viele Fälle beobachten können, in denen staatliche Unternehmen für den Bau von Immobilien im Zusammenhang mit Online-Glücksspiel und Betrug beauftragt wurden. Das bedeutet nicht, dass diese chinesischen Firmen direkte Investoren [in die Betrugsaktivitäten] sind, sondern lediglich, dass sie als Bauunternehmen beauftragt wurden. Wir können nicht mit Sicherheit sagen, ob dies auf mangelnde Sorgfalt oder auf mangelndes Interesse daran zurückzuführen ist, mit wem Geschäfte gemacht werden. Sicher ist jedoch, dass dies eine Folge der raschen globalen Expansion chinesischer Bauunternehmen ist.
Sie legen nahe, dass in zunehmend polarisierten Zeiten eine differenziertere Sichtweise auf die »Schattenseiten des globalen China« erforderlich sei. Was meinen Sie damit genau?
Franceschini: Neben dem Blick auf chinesische Regierungsbehörden und staatliche Unternehmen sowie die lokalen Akteure, mit denen sie zusammenarbeiten, gibt es eine weitere, weitaus weniger sichtbare Ebene von Akteuren, die man als die besagte »Schattenseite des globalen China« bezeichnen könnte. Zu dieser Ebene gehören die transnationalen Aktivitäten chinesischer Verbrechersyndikate, einschließlich ihrer illegalen Geldströme, ihrer Verbindungen untereinander und zu ihren ausländischen Partnern und zu lokalen Gruppen, sowie die Bemühungen Chinas, gegen diese Akteure vorzugehen.
Es handelt sich um ein komplexes Ökosystem von Akteuren mit unterschiedlichen Hintergründen und Ausrichtungen, das sich mit der legalen Wirtschaft überschneidet. Es gibt aber beispielsweise auch taiwanesische Gangster, die sich für die Wiedervereinigung mit China einsetzen, nationalistische Influencer, neuere organisierte kriminelle Gruppen, gewöhnliche Geschäftsleute, Menschenhändler und Geldwäscher, die ihre Geschäfte nicht unbedingt als kriminell betrachten.
»Verschlüsselung und minimale Inhaltsmoderation haben Telegram zu einer beliebten Plattform für illegale Geschäfte gemacht. Ich habe Gruppenchats gesehen, in denen Menschen wie Waren verkauft werden und Menschenhändler ihre Preise für Personen auflisten.«
Der Begriff »Global China« ist so weit gefasst, dass sein tatsächlicher Wert für die Analyse begrenzt sein mag. Wie gesagt: Es gibt eine Vielzahl von Akteuren, die alle ihre eigenen Ziele verfolgen. Manchmal stimmen diese Ziele überein, gegebenenfalls auch mit denen des chinesischen Staates. Manchmal tun sie das nicht, und es kommt zu Konflikten. Diese wenig sichtbare Ebene sollte genauer untersucht werden, um besser zu verstehen, wer diese Menschen sind und wie sie denken.
Welche Rolle spielen Social Media und die großen Tech-Firmen?
Franceschini: 2022 gab es nur vereinzelte Fälle, in denen Opfer beispielsweise über Online-Gaming-Plattformen Kontakte knüpften, bevor sie dann auf WeChat geaddet und mit Stories über hohe Gehälter und ein luxuriöses Leben in Kambodscha in die Betrugsindustrie gelockt wurden. 2024 war hingegen fast ein Drittel der von uns befragten chinesischen Opfer über Social-Media-Plattformen wie Douyin oder Kuaishou angesprochen worden.
Andererseits kann die Berichterstattung in [Online-]Medien, beispielsweise auf Weibo, gewisse Rettungsbemühungen unterstützen und beschleunigen. Einige Opfer, deren Familien versucht haben, sie über Weibo zu retten, bleiben aber bis heute gefangen gehalten. Erschwerend kommt hinzu, dass soziale Medien manchmal die Rettungsbemühungen behindern. Auf chinesischen Plattformen gibt es zahlreiche Accounts, die behaupten, Opfer aus Scam-Arbeitslagern retten zu können. Viele davon sind jedoch selbst Betrüger, die die Familienangehörigen der Opfer ausnutzen, ihnen Geld abknüpfen und dann spurlos verschwinden.
Außerhalb Chinas scheinen Facebook und Telegram die wichtigsten Plattformen für Stellenanzeigen im Bereich Scam zu sein. Verschlüsselung und minimale Inhaltsmoderation haben insbesondere Telegram zu einer beliebten Plattform für illegale Geschäfte wie den Verkauf personenbezogener Daten, Drogen- und Menschenhandel gemacht. Ich habe persönlich Gruppenchats gesehen, in denen Menschen wie Waren verkauft werden und Menschenhändler offen ihre Preise für Personen auflisten.
Soziale Medien haben einerseits zwar dazu beigetragen, das Bewusstsein für Fälle von Menschenhandel und Sklaverei zu schärfen, aber sie sind andererseits nach wie vor weitgehend unreguliert, was die Verhinderung von Betrug und Anwerbung durch Menschenhändler angeht. In einigen Fällen kann man sogar sagen, dass sie Ausbeutung erleichtert haben. Es ist von entscheidender Bedeutung, dass Nichtregierungsorganisationen und Regierungen mit Tech-Unternehmen bei der Bekämpfung von Menschenhandel und Online-Betrug zusammenarbeiten und sie zu proaktiven Maßnahmen drängen. Scam-Inhalte müssen aktiv entfernt, Monitoringsysteme verstärkt und strengere Sicherheitsvorkehrungen eingeführt werden.
NGOs sehen sich beim Kampf gegen diese Situation enormen Hürden gegenüber. Welche strukturellen Probleme gibt es?
Bo: Jahrelang haben die Regierungen der Länder, in denen große Scam-Seiten betrieben werden, deren Existenz geleugnet. Mit der Zeit sahen sie sich gezwungen, das Problem anzuerkennen. Es war einfach zu offensichtlich. Dennoch wird das Ausmaß der Betrugsbranche weiterhin heruntergespielt, indem Berichte über Gewalt oft als »Arbeitskonflikte« abgetan oder Überlebende als Kriminelle statt als Opfer dargestellt werden. Darüber hinaus haben die Personen hinter der Betrugsindustrie oft gute Kontakte zu lokalen Eliten, die ihnen »Schutz« gewähren können. Das bedeutet in der Praxis, dass Menschen, die versuchen, Scam-Aktionen aufzudecken oder Menschen bei der Flucht zu helfen, sehr großen Risiken ausgesetzt sind.
Journalistinnen und Journalisten in Kambodscha, den Philippinen und Myanmar spielen eine wichtige Rolle bei der Dokumentation der Betrugsindustrie und der dahinterstehenden Akteure. Diese Art der Berichterstattung ist aber mit erheblichen Gefahren verbunden. Darüber hinaus gibt es zunehmend Einschränkungen für die Medien. Auch NGOs und andere, informellere Unterstützungsgruppen stehen mit ihrer Arbeit nicht selten den jeweiligen staatlichen Narrativen entgegen. Der Versuch, Menschen zu helfen, kann sehr riskant sein.
»Es gibt zahlreiche Accounts, die behaupten, Opfer aus Scam-Arbeitslagern retten zu können. Viele davon sind selbst Betrüger, die die Familienangehörigen der Opfer ausnutzen, ihnen Geld abknüpfen und dann verschwinden.«
Darüber hinaus gibt es viele logistische Herausforderungen. Myanmar beispielsweise befindet sich in einem blutigen Konflikt, seit die Junta versucht, die Kontrolle über das Land zu gewinnen. Das bringt akute Risiken und praktische Herausforderungen mit sich.
Global gesehen waren die plötzlichen politischen Kurswechsel unter der zweiten Trump-Regierung verheerend. Behörden wie USAID stellten früher Finanzmittel für viele Journalisten und Gruppen bereit, die die Branche beobachten, kriminelle Aktivitäten aufdecken, Menschen bei der Flucht helfen oder Überlebende betreuen. Die sehr abrupte Streichung dieser Mittel hat viele Gruppen dazu gezwungen, ihre Arbeit schlicht einzustellen. Menschen wurden entlassen; andere arbeiten weniger oder ohne Bezahlung. Das kann nicht ewig so weitergehen. Notunterkünfte für geflohene Menschen haben heute kein Geld mehr, um diese Menschen unterzubringen, sie mit Lebensmitteln oder medizinisch zu versorgen.
Also müssen vor allem Staaten die Initiative ergreifen und konsequenter vorgehen?
Franceschini: Die Scam-Industrie ist ein globales Thema, kein rein chinesisches oder rein amerikanisches. Es ist daher unerlässlich, dass alle Seiten miteinander sprechen. Allerdings gibt es zunehmend Hindernisse und politische Unsicherheiten.
Bo: Es gibt keinerlei Anzeichen dafür, dass sich die US-Politik in naher Zukunft ändern wird. Daher ist es umso wichtiger, dass andere Länder einspringen und diese Lücke schließen, zumindest was die Finanzierung für Gegenmaßnahmen betrifft. Dies ist nicht nur eine humanitäre Verpflichtung, sondern auch im eigenen Interesse: Diese Branche betrifft und schadet der ganzen Welt.
Li: Um solchen Menschenhandel zu bekämpfen, sind lokal aktive, sachkundige externe Partner erforderlich, die die Situation beobachten und die betroffenen Länder zum Handeln drängen. Chinas Politik, sich nicht in die inneren Angelegenheiten anderer Staaten einzumischen, ist in der Tat ein erschwerender Faktor. Doch es gibt auch positive Entwicklungen: So haben mir chinesische NGOs mitgeteilt, die Regierung sende zumindest Signale, dass sie bei der direkten Unterstützung von Überlebenden helfen möchte.
Ivan Franceschini ist Dozent am Asia Institute der Universität Melbourne. Sein Forschungsschwerpunkt ist transnationale Kriminalität. Er ist Mitbegründer des »Made in China Journal«, der »People’s Map of Global China« und des »Global China Pulse«.
Ling Li promoviert an der Ca’ Foscari Universität Venedig. Seit einigen Jahren unterstützt sie Überlebende von Scam-Zentren in Südostasien.
Mark Bo ist freiberuflicher Forscher mit Erfahrung im Bereich Unternehmens- und Finanzkartierung. Er analysiert Akteure in der Online-Glücksspiel-, Betrugs- und Geldwäscheindustrie in Ost- und Südostasien.