09. März 2024
Als die Bundesrepublik ankündigte, sich der Völkermordklage gegen Israel zu widersetzen, erinnerte die namibische Regierung deutsche Politiker an Deutschlands eigenen Völkermord in Südwestafrika – ein Verbrechen, das Rosa Luxemburg damals scharf verurteilte.
Rosa Luxemburg am Schreibtisch in ihrer Berliner Wohnung, 1907.
Die namibische Regierung hat am 13. Januar eine der wohl eindrucksvollsten Solidaritätsbekundungen mit den Palästinenserinnen und Palästinensern abgegeben. Sie unterstützte darin ausdrücklich die Klage Südafrikas gegen Israel vor dem Internationalen Gerichtshof wegen Völkermordes. Darüber hinaus gab es die folgende Erklärung als Reaktion auf die Entscheidung der deutschen Bundesregierung, dem alle Anschuldigungen zurückweisenden Israel zur Seite zu stehen:
»Namibia verurteilt die Unterstützung Deutschlands für die völkermörderischen Absichten des rassistischen israelischen Staates gegen unschuldige Zivilisten in Gaza. Deutschland selbst beging den ersten Völkermord des 20. Jahrhunderts in den Jahren 1904-1908, bei dem zehntausende unschuldige Namibierinnen und Namibier unter den unmenschlichsten und brutalsten Bedingungen starben [...]. Präsident [Hage] Geingob appelliert an die deutsche Regierung, ihre unangemessene Entscheidung, vor dem Internationalen Gerichtshof als Drittpartei zur Verteidigung und Unterstützung der völkermörderischen Handlungen Israels aufzutreten, zu überdenken.«
Tatsächlich lässt sich kritisieren, dass Deutschland die Handlungen Israels in Gaza verteidigt, während es für seine eigenen Taten gegen die Völker der Nama und Herero im heutigen Namibia nach wie vor keine Verantwortung übernehmen will. Bisher hat sich kein deutscher Staat bereit erklärt, die Nachkommen der Opfer seines Völkermords finanziell zu entschädigen oder anderweitige Wiedergutmachung zu leisten.
Deutschland begann ab 1884, die Kontrolle über Südwestafrika zu übernehmen – kurz nachdem die europäischen Mächte (mit aktiver Unterstützung der USA) Afrika auf der sogenannten Kongokonferenz in Berlin unter sich aufgeteilt hatten. Auf der Konferenz wurde letztlich beschlossen, afrikanische Menschen ihres Landes zu berauben, sie in Reservate und Konzentrationslager zu treiben und viele zu Sklavenarbeit zu zwingen.
Im Jahr 1903 revoltierten die Nama gegen die deutsche Besatzung, und wenig später, 1904, schlossen sich die Herero an. Das deutsche Kaiserreich reagierte mit Gewalt: General Lothar von Trotha, der bereits 1900 bei der Niederschlagung des Boxeraufstands in China beteiligt gewesen war, erhielt freie Hand, um die Rebellion in Südwestafrika zu beenden. In einem Brief an Alfred Graf von Schlieffen, den Chef des deutschen Generalstabs, macht Trotha seine Ansichten unmissverständlich klar: »Ich glaube, dass die Nation [der Herero] als solche vernichtet werden muss, oder wenn dies durch taktische Schläge nicht möglich ist, operativ und durch die weitere Detail-Behandlung aus dem Lande gewiesen wird […] Dieser Aufstand ist und bleibt der Anfang eines Rassenkampfes.«
»Adolf Hitler soll später mit Blick auf den Überfall auf die Sowjetunion gesagt haben: ›Russland ist unser Afrika; die Russen sind unsere Afrikaner.‹«
Nach dem Sieg über die Rebellen trieb von Trotha die gesamte lokale Bevölkerung – Männer, Frauen und Kinder – in die Kalahari-Wüste, wo die meisten verdursteten, an Krankheiten starben oder verhungerten. In von Trothas Äußerungen lässt sich eindeutig der Wille zum Genozid erkennen: »Innerhalb der Deutschen Grenze wird jeder Herero mit oder ohne Gewehr, mit oder ohne Vieh erschossen, ich nehme keine Weiber und Kinder mehr auf, treibe sie zu ihrem Volke zurück oder lasse auf sie schießen.«
In der Folge starben rund 100.000 Nama und Herero – 85 Prozent der Gesamtbevölkerung.
Trotha erhielt für seinen Einsatz Lob vom Kaiser und wurde nach seiner Rückkehr nach Deutschland eine Führungsperson in der rassistischen Thule-Gesellschaft. In dieser Rolle diente er offenbar auch als Inspirationsquelle für den jungen Adolf Hitler. Der Diktator soll später mit Blick auf den Überfall auf die Sowjetunion gesagt haben: »Russland ist unser Afrika; die Russen sind unsere Afrikaner.«
Die jüngste Reaktion der namibischen Führung gegen die Bundesregierung erinnert an die scharfe Anklage gegen den deutschen Imperialismus, die Rosa Luxemburg schon damals formulierte. Von Beginn ihrer Tätigkeit als Aktivistin und Theoretikerin an kritisierte Luxemburg die völkermörderischen Auswirkungen, die das Eindringen des europäischen und amerikanischen Kapitals in die nicht-westliche Welt mit sich brachte (und bis heute mit sich bringt). Dabei verwies sie immer wieder auf Afrika, einen Teil der Erde, dem viele Sozialisten in der westlichen Welt damals kaum Aufmerksamkeit schenkten.
So schreibt Luxemburg in ihrer Einführung in die Nationalökonomie (1909–15), für Völker in kolonialisierten Gebieten sei der »Übergang von den primitiven kommunistischen Zuständen zu den modernen kapitalistischen tatsächlich als eine plötzliche Katastrophe, als ein unsägliches Unglück voll furchtbarster Leiden eingetreten«. Dies gelte besonders für die Einheimischen in Südwestafrika unter der Knute des Deutschen Reichs.
In Die geschichtlichen Bedingungen der Akkumulation bespricht sie den sogenannten Burenkrieg zwischen weißen Siedlern und der britischen Regierung in Südafrika. Luxemburg berichtet darin, wie die »winzigen Bauernrepubliken« der Buren auch »im ständigen Guerillakrieg mit den Bantunegern« standen. Der jahrzehntelange Kampf zwischen den Buren und der englischen Regierung werde somit auf dem Rücken der lokalen Bevölkerung ausgefochten. Der englischen Bourgeoisie gehe es dabei (entgegen der eigenen Aussagen) nicht um eine »angestrebte Emanzipation« der indigenen Bevölkerung; vielmehr »traten hier die Bauernwirtschaft und die großkapitalistische Kolonialpolitik in Konkurrenzkampf miteinander […] um Land und Arbeitskraft« der Menschen vor Ort. Ein Ziel hatten beide Konfliktparteien aber gemeinsam: »Niederwerfung, Verdrängung oder Ausrottung der Farbigen, Zerstörung ihrer sozialen Organisation, Aneignung ihres Grund und Bodens und Erzwingung ihrer Arbeit im Dienste der Ausbeutung.«
Luxemburg stellte insbesondere die deutschen Verbrechen an den Nama und Herero heraus, als diese sich gerade ereigneten. In ihrem Artikel Der russische Terroristen-Prozeß schreibt sie Anfang 1904: »Freilich verstehen es unsere Geheimräte sehr gut, gegen die afrikanischen Hereros, gegen die ›bezopften Chinesen‹ zum ›Rachefeldzug‹ zu hetzen und für jedes vernichtete Leben eines deutschen Kolonialabenteurers ein Leben – nein, Tausende von Leben als ›Sühne‹ zu fordern. Sie verstehen es wohl, für ›die Ehre der Deutschen‹ nach Rache zu schreien, sobald irgendwo in Honolulu oder in Patagonien irgendjemand die Deutschen ›mit scheelem Blicke‹anzusehen wagt.«
Auch in ihrem Essay Die Proletarierin (1912) kommt Luxemburg auf das Leid der Herero und anderer indigener Völker, und insbesondere das der Frauen, zu sprechen: »Die Werkstatt der Zukunft bedarf vieler Hände und heißen Atems. Eine Welt weiblichen Jammers wartet auf Erlösung. Da stöhnt das Weib des Kleinbauern, das unter der Last des Lebens schier zusammenbricht. Dort in Deutsch-Afrika in der Kalahari-Wüste bleichen die Knochen wehrloser Hereroweiber, die von der deutschen Soldateska in den grausen Tod von Hunger und Durst gehetzt worden sind. Jenseits des Ozeans, in den hohen Felsen des Putumayo, verhallen, von der Welt ungehört, Todesschreie gemarterter Indianerweiber in den Gummiplantagen internationaler Kapitalisten.«
Drei Jahre später thematisiert sie in ihrem bekannten Werk Die Krise der Sozialdemokratie erneut die Verbrechen im Namen des Imperialismus. Die vermeintlich zivilisierte Welt habe »gelassen« und tatenlos zugesehen, »als derselbe Imperialismus Zehntausende Hereros dem grausigsten Untergang weihte und die Kalahari-Wüste mit dem Wahnsinnsschrei Verdurstender, mit dem Röcheln Sterbender füllte […], als in Tripolis die Araber mit Feuer und Schwert unter das Joch des Kapitals gebeugt, ihre Kultur, ihre Wohnstätten dem Erdboden gleichgemacht wurden.«
Dass Luxemburg die Verbrechen des deutschen Imperialismus an den indigenen Völkern Südwestafrikas scharf kritisierte, ist seit längerem bekannt. Doch erst kürzlich stellte sich heraus, dass sie bereits 1904 in der polnischsprachigen Zeitung Gazeta Ludowa [dt.: Volkszeitung] eine Reihe von zweimal wöchentlich erscheinenden Analysen und Berichten über den Aufstand der Nama und Herero verfasste.
Die Gazeta Lodowa wurde in Poznań/Posen herausgegeben, einer überwiegend polnischsprachigen Region, die bei der zweiten Teilung Polens 1793 an das preußische Reich angegliedert wurde. Die Publikation wurde von der deutschen Sozialdemokratischen Partei (SPD) unterstützt, hingegen nicht von Luxemburgs eigener Partei Sozialdemokratie des Königreichs Polen und Litauens (SDKPiL), die im vom russischen Zarenreich besetzten Teil Polens aktiv war.
Um skeptischen SPD-Funktionären zu signalisieren, dass sie die polnische Arbeiterschaft in Poznań und anderen Teilen des deutsch besetzten Polens für die Sache des Sozialismus gewinnen könne, wurde Luxemburg von Juli 1902 bis Juni 1904 Redakteurin der Zeitung. Viele Ausgaben aus den Jahren 1902 und 1903 sind nicht mehr auffindbar, aber alle Publikationen von 1904 sind noch zugänglich. Die Zeitung wurde im Juli 1904 eingestellt, nachdem Luxemburgs Genosse und Freund Marcin Kasprzak verhaftet und hingerichtet worden war und sie selbst später im Jahr eine dreimonatige Haftstrafe verbüßte.
»Wo der Kapitalismus heute den Weg bahnt durch Wüsten, Berge und Ozeane, dort werden wir einst stehen – das aufgeklärte Volk, das die Arbeit befreit, die Völker befreit, die Menschheit verbrüdert, Leid und Unterdrückung ausgetrieben hat.«
Alle Luxemburg-Artikel in der Gazeta Ludowa wurden anonym veröffentlicht. Sie behandelten eine breite Themenpalette, von innenpolitischen Entwicklungen in Deutschland über die Gängelung polnischer Menschen durch deutsche Siedler, die Teile Schlesiens und Südpreußens »säubern« wollten, bis hin zu Geschehnissen in Übersee. 1962 konnte der polnische Historiker Felix Tych Rosa Luxemburg als Urheberin von mindestens 27 Artikeln in der Gazeta Ludowa identifizieren.
Bis kürzlich wurden diese Arbeiten jedoch komplett ignoriert. Sie wurden weder erneut auf Polnisch herausgegeben, noch sind sie in den deutschsprachigen Gesammelten Werken enthalten. Daher blieben sie weitgehend unbekannt. Dank der großartigen Recherchen von Jörn Schütrumpf wurde vor Kurzem aber aufgedeckt, dass Luxemburg praktisch alle Artikel dieser vierseitigen Zeitung ab 1904 selbst geschrieben hatte.
Außerdem enthielt fast jede Ausgabe Artikel und Berichte von ihr über Ereignisse in Afrika – meist über den Widerstand der Nama und Herero gegen den deutschen Genozid. Es war ihr offenbar ein Anliegen, die polnischen Arbeiterinnen und Arbeiter über die Geschehnisse in Südwestafrika zu informieren und Solidarität mit den afrikanischen Opfern der deutschen Unterdrückung zu bekunden.
Einige von Luxemburgs Artikeln in der Gazeta Ludowa sind kürzlich zum ersten Mal in deutscher Übersetzung in einer von Holger Politt herausgegebenen Sammlung erschienen.
Luxemburg hatte 1904 eine Menge zu tun: Sie war eine äußerst produktive Autorin für die deutsche sozialistische Presse, beteiligte sich intensiv an theoretischen und politischen Debatten in der SPD und der Sozialistischen Internationale und war darüber hinaus unermüdlich im Wahlkampf für SPD-Kandidaten tätig, während sie darüber hinaus (zusammen mit ihrem Genossen Leo Jogiches) ihre Untergrundpartei in Polen führte. Hinzu kam eine extensive Briefkorrespondenz.
Es ist kaum vorstellbar, wie sie trotzdem die Zeit fand, praktisch den gesamten Inhalt einer zweimal wöchentlich erscheinenden Zeitung in einer damals eher bescheidenen Provinzstadt mit 120.000 Einwohnern zu schreiben (es stellte sich später heraus, dass sie in Poznań tatsächlich weniger Anhänger hatte, als sie der SPD gegenüber angab). Dennoch füllte sie konsequent die Seiten der Gazeta Ludowa mit Inhalt.
Was hatte Luxemburg 1904 zu den Ereignissen in Afrika zu sagen? Im Januar schrieb sie zunächst über dieRaubzüge des belgischen Königs Leopold II. in seiner »Privatkolonie« Kongo: »Die Abscheulichkeiten der Belgier gegenüber den Schwarzen in der belgischen Kolonie Kongo beschreibt ein englischer Priester, ein Missionar, wie folgt: In Mbongo, einem belgischen Dorf in Kongo, ist ein Lager für Kautschuk eingerichtet, in das die lokale Bevölkerung die Ernte des Kautschukbaums als Steuer hinzubringen hat. Falls der Schwarze zu wenig Kautschuk anschleppt, besteht die mildeste Strafe, die auf ihn wartet, in Peitschenhieben. Oft werden die Schwarzen für solches Vergehen an Ort und Stelle auch als abschreckendes Beispiel erschossen, damit ›die anderen fleißiger sind‹. Es kommt auch vor, dass die Belgier, um an Munition zu sparen, die Schwarzen in einer Reihe einen hinter den anderen aufstellen lassen, um so mit nur einer Kugel gleich mehrere zu erledigen, wenn die nun einen Körper nach dem anderen durchschlägt. Auf einer anderen belgischen Station bekam der Missionar im Gras verstreute menschliche Skelette zu sehen, er zählte 36 Schädel. Auf die Frage, woher die Knochen stammten, bekam er zur Antwort, dass es sich um von belgischen Soldaten erschossene Schwarze handele, um sterbliche Überreste, die zu begraben den Angehörigen verboten wurde. Es darf sicher davon ausgegangen werden, dass diese Bestien in menschlicher Gestalt, die dem Mammon zuliebe ausgeklügelten Mord verüben, sich breiter über die ›Unmoral der Sozialisten‹ auslassen.«
Als Reaktion auf die Begnadigung von Prinz Prosper von Arenberg, einem deutschen Offizier, der einen wehrlosen Afrikaner brutal gefoltert und ermordet hatte, schrieb sie im Februar 1904: »Die Haare stehen einem zu Berge, wenn von solcher Mordtat zu lesen ist, und kaum zu glauben ist, dass die Bestie, die zu solcher Abscheulichkeit fähig ist, ein normaler Mensch sein soll. Und dennoch werfen sowohl der Prozess wie dessen Ausgang jede Menge bohrender und beunruhigender Fragen auf. Zunächst einmal, wieviel verurteilte Mörder es geben mag, die wie Prinz Arenberg geisteskrank sind und dennoch in aller Seelenruhe aufs Schafott oder ins Zuchthaus gebracht wurden. Wir Sozialdemokraten sind entschieden gegen die Todesstrafe, überhaupt gegen Strafhäuser, wir glauben nicht daran, dass ein Gefängnis irgendwelchen Verbrecher bessern könnte. Jedenfalls fragen wir: Wären die Rollen vertauscht gewesen, hätte also der unglückliche Schwarze den Prinzen von Arenberg umgebracht, hätte sich dann die öffentliche Meinung so viel Umstand und so viel Mühe gemacht, um dessen Geisteszustand zu untersuchen?«
»Rosa Luxemburg war eine echte Internationalistin, Antiimperialistin und vor allem Humanistin, die sich allerdings keine Illusionen darüber machte, dass der Kampf gegen den Imperialismus erfolgreich sein könnte, wenn er sich lediglich auf Racheakte und Terrorismus beschränke.«
Sie fährt fort mit »der wichtigsten Frage«, die sich aus dem Fall Arenberg ergebe: Was ist von einer Kolonialpolitik zu halten, die dazu führt, dass offensichtlich »geisteskranke« Verbrecher eine derart grenzenlose Macht über Leben und Tod der unglückseligen Bevölkerung in den Kolonien haben? Luxemburg fragt: »Wundert es da noch, wenn die Herero jetzt lieber sterben wollen statt weiterhin die Herrschaft deutscher ›Kultur‹ anzuerkennen, wird diese doch von solchen Bestien repräsentiert wie [Carl] Peters, [Karl] Wehlan, [Heinrich] Leist und Prinz von Arenberg?«
Ebenfalls im Februar 1904 kam Luxemburg erneut auf das Thema Kongo und die Gräueltaten im Namen König Leopolds zurück. Sie zitierte dabei aus den Berichten des irischen Beobachters und Diplomaten Roger Casement: »Kürzlich wurde der Bericht der englischen Regierung über die herrschenden Verhältnisse im afrikanischen Staat Kongo vorgestellt, der eine belgische Kolonie ist. Der Bericht enthält den Augenzeugenbericht des englischen Konsuls Casement, der auf einer Sonderreise die dortige Gegend untersucht hat. Der Konsul berichtet, dass der offene Sklavenhandel in Kongo verschwunden sei (also gab es den zuvor immerhin, zum Teil wird er auch immer noch praktiziert!), dafür besteht nun aber Zwangsarbeit. Die ›Zwangsarbeit‹ der Mauren bedeutet aber nichts weniger, als faktische Sklaverei, wovon der Berichterstatter selbst die beste Mitteilung gibt, wenn er erzählt, wie belgische Beamte Frauen ins Gefängnis werfen, nur um ihre Ehemänner zur Arbeit zu zwingen, oder wenn er die Folterung der Mauren und andere Schrecklichkeiten beschreibt, die von den Kolonialsoldaten verübt werden. Die englische Presse gibt sich höchst empört wegen der Unmenschlichkeit der Belgier, vergisst allerdings, dass die Engländer in ihren Kolonien gegenüber den sogenannten halbwilden Stämmen selbst keinen Deut besser vorgehen, wenn sie die ›Zivilisation‹ des Kapitals mittels Raub, Tötung und Folter verbreiten.«
Im April besprach Luxemburg die Verbindung zwischen Kapitalismus und kolonialem Expansionsdrang: Währen praktisch die gesamte Welt gebannt auf den russisch-japanischen Krieg schaute, »wurde hinter dem Rücken still und heimlich die afrikanische Erde aufgeteilt«. Auf dem afrikanischen Kontinent zeige sich einmal mehr der »blutige Weg, mit dem der Kapitalismus das Erdenrund umkreist«. Doch je schneller und heftiger der Kapitalismus wütete, »verzehrt von gieriger Räuberei«, desto schneller komme er an sein Ende, glaubte Luxemburg: »Denn mit dem blutigen Pfad, den er schlägt, drängt in der Spur hinter dem Raub und der Ausbeutung des Kapitalismus wie ein untrennbarer Schatten die sozialistische Bewegung. Wo der Kapitalismus heute den Weg bahnt durch Wüsten, Berge und Ozeane, dort werden wir einst stehen – das aufgeklärte Volk, das die Arbeit befreit, die Völker befreit, die Menschheit verbrüdert, Leid und Unterdrückung ausgetrieben hat. Und den Schwarzen in den afrikanischen Wüsten, die heute zwischen zwei raubgierigen Mächten wie eine Herde Vieh aufgeteilt werden, wird der internationale, siegreiche Sozialismus einst das Evangelium der Freiheit, Gleichheit und Brüderlichkeit bringen!«
In einem weiteren Artikel aus demselben Monat werden die Gräueltaten der Deutschen in ihren afrikanischen Kolonien mit dem autoritären Militarismus in der Heimat in Verbindung gebracht: »Die Bauern und Arbeiter aus Pommern, aus Posen, aus Bayern, denen nie eine Schwarzer etwas Schlimmes angetan hat, machen jetzt irgendwo in der Sandwüste Afrikas Jagd auf die armen Schwarzen, morden, rauben und vergewaltigen die Frauen. Wird wenigstens einer von denen das tun aus eigenem Antrieb und mit Bedacht? Nein, allein die eiserne Militärdisziplin macht im Krieg aus dem Soldaten ein Tier, einen Brudermörder, einen Mordbuben. Zunächst wird er zwei Jahre lang misshandelt, erniedrigt, entehrt in den Kasernen, um ihn danach wie einen abgerichteten Hund auf andere loszulassen.«
Luxemburg schließt daher: »Die Verbrechen des heutigen Militarismus hängen so eng miteinander zusammen wie die Glieder einer Kette. Die Soldatenmisshandlung in Friedenszeiten, die Kriegsverbrechen, die Politik der militärischen Eroberung – das alles sind lediglich Blüten und Früchte an einem einzigen Ast, am Militarismus, der an einem einzigen Strauch wächst, der kapitalistischen Wirtschaft.«
Wer solche Passagen liest, dem fällt auf, wie sehr sie sich mit den Schrecken decken, die der Neokolonialismus und der Imperialismus auch heute noch verbreiten – sei es in Palästina, in der Ukraine oder in den Regenwäldern des Amazonas. Damals wie heute ist Unterdrückung die »Blüte und Frucht eines einzigen Asts« – nämlich eines globalen, sich in der Auflösung befindlichen kapitalistischen Systems. Es ist offensichtlich, dass Rosa Luxemburg eine echte Internationalistin, Antiimperialistin und vor allem Humanistin war, die sich allerdings keine Illusionen darüber machte, dass der Kampf gegen den Imperialismus erfolgreich sein könnte, wenn er sich lediglich auf Racheakte und Terrorismus beschränke.
Mit Blick auf die fehlgeschlagene Revolution in Russland 1905 hielt sie fest, terroristische Anschläge als Reaktion auf Kapitalismus und Imperialismus weckten unweigerlich und »besonders bei unklaren und schwankenden Elementen der revolutionären Bewegung vage Hoffnungen und Erwartungen«. Dies schwäche aber »die erforderliche Einsicht in die absolute Notwendigkeit und einzig entscheidende Bedeutung der Volksbewegung, der proletarischen Massenrevolution«, um Kapitalismus und Imperialismus zu überwinden.
Die massiven Proteste in Solidarität mit Palästina und gegen Israels Völkermord in Gaza deuten auf das Entstehen neuer Bewegungen und neuer Kräfte hin, mit der diese Perspektive in die heutige Zeit übertragen werden kann.
Peter Hudis ist Professor für Philosophie am Oakton Community College und Autor des Buches »Frantz Fanon: Philosopher of the Barricades«.