24. Februar 2024
Zwei Jahre nach Beginn der russischen Invasion der Ukraine könnte man fast den Eindruck gewinnen, Putins Kontrolle über sein Land sei stärker denn je. Doch wie der Russland-Experte Felix Jaitner im Interview erklärt, sind die Fundamente seiner Herrschaft fragiler, als man denkt.
Eine Kosaken-Ehrengarde nimmt an einer patriotischen Kundgebung zum Jahrestag der »Wiedervereinigung der Krim mit Russland« in Krasnodar teil, 18. März 2022.
Heute vor zwei Jahren überfielen abertausende russische Soldaten die Ukraine mit dem Ziel, Kiew einzunehmen und die demokratisch gewählte Regierung des Landes zu enthaupten. Sie scheiterten daran, doch der Krieg tobt bis heute. Er verwüstet weite Teile der Ostukraine, kostet Hunderte von Leben pro Tag – und es ist noch lange kein Ende in Sicht.
So folgenreich der Krieg ist – in erster Linie für die Menschen in der Ukraine selbst, aber auch in Russland und in der gesamten Region – fallen die in der breiten Öffentlichkeit angebrachten Erklärungsansätze zu dessen Ursachen frappierend oberflächlich aus. Nicht selten wird die politische Entwicklung Russlands auf die Launen seines Präsidenten Wladimir Putin reduziert. Hing über Russland bereits vor dem Krieg ein grauer Nebel, durch den zu sehen auch die meisten »Experten« hierzulande scheiterten, hat sich dieser mittlerweile zu einem dunklen Vorhang gewandelt.
Nach zwei Jahren Krieg und westlicher Sanktionen ist Russland nicht nur nicht zusammengebrochen – seine Wirtschaft scheint sogar so stark zu sein wie seit Jahren nicht mehr, und die für Mitte März angesetzten Präsidentschaftswahlen werden mit absoluter Sicherheit Putin eine weitere Amtszeit bescheren. Doch ist Russland unter Putin wirklich so stabil, wie es sich nach außen gibt?
Für JACOBIN sprach Arman Spéth mit Felix Jaitner, Autor des jüngst erschienenen Buches Russland: Ende einer Weltmacht, über die Auswirkungen des Krieges, die gesellschaftlichen Machtverhältnisse in dem Vielvölkerreich und die langfristige Verfasstheit der Kreml-Herrschaft.
Vor zwei Jahren begann Russland mit dem großflächigen Einmarsch in die Ukraine. Wie hat sich das Leben in Russland seither verändert?
Je länger der Krieg anhält, desto spürbarer wird er auch in Russland. Die ukrainische Armee beschießt inzwischen regelmäßig Infrastruktur im russischen Grenzgebiet und sogar in Moskau gab es vereinzelte Drohnenangriffe. Zudem kommt es immer wieder zu Sabotageakten auf Rüstungsbetriebe, Eisenbahnstrecken und so weiter.
Seit Kriegsbeginn haben Hunderttausende, zumeist hochqualifizierte Menschen Russland verlassen. Die Regierung geht massiv gegen jegliche Kritik am Kriegskurs vor und erstickt damit jegliche öffentliche Debatte. Von staatlicher Repression ist nicht nur die Antikriegsbewegung betroffen, sondern auch bekannte Vertreter der nationalistischen Rechten wie Igor Girkin, einer der militärischen Führer der separatistischen Volksrepublik Donezk und ehemaliger Geheimdienstmitarbeiter, der den Angriff auf die Ukraine grundsätzlich befürwortet, die Regierung aber für ihre militärische Strategie öffentlich kritisiert.
Der Putsch der Söldnertruppe Wagner und der ungeklärte Tod ihres Anführers Jewgeni Prigoschin sowie die wachsende Repression im Innern verdeutlichen: die Entwicklung in Russland ist zunehmend umkämpft.
Welche Bedeutung hat die kommende Präsidentschaftswahl in der Politik Russlands und welche Rolle spielt dabei der Ukraine-Krieg? Wie ist die Opposition in diesem Kontext zu bewerten, man denkt zum Beispiel an Boris Nadeschdin, bzw. existiert sie überhaupt noch?
Alles andere als ein deutlicher Sieg Wladimir Putins bei den Präsidentschaftswahlen wäre eine Überraschung. Das gilt umso mehr, da der aussichtsreichste Kandidat der Opposition, der rechtsliberale Antikorruptionsaktivist Alexej Nawalny, nach über dreijähriger Haft im Gefängnis gestorben ist und seine Bewegung zerschlagen wurde.
Doch Wahlen bieten immer die Möglichkeit zur Diskussion gesellschaftlich relevanter Fragen und damit zu einer (Re-)Politisierung. Diese Erfahrung machten die Herrschenden in Russland 2012, als hunderttausende Menschen erst gegen die Kandidatur Putins und dann gegen die Wahlfälschung protestierten. Damals besetzten Demonstrierende einen öffentlichen Platz im Moskauer Stadtzentrum und im ganzen Land gründeten sich Initiativen und Bewegungen.
»Im Gegensatz zu den frühen 2000er Jahren kann die Regierung das Stabilitätsversprechen immer weniger einhalten, denn infolge der wirtschaftlichen Stagnation sinkt der Lebensstandard vieler Menschen in Russland.«
Die Furcht vor einer neuen Welle der Politisierung und Selbstorganisation dürfte dazu beigetragen haben, dem Oppositionskandidaten Boris Nadeschdin die Kandidatur zu verweigern. Die institutionalisierten Oppositionsparteien, darunter die Kommunistische Partei der Russischen Föderation, unterstützen die Politik der Putin-Administration in zentralen Fragen wie dem Krieg gegen die Ukraine.
Hinter der Präsidentschaftswahl steht jedoch auch die Frage nach der Zukunft des Regimes. Die Verfassungsänderung im Jahr 2020 wurde maßgeblich deshalb durchgesetzt, weil ein Nachfolger, der die unterschiedlichen Fraktionen des russischen Machtblocks repräsentieren könnte, bisher nicht in Sicht ist. Die Wahl markiert eine Übergangsphase in einer für das Regime sehr instabilen und prekären Lage.
In Deinem neuesten Buch Russland: Ende einer Weltmacht beschreibst Du, wie die »konsensuale Regierungsführung« in Russland als Reaktion auf die Massenproteste zwischen 2011 und 2013 zunehmend aufgegeben wurde. Seither hat sich dieser Prozess verschärft und die Repressionsapparate wurden aufgewertet. Zeitgleich lesen wir aber immer wieder von hohen Zustimmungswerten für Putin. Warum greift das um Putin aufgebaute Regime trotz dieser hohen Zustimmungswerte zu immer schärferen repressiven Mitteln?
Autoritäre oder rassistische Politik trifft – gerade in Krisenzeiten – in Teilen der Bevölkerung durchaus auf Zustimmung. Russland ist keine Ausnahme. Auch hier gibt es relevante gesellschaftliche Schichten, vor allem Teile der Mittelschicht und der Arbeiterklasse, die den repressiven und nationalistischen Kurs unterstützen.
Hinzu kommt, dass Putin sich geschickt als Garant für Stabilität und Ordnung inszeniert. Als Vater der Nation steht er über den Widersprüchen des Systems, das er repräsentiert, und genießt deshalb großes Vertrauen in der Bevölkerung, während die politische Klasse und das politische System als korrupt und verlogen gelten.
Doch im Gegensatz zu den frühen 2000er Jahren kann die Regierung das Stabilitätsversprechen immer weniger einhalten, denn infolge der wirtschaftlichen Stagnation sinkt der Lebensstandard vieler Menschen in Russland. Der von Nawalny geprägte Begriff »Partei der Gauner und Diebe« für die Staatspartei Einiges Russland bringt das tiefsitzende Misstrauen und die Ablehnung der Regierung in weiten Teilen der Bevölkerung zum Ausdruck.
Die Antwort der Herrschenden auf diese prekäre Situation war ein deutlicher Rechtsruck. Bekannte national-konservative Kräfte wie Dmitri Rogosin stehen nicht nur für den deutlich repressiveren Kurs im Innern, sondern auch für die großrussische, nationalistische Ausrichtung, die seit 2012 immer deutlicher die russische Politik prägt.
Die Antwort auf die Frage, weshalb der Angriff auf die Ukraine erfolgte, ist bis heute umstritten. Du schreibst, dass die wachsende Expansionspolitik Russlands nur im Zusammenhang mit den vielschichtigen Krisenprozessen im postsowjetischen Raum verstanden werden kann. Könntest Du dies näher erklären?
Die Auflösung der Sowjetunion und die kapitalistische Restauration sind gleichbedeutend mit dem ökonomischen und politischen Bedeutungsverlust der gesamten Region, einschließlich Russlands. Das Bruttoinlandsprodukt der Ukraine, Moldawiens oder Georgiens liegt bis heute unter dem des Jahres 1989. Russland und andere Staaten wie Aserbaidschan oder Kasachstan erlebten wie die ganze Region einen Deindustrialisierungsprozess, profitieren jedoch von den großen Öl- und Gasvorräten. Zwar war der wirtschaftliche Absturz dadurch weniger stark, aber die Abhängigkeit vom Rohstoffsektor ist größer als in der Sowjetunion.
Parallel zu dem ökonomischen Niedergang vollzogen die postsowjetischen Staaten nachholende Nationalstaatsbildungsprozesse. Damit ging oft die Vergabe politischer (Staatsbürgerschaft und -rechte, Sprachgebrauch) und sozialer Rechte entlang ethnischer Zugehörigkeit einher, eine Entwicklung, die zwar im Interesse der ethnisch-nationalen Elite war, die von den Privatisierungsprozessen zu profitieren hoffte, dem multiethnischen Charakter der postsowjetischen Staaten jedoch nicht gerecht wurde. Eine wichtige Ursache vieler bewaffneter Konflikte in der Region, z.B. in Transnistrien in Moldawien, Abchasien und Südossetien in Georgien sowie die instabile Lage im russischen Nordkaukasus, ist hier zu suchen.
Die Wirtschafts- und Finanzkrise 2008 hat den postsowjetischen Raum massiv getroffen und ist bis heute nicht überwunden. Dies verschärfte die bestehenden politischen, ökonomischen und sozialen Widersprüche. Doch die Herrschenden reagierten auf die Protestwellen in vielen Ländern mehrheitlich repressiv. Vor dem Hintergrund der sich zuspitzenden Widersprüche im Innern und der stagnativen Tendenzen in der Wirtschaft setzt die russische Führung seit einigen Jahren auf eine expansive Außenpolitik, um ihre erodierende Vorherrschaft im postsowjetischen Raum zu festigen. Die multiplen Krisen sind nicht die direkte Ursache für den Einmarsch in die Ukraine, sie sind aber ein wichtiger Kontextfaktor und tragen zu einem besseren Verständnis der gesamten Region bei.
Der Soziologe Wolodymyr Ischtschenko schreibt, dass die Entscheidung des Kremls, die Ukraine anzugreifen, den kollektiven Interessen der russischen herrschenden Klasse entspricht. Im Unterschied zu Ischtschenko vertritt der Politikwissenschaftler Ilja Matweew die Ansicht, dass die militärische Aggression Russlands nicht im Einklang mit den wirtschaftlichen Interessen der Machthaber steht und betont die nicht-ökonomischen Wurzeln der Expansionen seit 2014. Wie beurteilst Du diese Argumente?
Offensichtlich haben sicherheitspolitische Erwägungen eine unmittelbarere Rolle bei der Entscheidung über den russischen Einmarsch in die Ukraine gespielt als ökonomische Interessen. Die geostrategische Lage der Ukraine (Flottenstützpunkt auf der Krim, Puffer zur NATO) ist ein wichtiger Faktor, der die Außenpolitik Russlands zu seinem westlichen Nachbarn seit den vergangenen dreißig Jahren prägt und im Zweifelsfall kurzfristig ökonomische Interessen überwiegen kann.
Matweews Verdienst ist, dass er die Bedeutung der Sicherheitspolitik für staatliches Handeln herausarbeitet – ein Aspekt, der in der Imperialismus-Debatte stark vernachlässigt wird. Allerdings geht Matweew noch weiter und konstatiert eine Entkopplung ökonomischer und sicherheitspolitischer Logiken in der Außenpolitik. Seiner Ansicht nach widerspricht der russische Angriff den Interessen führender Kapitalfraktionen, doch aufgrund des autoritären Charakters des Putin-Regimes haben sie geringe Einflussmöglichkeiten, die politische Entwicklung zu beeinflussen.
»Die westlichen Sanktionen haben nicht dazu geführt, ›Russland zu ruinieren‹, wie es die deutsche Außenministerin Annalena Baerbock prophezeite, vielmehr beschleunigen sie den Zerfall der Welt in konkurrierende geopolitische Lager.«
Meines Erachtens gibt es durchaus ökonomische Rationalitäten, die dem Angriff auf die Ukraine zu Grunde liegen. In extraktiven Ökonomien ist die direkte territoriale Kontrolle über Rohstoffvorkommen oder das Pipelinenetzwerk eine zentrale Voraussetzung für eine stabile Kapitalakkumulation. Daher sind die Verbindungen zwischen Politik und den extraktiven Sektoren üblicherweise sehr eng. Im russischen Fall ist der Staat durch seine Beteiligung an Öl- und Gasfirmen sogar direkt mit dem extraktiven Modell verwoben. Aus diesem Grund lassen sich die ökonomische und sicherheitspolitische Logik nicht klar voneinander trennen. Der Krieg in der Ukraine ermöglicht den dominanten russischen Kapitalfraktionen Zugriff auf neue Profite (allein der Wiederaufbau der zerstörten Gebiete oder die Kontrolle der fruchtbaren landwirtschaftlichen Flächen sind ein Milliardengeschäft).
Ischtschenkos Argument geht über die reinen ökonomischen Interessen hinaus und betont, dass die russische Regierung durch den Krieg in der Ukraine nicht nur die eigene Oligarchie stärken will, sondern auch die sich im Entstehen befindende multipolare Weltordnung aktiv mitzugestalten gedenkt. Beide Autoren sprechen wichtige Aspekte an, die hinter der immer aggressiveren russischen Außenpolitik stehen. Sie vertreten jedoch keine konträren, sondern einander ergänzende Positionen. Es wäre präziser, von einer Verschränkung sicherheitspolitischer und ökonomischer Dispositive in der Außenpolitik zu sprechen, die aus den Widersprüchen des extraktiven Entwicklungsmodells herrührt.
Erkennst Du Konflikte innerhalb des russischen Machtblocks um die zukünftige Ausrichtung des Landes?
In der Osteuropa-Forschung wird Russland oft als »totalitär« beschrieben. Demzufolge dürfte es Konflikte im Machtblock eigentlich gar nicht geben. Aber schon während der Massenproteste 2012–2013 agierte der Machtblock keinesfalls einheitlich. So sympathisierte Putins langjähriger Finanzminister Alexei Kudrin mit den Protestierenden, während viele Oligarchen überstürzt das Land verließen.
Seitdem gibt es im Machtblock Auseinandersetzungen um den künftigen Kurs. Dabei steht weniger die Frage der demokratischen Ausrichtung im Fokus, als die fortschreitende Peripherisierung Russlands. Als Antwort auf die Abhängigkeit des Landes vom Rohstoffexport fordern sogenannte national-konservative Kräfte eine Stärkung produzierender Sektoren und verknüpfen diese Strategie mit einer außenpolitischen Orientierung auf den postsowjetischen Raum und China. Die Gründung der Eurasischen Union war ursprünglich ein wichtiger Baustein in der ökonomischen Modernisierungsstrategie.
Seit dem Einmarsch in der Ukraine nehmen die Konflikte im Machtblock weiter zu. Das verdeutlicht der Putsch der Wagner Gruppe. Interessanterweise erlangte ihr Anführer Jewgeni Prigoschin erst unter Putin seine einflussreiche Position – und wendete sich dann gegen ihn. Dabei waren jedoch weniger ökonomische Aspekte ausschlaggebend als die militärische Strategie im Krieg. Dennoch stehen hinter dem Wagner-Putsch tiefergehende Konflikte. Eine wichtige Fähigkeit Putins besteht darin, zwischen den konkurrierenden Fraktionen des Machtblocks vermitteln zu können. Diese Rolle scheint er nur noch begrenzt zu erfüllen, was die Widersprüche um den künftigen Kurs verschärft.
Während der Kreml einen optimistischen wirtschaftspolitischen Standpunkt vertritt, kontrastierte der leider wieder inhaftierte Boris Kagarlitzki vor etwas mehr als einem Jahr mit der Meinung, dass die Wirtschaft nicht nur bereits geschwächt ist, sondern sich auch weiter zersetzen wird. Wie bewertest Du die wirtschaftliche Situation Russlands angesichts der intensiven Sanktionen und allgemein schwächelnder Weltwirtschaft?
Eine objektive Einschätzung der wirtschaftlichen Situation Russlands ist schwer, da immer weniger Daten öffentlich zugänglich sind. Obwohl Russland vergangenes Jahr ein leichtes Wachstum des Bruttoinlandsproduktes von über 2 Prozent verzeichnet hat, leidet das Land unter den westlichen Sanktionen. Die EU war mit Abstand der wichtigste Absatzmarkt für fossile Brennstoffe. Der Übergang zur Kriegswirtschaft wirkt dem jedoch partiell entgegen und stärkt die produzierenden Sektoren (insbesondere die Rüstungsindustrie), was in einigen Regionen die wirtschaftliche Lage deutlich verbessert.
Kagarlitzkis Prognose einer Zersetzung der russischen Wirtschaft ist im Grunde nicht neu. Die Bedeutung des Rohstoffsektors und die Deindustrialisierung seit den 1990er Jahren haben die Entwicklungsunterschiede zwischen den Regionen verschärft. Regionen wie der Nordkaukasus sind seit Jahrzehnten abgehängt und auch der Krieg ändert daran wenig. Grundsätzlich könnte die Stärkung der Rüstungsindustrie und anderer produzierender Sektoren die massiven Gegensätze zwischen Zentrum und Peripherie partiell abschwächen, auch wenn ich das für wenig wahrscheinlich halte, denn die Regierung hält unverändert an ihrer neoliberalen Sozialpolitik fest.
Allerdings haben die westlichen Sanktionen nicht dazu geführt, »Russland zu ruinieren«, wie es die deutsche Außenministerin Annalena Baerbock prophezeite, vielmehr beschleunigen sie den Zerfall der Welt in konkurrierende geopolitische Lager.
Welche wirtschaftlichen und politischen Strategien werden in Russland diskutiert, um die ökonomische Abhängigkeit vom Westen (als Abnehmer der Rohstoffe und Exporteur hochstehender Technologie) weiter zu verringern? Und was versprechen sich die national-konservativen Kräfte von der verstärkten Orientierung Russlands auf den postsowjetischen Raum (zum Beispiel von der Eurasischen Union) und China?
Die russische Regierung setzt im Rahmen einer Importsubstitutionsstrategie darauf, die Abhängigkeit von Maschinen und Ausrüstungsgegenständen durch einheimische Produktion zu verringern. Ein wichtiger Impuls waren und sind die westlichen Sanktionen und die damit verbundene Strategie einer ökonomischen und technologischen Entkopplung von Russland. Die Rüstungsindustrie, der Agrarsektor und daran angrenzende Bereiche wie Landmaschinenhersteller, chemische Industrie sowie der Maschinenbau profitieren von dieser Strategie und fordern noch energischere Schritte. Es gibt also auch im Machtblock ein ökonomisches Interesse daran, die Sanktionen aufrechtzuerhalten, da sie die Interessen dieser Kräfte bedienen.
»Der Krieg in der Ukraine beschleunigt bereits existierende globale Prozesse, dazu gehört auch die zunehmende Fragmentierung der Welt in konkurrierende Machtblöcke.«
Die Orientierung auf den postsowjetischen Raum erklärt sich aus den nach wie vor sehr engen wirtschaftlichen und politischen Beziehungen Russlands zu der Region. Gerade im Maschinenbau und in der Rüstungsindustrie existieren aus der UdSSR herrührende transnationale Produktionsketten. Dementsprechend entfällt der Großteil der russischen Auslandsinvestitionen auf die Region. Bis 2014/2015 war die Ukraine der mit Abstand wichtigste Handelspartner. Insbesondere die ostukrainische Industrie war sehr eng mit der russischen verflochten, was die Bedeutung des Landes für Russlands produzierende Sektoren und die national-konservative Importsubstitutionsstrategie erklärt. Die Eurasische Union war ursprünglich als Bündnis der entwickeltesten postsowjetischen Staaten (Belarus, Kasachstan, Russland, Ukraine) gedacht, das einen Re-Industrialisierungsprozess einleiten und den ökonomischen Bedeutungsverlust der Region stoppen sollte.
Drei Wochen vor Kriegsbeginn trafen sich Putin und Xi Jinping in Peking und unterzeichneten eine gemeinsame Erklärung zur vertieften Zusammenarbeit. Seither hat sich die Beziehung zwischen China und Russland weiter verstärkt. Zugleich nimmt die Rolle Chinas in Zentralasien seit Jahren zu – also in ehemaligen Sowjetrepubliken, die bisher als Russlands Einflussgebiet galten. Sind bereits potenzielle Risse in der Beziehung erkennbar?
Aus meiner Sicht handelt es sich bei der russisch-chinesischen Kooperation um ein Zweckbündnis, denn die Annäherung ist vor allem eine Reaktion auf das immer konfrontativere Verhältnis zum Westen. Ursprünglich verfolgte die Putin-Administration das Ziel, ein Bündnis mit der EU einzugehen – ohne China und die USA. Gemeinsam ist Russland und China das Interesse an einer multipolaren Weltordnung, aber die Entwicklung der BRICS zeigt, dass keine einheitliche Auffassung über deren konkrete Ausgestaltung besteht, da die ideologischen und ökonomischen Schnittmengen der Mitgliedsstaaten zu gering sind.
Darüber hinaus handelt es sich um ein sehr ungleiches Bündnis, indem China klar die Führungsrolle einnimmt. In der russischen Diskussion bietet dies immer wieder Anlass für Kritik. Der wachsende Einfluss Chinas in Zentralasien könnte die Beziehungen zu Russland nachhaltig belasten, denn beide Länder konkurrieren in der Region, die Moskau traditionell als seinen »Hinterhof« betrachtet, um Einfluss. Entscheidend für die weitere Kooperation dürfte daher sein, inwieweit Peking die russischen Interessen anerkennt und der russischen Regierung eine eigene Rolle zugesteht.
Bei meinem letzten Besuch in Kasachstan wurde ich mit neuen Entwicklungen konfrontiert; nämlich einer grundsätzlich kritischen Auffassung der Rolle Russlands in der Region – dies auch rückwirkend auf die letzten Jahrzehnte und gar Jahrhunderte gedacht. Der sichtbarste Ausdruck davon zeigt sich im Statusverlust der russischen Sprache. So meinte ein Bekannter, dass er im Alltag eine Kasachifizierung wahrnehme, eine verspätete Umkehr der lang vorherrschenden Russifizierung. Wie wird in Russland der Autoritätsverlust im eigenen »Hinterhof« wahrgenommen?
Die meisten zentralasiatischen Staaten verfolgen eine sogenannte multivektorale Politik, das heißt, sie pflegen gute Beziehungen sowohl mit Russland als auch mit China oder anderen Großmächten. Dennoch sind Kasachstan, Kirgistan und Tadschikistan Mitglieder des russisch dominierten Militärbündnisses Organisation des Vertrags über kollektive Sicherheit (OVKS) und damit sicherheitspolitisch eng mit Russland verbunden. Die Intervention in Kasachstan im Januar 2022 zur Niederschlagung der Massenproteste verdeutlicht, dass Russland nach wie vor die zentrale Ordnungsmacht in der Region ist. Durch die Gründung der Eurasischen Union wurden die ökonomischen und politischen Beziehungen Kasachstans und Kirgistans mit Russland weiter vertieft.
»Das Schicksal des Putin-Regimes ist eng mit dem Ausgang des Krieges verknüpft. Ein Sieg über die Ukraine würde es nicht nur stabilisieren, sondern auch die national-konservativen, aggressiv-reaktionären Kräfte im Machtblock stärken.«
Dennoch wächst der Einfluss Chinas in der Region, das bereits in vielen Ländern Russland als den wichtigsten Handelspartner verdrängt hat. Im Rahmen der Shanghaier Organisation für Zusammenarbeit (SOZ) konnte China zudem seine politische Rolle in der Region stärken, allerdings verläuft dies weitgehend in Absprache mit Russland, das ebenfalls Mitglied ist. Die chinesische Politik agiert hier sehr geschickt, da sie kein Bündnis gegen Russland schmiedet, sondern die russischen Interessen in der Region anerkennt und gleichzeitig den eigenen Einfluss stärkt. So importiert China mittlerweile beträchtliche Mengen Öl und Gas aus Zentralasien.
In Russland wird der Einflussverlust in Zentralasien kritisch gesehen. Im Gegensatz zu der EU und den USA besteht mit der SOZ ein Dialogforum, das eine Koordination der Zentralasienpolitik Russlands mit der von China und Indien und den Ländern der Region ermöglicht. Ein vergleichbares Format mit dem Westen fehlt, was in Zukunft für Spannungen sorgen könnte.
Erkennst Du eine allgemeine Verschärfung der geopolitischen Spannungen? Die jüngsten aggressiven Handlungen Nordkoreas gegenüber Südkorea könnten ein weiteres Indiz dafür sein und möglicherweise mit verstärkten militärischen Beziehungen zwischen Russland und Nordkorea in Verbindung stehen.
Der Krieg in der Ukraine beschleunigt bereits existierende globale Prozesse, dazu gehört auch die zunehmende Fragmentierung der Welt in konkurrierende Machtblöcke. Der Begriff »Zeitenwende« bringt dies sehr eindrücklich zum Ausdruck, denn er unterteilt in eine Zeit vor und nach dem russischen Einmarsch. Diesem Verständnis nach reagiert der Westen nur auf diese militärische Aggression, z.B. durch massive Aufrüstung. Dabei wird freilich vergessen, dass er aktiv zur Blockbildung beiträgt, denn die von den USA und der EU verfolgte Politik, Russland zu isolieren und Friedensverhandlungen abzulehnen, begünstigt die militärische Kooperation des Kreml mit Nordkorea und dem Iran.
Ich habe zudem den Eindruck, dass der russische Einmarsch hierzulande einen Vorwand bietet, den eigenen Anteil an dem Krieg in der Ukraine und anderen sich verschärfenden geopolitischen Konflikten zu relativieren. Selbstverständlich trägt Russland die Verantwortung für den Angriff auf die Ukraine, doch die NATO-Osterweiterung, völkerrechtswidrige Kriege gegen Jugoslawien und den Irak, die Aufkündigung von Rüstungskontrollverträgen durch die USA und das Versäumnis eine gemeinsame Sicherheitsarchitektur unter Einschluss Russlands aufzubauen, haben maßgeblich dazu beigetragen, dass das Narrativ der Einkreisung Russlands durch den Westen im Innern verfangen konnte und stärkten autoritäre, national-konservative Kräfte, die zur Wahrung der eigenen Interessen zunehmend auf einen konfrontativen Kurs gegenüber dem Westen setzten.
Als wie stabil schätzt Du die Regierung in Russland ein und was für ein Russland wird Deiner Ansicht nach aus diesem Krieg hervorgehen?
Das Schicksal des Putin-Regimes ist eng mit dem Ausgang des Krieges verknüpft. Ein Sieg über die Ukraine würde es nicht nur stabilisieren, sondern auch die national-konservativen, aggressiv-reaktionären Kräfte im Machtblock stärken. Dies dürfte vor allem den postsowjetischen Raum weiter destabilisieren, denn die Region prägt eine Vielzahl von Konflikten und Bürgerkriegen.
Um die russische Position weiter zu stärken, könnten national-konservative Kräfte versuchen, in diesen Konflikten zu intervenieren. Insbesondere die Beziehungen zu Armenien sind nach der Eroberung von Bergkarabach durch Aserbaidschan belastet und könnten sich bei einer Annäherung an den Westen zu einer regionalen Krise ausweiten.
Eine Niederlage Russlands hätte ebenso weitreichende Auswirkungen auf den postsowjetischen Raum. Als das unwahrscheinlichste Szenario erscheint mir eine bürgerlich-demokratische Entwicklung, eine These, die von vielen Russland-Expertinnen und -Experten, aber auch von Anhängern und Anhängerinnen der liberalen Opposition vertreten wird. Eine Machtübernahme der nationalistischen Kräfte, möglicherweise im Bündnis mit neoliberalen Fraktionen des Machtblocks, sowie eine gewaltsame Eskalation der eingefrorenen Konflikte im Nordkaukasus, halte ich für wahrscheinlicher. In einem solchen Szenario ist ein Zerfall Russlands nicht auszuschließen.
Felix Jaitner verfolgt seit vielen Jahren den Prozess der Durchsetzung des Kapitalismus in Russland und promovierte an der Universität Wien zu Entwicklungskonflikten des russischen Machtblocks. Er veröffentlichte mehrere Bücher zur Entwicklung Russlands, zuletzt erschien Russland: Ende einer Weltmacht (VSA, 2023).