27. November 2024
Eine linke Allianz stellt den neuen Präsidenten Sri Lankas und hat Mitte November auch bei den Parlamentswahlen einen Erdrutschsieg errungen. Das Bündnis hat nun genug Macht für echte Veränderungen. Dabei gibt es aber viele – externe wie interne – Hindernisse.
Ein Anhänger der NPP-Allianz in Colombo, Sri Lanka, bastelt Hammer und Sichel in Vorbereitung auf den Tag der Arbeit, 29. April 2023.
Das Parteienbündnis National People’s Power (NPP) hat bei den Parlamentswahlen in Sri Lanka am 14. November einen Erdrutschsieg erkämpft. Erst zwei Monate zuvor hatte der NPP-Kandidat Anura Kumara Dissanayake (meist zu AKD abgekürzt) die Präsidentschaftswahlen gewonnen. Die NPP erhielt fast 62 Prozent der Stimmen und gewann 159 von 225 Parlamentssitzen. Damit widerlegte sie deutlich die Prognosen, laut denen die Linksallianz bestenfalls auf eine knappe Mehrheit hoffen könne.
Bei der letzten Wahl vor vier Jahren hatte das Bündnis mit weniger als vier Prozent der Stimmen nur drei Sitze gewonnen. Selbst angesichts der derzeitigen Unbeständigkeit in der Wählerschaft auf der ganzen Welt gibt es wohl kaum Präzedenzfälle für ein derart spektakuläres Erstarken einer Partei. Nun wird es interessant: Welche ihrer politischen Ziele kann die neue Regierung nach dieser beeindruckenden Leistung umsetzen?
Die NPP ist ein klassenübergreifendes Wahlbündnis, das vor fünf Jahren von der Janatha Vimukthi Peramuna (JVP, Volksbefreiungsfront) ins Leben gerufen wurde. Die JVP wurde ursprünglich als revolutionäre marxistisch-leninistische Partei gegründet. Im offiziellen Selbstverständnis wird diese Ideologie auch heute noch vertreten. Die NPP als Ganzes lässt sich indes eher im Mitte-Links-Spektrum ansiedeln. Die Prioritäten der neuen Regierung sind laut JVP-Generalsekretär Tilvin Silva: »Weiterentwicklung des Landes, Beseitigung der Korruption sowie Stärkung der Demokratie und der Rechenschaftspflicht.«
Vor zwei Wochen lag die Wahlbeteiligung bei knapp 69 Prozent beziehungsweise 11,8 Millionen Wählerinnen und Wähler – zehn Prozentpunkte weniger als bei der Präsidentschaftswahl am 21. September. Beobachter führen die niedrigere Wahlbeteiligung auf mehrere Faktoren zurück, darunter eine gewisse »Wahlmüdigkeit« unter den Anhängern der alteingesessenen und konservativen Parteien.
Präsident AKD und seine Regierung verfügen nun also über eine Zweidrittelmehrheit im Parlament. Damit ist die Lage in Sri Lanka gänzlich anders als in Lateinamerika, wo siegreiche linke Präsidentschaftskandidaten wie der Chilene Gabriel Boric oder der Kolumbianer Gustavo Petro ohne entsprechende Mehrheiten im Parlament regieren müssen.
Der Sieg der NPP hatte sich abgezeichnet. Vor der Wahl kündigten Dutzende Parlamentsveteranen an, »eine Pause einzulegen« oder sich direkt ganz aus der Politik zurückzuziehen. Sie fürchteten offenbar die drohende schmachvolle Niederlage an den Urnen. Tatsächlich straften die Wählerinnen und Wähler nahezu alle Altgedienten ab, die den Mut aufbrachten, sich nochmals zur Wahl zu stellen.
Das Ergebnis: Rund zwei Drittel der neuen Abgeordneten ziehen erstmalig ins Landesparlament ein. Mit einigen wenigen Ausnahmen sitzt niemand derjenigen, die jahrzehntelang in der nationalen Politik aktiv waren, mehr in der Kammer (das war auch eine der Hauptforderungen beim Aufstand 2022). Unter den neuen NPP-Abgeordneten ist derweil unter anderem der erste sehbehinderte Abgeordnete in der Geschichte des sri-lankischen Parlaments.
An anderen Fronten vollzieht sich der Wandel hingegen langsamer: Frauen stellen die Mehrheit (52 Prozent) der Bevölkerung Sri Lankas; 1960 wurde hier die erste weibliche Regierungschefin der Welt gewählt und die Entwicklungsindikatoren mit Fokus auf Frauen sind die besten in Südasien. Trotzdem ist die Frauenrepräsentanz in Sri Lankas Regierung und im Parlament miserabel. Lediglich zehn Prozent der Abgeordneten im neuen Parlament sind weiblich (insgesamt 22 Abgeordnete, was sogar noch eine Steigerung gegenüber den 13 aus dem Jahr 2020 darstellt). Die meisten kommen von der NPP, die aktiv unter Frauen mobilisiert und auch die meisten Kandidatinnen aufgestellt hat.
»Die NPP könnte sich scheuen, die Ungleichheiten in Bezug auf Einkommen, Vermögen und Macht anzugehen, und nur danach streben, die Gesellschaft für die Mittelschicht ›erträglich und angenehm‹ zu machen.«
Unter den weiblichen Vertretern der NPP stechen drei Tamilinnen aus den Bergregionen (Malaiyaha) hervor. Sie sind die ersten weiblichen Nachkommen von Plantagenarbeitern, einer seit fast 200 Jahren strukturell marginalisierten ethnischen Minderheit in Sri Lanka, die ins Parlament einziehen. Zu ihnen gesellen sich drei männliche Gewerkschafter aus derselben Region.
Als dominierende Kraft innerhalb der NPP sicherte sich die kaderbasierte, straff zentralisierte JVP wenig überraschend die meisten Sitze und die meisten Präferenzstimmen [bei Parlamentswahlen in Sri Lanka können rangierend nach Präferenz bis zu drei Stimmen für Einzelkandidaten auf der Parteiliste abgegeben werden]. Viele der gewählten Parteimitglieder sind hauptberufliche Politiker, die in der Öffentlichkeit bereits bekannt waren; einige von ihnen wurden bereits in regionale Regierungen gewählt. Sie stammen in der Regel aus den besser ausgebildeten Mittelschichten und sind in der Landwirtschaft, als Selbstständige oder in einfachen Regierungsämtern tätig.
Die größte Berufsgruppe unter den NPP-Wahlkandidaten waren Lehrer und Schulleiter. Wie in der sri-lankischen Politik üblich, gab es außerdem viele Juristen – weniger üblich ist die hohe Zahl von Frauen unter ihnen. Dicht darauf folgten Angestellte an staatlichen Universitäten sowie Dozenten an privaten Bildungseinrichtungen. Auch hier: meist Männer. Diese Kandidaten stehen für die »intellektuelle« Klasse, die sich in der allgemeinen Wahrnehmung mit ihren Bildungsabschlüssen positiv von den Politikern der bisher etablierten Parteien abheben und diese erfolgreich verdrängt haben.
Hinzu kommen viele Geschäftsinhaber und Geschäftsführer. Ihre Präsenz in den Reihen der NPP ist für die Allianz wichtig. Offenbar kann sie damit »nachweisen«, dem privatwirtschaftlichen Sektor freundlich gesinnt zu sein und das Unternehmertum zu unterstützen. Die Allianz hat auffallend viele »Spezialisten« im neuen Parlament, sprich: Ingenieure, Banker, Ärzte, Tierärzte, Wirtschaftsprüfer und Baukostenplaner, die die technisch ausgebildeten Schichten repräsentieren, bei denen die NPP beliebt ist. Die NPP hatte außerdem mehr Ex-Militäroffiziere (die in einem Krieg aktiv waren, in dem zwischen 80.000 und 100.000 Menschen, hauptsächlich Tamilen, getötet wurden) als beispielsweise Bäuerinnen und Bauern auf ihren Listen. Allerdings gewannen die meisten Offiziere keine Sitze.
Die Medien in Sri Lanka haben das beeindruckende Wahlergebnis mit den einschneidenden Parlamentswahlen von 1977 verglichen. Damals erhielt die rechtsgerichtete United National Party (UNP) dank des geltenden First-Past-the-Post-Wahlsystems fünf Sechstel der Parlamentssitze (140 von 168).
Die UNP nutzte diese deutliche Mehrheit, um in Südasien eine gewisse Vorreiterrolle bei der Liberalisierung von Handel und Investitionen, der Deregulierung des Marktes und der Privatisierung des öffentlichen Sektors einzunehmen. Diese Politik der »offenen Wirtschaft« und der Autoritarismus, der mit ihr einherging, trugen dazu bei, dass es auf der Insel gut drei Jahrzehnte lang zu Gewalt sowohl seitens staatlicher als auch nichtstaatlicher Akteure kam. Die kommunistische JVP trat dabei sowohl Täter als auch Opfer in Erscheinung.
Der jüngste Erdrutschsieg der NPP ist hingegen auf ein deutlich gerechteres Wahlsystem zurückzuführen, in dem die Sitzverteilung dem tatsächlichen Stimmenanteil sehr viel besser entspricht. Letztlich hat die Allianz sich vom Volk ein Mandat erbeten (und erhalten), die Vertreter der sogenannten Altparteien aus dem Amt zu fegen und Personen von außerhalb der alten Elite einzusetzen. Diese sollen für einen neuen Politikstil stehen. Die JVP/NPP verschweigt dabei jedoch, dass die Vetternwirtschaft, der Nepotismus und die Korruption – gegen die sie ausdrücklich mobilisiert hatte – ein Produkt der »offenen Wirtschaft« sind und dass diese Praktiken wiederum das sri-lankische Wirtschaftsmodell weiterhin entscheidend prägen.
Dies sind tiefliegende Probleme. Die Beliebtheit der NPP wird wohl auch von der Erwartung vieler Menschen abhängt, dass die Linksallianz schon bald diejenigen entlasten wird, die unter der harten Austeritätspolitik im Rahmen des 17. IWF-Programms für Sri Lanka sowie der anhaltenden Polykrise leiden. Die Wirtschaft ist in den Jahren 2022 und 2023 sechs Quartale in Folge geschrumpft; die Arbeitslosigkeit stieg und die Reallöhne sanken, das Wirtschaftswachstum ist allenfalls schleppend.
Offiziellen Schätzungen zufolge ist inzwischen jeder vierte Haushalt unter die Armutsgrenze gerutscht. 26 Prozent der Bevölkerung sind von Ernährungsunsicherheit betroffen, sodass viele Menschen gezwungen sind, weniger beziehungsweise weniger hochwertige Mahlzeiten zu sich zu nehmen. Ebenso sind die Energiepreise in die Höhe geschossen; die Rechnungen werden unerschwinglich und über eine Million Menschen sind deswegen sogar vom Stromnetz abgeschnitten.
Dementsprechend wandern viele junge Menschen und Angehörige der Mittelschicht aus. Vor den Passämtern, die der Nachfrage nicht mehr nachkommen können, bilden sich Tag und Nacht Schlangen. Jeder fünfte Haushalt hat Schulden – darunter leiden vor allem die Frauen, die ebenjenen Haushalt schmeißen müssen. Nicht wenige Menschen in Sri Lanka müssen für Grundbedürfnisse wie Lebensmittel, Brennstoffe und Gesundheits- oder Bildungsgebühren Darlehen aufnehmen.
Den Wahlsieg versüßen konnte sich die NPP mit einem überraschenden Stimmenzuwachs im Norden des Landes. Dies ist das Kernland des tamilischen Eelam-Nationalismus (»Eelam« ist der tamilische Name für das heutige Sri Lanka). Die NPP gewann fünf der dortigen zwölf Sitze. Die NPP ist nun die größte Einzelpartei sowohl in den nördlichen als auch den östlichen Regionen der Insel, in denen Tamilen und Muslime die lokale Mehrheit bilden. Bei früheren Wahlen hatte sie in beiden Gebieten keinen einzigen Parlamentssitz erhalten.
Seit ihrer Gründung 2019 hatte die NPP (wie auch die JVP) bisher Schwierigkeiten gehabt, außerhalb ihrer singhalesisch-buddhistischen Kernwählerschaft Wahlerfolge zu erzielen. Bei den Präsidentschaftswahlen im September war bereits ein deutlicher Anstieg der Unterstützung für die Allianz seitens tamilischsprachige Minderheiten an der Ostküste, entlang des Zentralmassivs und in den nördlichen Ebenen zu beobachten. AKD konnte aber vor allem das Präsidentenamt übernehmen, weil er starke Unterstützung im Süden genoss. Bei den Parlamentswahlen schwappte diese auch auf den Norden und Osten Sri Lankas über. Der neue Präsident hatte es geschafft, eine hoffnungsfrohe Euphorie zu entfachen. So wählten viele, die im September nicht für ihn gestimmt hatten, nun die NPP bei den Parlamentswahlen.
Allerdings konnte die NPP auch zusätzliche Stimmen aus Minderheitengruppen gewinnen, weil sie den langjährigen Widerstand der JVP gegen eine föderale Umstrukturierung Sri Lankas betonte und damit den Wünschen der Tamilen im Nordosten entsprach. Ebenso unterstützt sie Forderungen nach einer internationalen Untersuchung von Kriegsverbrechen und Verbrechen gegen die Menschlichkeit nicht (einschließlich der Massentötung von Zivilisten und des Verschwindenlassens von Zehntausenden in den letzten Tagen des Krieges und unmittelbar danach). Stattdessen recycelt die Allianz den weit gefassten Standard-Aufruf der JVP für »Gleichheit« für die ethnisch-religiösen Minderheiten Sri Lankas und ein Ende des Rassismus.
»Der wahltaktische Plan der JVP, eine neue Art von Partei und ein neues Programm für eine neue Ära zu schaffen, hat sich wie erhofft ausgezahlt.«
Derweil wird laut NPP-Wahlprogramm eine neue Verfassung angestrebt, mit der administrative und politische Zuständigkeiten dezentralisiert werden sollen, um die Beteiligung der Bevölkerung an der sri-lankischen Regierungsführung zu stärken. Sollte dieses Versprechen in die Tat umgesetzt werden, wäre es ein positiver Schritt in Richtung Demokratisierung der Institutionen. Allerdings bleibt das Wahlversprechen in zweierlei Hinsicht vage. Erstens wird nicht genau dargelegt, in welchem Umfang die Zentralregierung Befugnisse in die Peripherien des Landes verlagern wird. Zweitens dürfte der kniffligen »nationalen Frage« in Sri Lanka nicht ausreichend Rechnung getragen werden: Demnach müsste eine stärkere Dezentralisierung der Staatsmacht vor allem Kompetenzzuwächse für die tamilischsprachigen Gebiete im Vergleich zu mehrheitlich singhalesischsprachigen Gebieten nach sich ziehen.
Bei seinen Kundgebungen im Norden wenige Tage vor den Wahlen versprach der neue Präsident die baldige Freilassung tamilischer politischer Gefangener und die Rückgabe von Privatland, das von »staatlichen Stellen« gewaltsam entwendet wurde (wobei er es tunlichst vermied, das Militär, das weite Teile des besagten Landes besetzt hält, namentlich zu erwähnen). Die Teilnehmer der Kundgebungen nahmen diese Zusage ebenso positiv auf wie das Versprechen von AKD, die staatlichen Industrien wiederzubeleben und qualitativ hochwertige Arbeitsplätze zu schaffen. In der armen, agrarwirtschaftlich geprägten lokalen Wirtschaft, in der die Landwirtschaft und Fischerei mit ihrem niedrigen Einkommen die Hauptbeschäftigungszweige sind (abgesehen von einigen Behördenjobs und prekärer Tagelöhnerbeschäftigung), wird dies tatsächlich von entscheidender Bedeutung für den Erfolg des Präsidenten und seiner NPP sein.
Einige Medien haben das Abschneiden der NPP unter den Tamilen, insbesondere im Norden und Osten, als Beweis dafür interpretiert, dass der tamilische Nationalismus an Bedeutung verliert und dass gut 75 Jahre nach Erlangung der Unabhängigkeit nun eine wirkliche nationale Einheit Sri Lankas entsteht. Dies ist jedoch Wunschdenken.
Es stimmt zwar, dass die tamilisch und muslimisch orientierten Regionalparteien, die zuvor in den jeweiligen Regionen dominierten, einen Rückgang ihres Sitzanteils verzeichneten. Eine realistischere Einschätzung wäre es jedoch, dies als Zeichen der Enttäuschung über ebendiese einzelnen Parteien zu werten – und nicht als ein Abwenden vom Ethnonationalismus im Allgemeinen. Dies gilt ebenso für die Wählerinnen und Wähler der NPP im Süden: Sie haben sich von den singhalesischen nationalistischen Parteien abgewandt, ohne aber deren grundsätzliche Weltanschauung aufzugeben.
Der jüngste Machtwechsel ist in gewisser Weise Ergebnis einer Protestwahl. Unter den Tamilen herrschte darüber hinaus viel Frustration angesichts der zersplitterten Wahllisten: ihre politischen Anliegen und insbesondere ihre sozioökonomischen Probleme wurden bisher nicht von einer oder einigen starken Kräften im nationalen Parlament vertreten und verhandelt. Auch bei dieser Wahl traten allein im Distrikt Jaffna 23 politische Parteien und 21 unabhängige Gruppen gegeneinander an. Im Nordosten gab es Tausende Kandidaten, die um lediglich 28 Parlamentssitze konkurrierten. Auf einen Sitz kamen somit 73 Bewerberinnen und Bewerber; dieser Schnitt ist doppelt so hoch wie im Rest des Landes.
Seitdem die separatistischen Liberation Tigers of Tamil Eelam (LTTE), die zuvor die tamilische Politik beherrschten, geschwächt sind, herrscht unter tamilischen Nationalisten Unklarheit in Bezug auf politisch-strategische Fragen. Dass derart viele Parteien und Gruppen zur Wahl antraten, ist aber auch auf Egomanie und Privatfehden sowie darauf zurückzuführen, dass potente Geldgeber aus der tamilischen Diaspora über Strohmänner ihre indirekte Macht in der alten Heimat sichern wollen. Dass die drei vormals größten Parteien der Tamilen im Norden derart viele Stimmen verloren haben, ist zwar zum Teil auf die Aufsplittung der Stimmen auf viele kleinere Parteien und Parteilose zurückzuführen, doch ist es auch ein Zeichen der allgemeinen Unzufriedenheit der Wählerschaft mit diesen drei Parteien, die als politische Vertreter der tamilischen Menschen kollektiv versagt haben.
Da mit der NPP nun eine landesweite, multiethnische Partei bei den Wahlen gesiegt hat, dürfte dies die Meinung vieler Tamilinnen und Tamilen widerspiegeln, dass die Diskussion über Selbstbestimmung keine unmittelbare Linderung der alltäglichen Probleme mit Niedriglohnarbeit und/oder Subsistenzwirtschaft bringt. Auch hilft sie ihnen nicht, Medikamente oder private Schul- und Studiengebühren zu bezahlen.
15 Jahre nach Kriegsende hat der tamilische Nationalismus nur eine einzige Antwort auf die zahlreichen sozioökonomischen und strukturellen Probleme, von Armut und Arbeitslosigkeit bis hin zu geschlechtsspezifischer Gewalt, Diskriminierung aufgrund der Kastenzugehörigkeit und ausbeuterischen Klassenverhältnissen. All diese Probleme werden als zweitrangig angesehen, verglichen mit dem »Fluch der singhalesischen Hegemonie.« Die nationalistischen Parteien hatten bislang die Botschaft an die tamilische Bevölkerung: »Wenn wir uns erst einmal selbst verwalten, dann können wir diese Probleme angehen.« Mehr haben sie den zunehmend frustrierten Abgehängten und Ausgebeuteten nicht anzubieten.
Davon profitierte die NPP. So zeigte sich der damalige Präsidentschaftskandidat AKD bei Wahlkampfauftritten besonders verständnisvoll und einfühlsam gegenüber den Nöten der einfachen Leute.
Zwischen der Präsidentschaftswahl am 21. September und der Parlamentswahl am 14. November vergingen 54 Tage. In dieser Übergangszeit übernahm der neue Präsident mit einem dreiköpfigen Kabinett, dem er selbst angehörte, die Führung. Die frühere Forscherin und Aktivistin Harini Amarasuriya, die die einzige Frau der dreiköpfigen NPP-Fraktion im vorherigen Parlament war, wurde zur Premierministerin ernannt. Ähnlich wie im französischen System ist dieses Amt rein repräsentativ; die Exekutivgewalt liegt beim Präsidenten. Die Wahl von Amarasuriya war dennoch ein starkes Signal für Inklusion, sowohl aufgrund ihres Geschlechts als auch, weil sie nicht Teil der dominierenden JVP innerhalb der NPP ist.
Wie erwartet tat die Übergangsregierung ihr Bestes, um in Staats- und Wirtschaftsangelegenheiten zunächst keine Unruhe zu stiften. Sie behielt den Gouverneur der Zentralbank und den Finanzminister bei, die beide entschiedene Befürworter des IWF-Programms für Sri Lanka und seiner arbeiterfeindlichen Auflagen sind. Der Einfluss dieses Lagers wurde durch die Ernennung des Vorsitzenden der Handelskammer (einer traditionell kapital-freundlichen Institution) zum leitenden Wirtschaftsberater des Präsidenten noch weiter gestärkt.
Eine Delegation wurde umgehend nach Washington entsandt, um dem IWF zu versichern, dass sein Programm fortgeführt werde, und um den Warnungen vor den »sri-lankischen Marxisten« entgegenzuwirken, die es in mehr oder eher weniger gut informierten internationalen Medienberichten zuhauf gegeben hatte. Seitdem hat die Regierung diverse Unternehmer in die Führungspositionen staatlicher Institutionen berufen. Damit signalisiert sie sowohl dem inländischen Kapital als auch internationalen Akteuren ihren Willen zu wirtschaftspolitischer Stabilität und Kontinuität.
»Werden wenigstens die vielen Gewerkschaftsführer, die jetzt in der Regierung mitreden können, dafür sorgen, dass die bestehenden Arbeitsgesetze endlich konsequent durchgesetzt werden?«
Die hohen Lebenshaltungskosten und das Problem der Preistreiberei konnten hingegen nicht unmittelbar gelindert werden. Die Regierung hat für sich entschieden, dass Preiskontrollen nicht ausreichen, um die Preise für Reis und Eier zu senken, und erscheint angesichts politisch bestens vernetzter Kartelle relativ hilflos. Stattdessen will sie die Macht der Oligopole durch eine stärkere staatliche Beteiligung am Verbrauchermarkt untergraben. Es bleibt abzuwarten, wie sie die finanziellen Mittel dafür aufbringen und den öffentlichen Sektor neu ausrichten will, damit er tatsächlich mit privatem Kapital konkurriert statt kollaboriert.
Deutlich irritierender für die linksliberalen Anhänger der NPP-Regierung dürfte ihr Zurückrudern (oder ihre bestenfalls widersprüchlichen Aussagen) in Bezug auf die Menschenrechte sein. So deuteten Regierungssprecher an, dass das umstrittene »Gesetz zur Verhinderung von Terrorismus« von 1979 (das sich an britischen und südafrikanischen Gesetzen orientierte) möglicherweise nur geändert statt komplett aufgehoben wird. Die Regierung wies auch gesondert darauf hin, dass eine Reform der muslimischen Personenstandsrechte im Interesse der Menschenrechte und der Geschlechtergerechtigkeit nur im Konsens mit den (konservativen) Geistlichen durchgeführt werden könne. Beide Aussagen stehen im direkten Widerspruch zum eigenen Wahlprogramm der NPP.
Nach den Parlamentswahlen hat der Präsident nun seine Regierung ausgebaut. Die Zusammensetzung des 22 Mitglieder starken Kabinetts ähnelt der der Regierungspartei: Sie ist geprägt von zentralen Führern der JVP, Akademikern und Experten. Unter den Kabinettsmitgliedern sind nur zwei Frauen, darunter die wiederernannte Premierministerin. Der Präsident hat, wie es ihm die Verfassung erlaubt, die Ressorts Verteidigung, Finanzen, Planung und digitale Transformation für sich selbst vorbehalten. Was die Elektrifizierung für die Bolschewiken war, ist offenbar die Digitalisierung für die NPP.
Präsident Dissanayake hielt seine Grundsatzrede auf der ersten Sitzung des neuen Parlaments am 21. November. Darin zeigte er erstmals offiziell auf, in welche Richtung seine Regierung sich bewegen will. Überraschungen blieben dabei aus: In seiner Rede wiederholte AKD bekannte Themen wie »Null Toleranz gegenüber Korruption« sowie rassistischem und religiösem Extremismus, verbesserte öffentliche Dienstleistungen und die Zerschlagung von Monopolen, die für die hohen Preise verantwortlich sind. Wie die NPP im Wahlkampf angekündigt hatte, wird es eine Erhöhung der Geldtransfers an Sozialhilfeempfänger sowie der Gehälter und Rentenzahlungen für Staatsbedienstete geben. Eine Zulage für den Kauf von Schulmaterial soll zahlreichen Haushalten etwas finanzielle Erleichterung bringen. Die Regierung will darüber hinaus die Zahl der IT-Fachkräfte in Sri Lanka innerhalb von fünf Jahren auf 200.000 erhöhen, um zukünftig Exporteinnahmen für IT-bezogene Dienstleistungen in Höhe von fünf Milliarden US-Dollar jährlich zu generieren. Damit würde IT mit den aktuellen Einnahmen aus der Bekleidungsindustrie gleichziehen.
Der erste Haushalt der neuen Regierung wird im März 2025 debattiert. Der konkrete Ausgaben- und Einnahmenplan wird deutlich machen, inwieweit sie sich, wenn überhaupt, aus der Zwangsjacke des IWF-Programms befreien will. Eigentlich muss Sri Lanka bis mindestens 2027 seine Auslandsschulden gegenüber privaten und bilateralen Gläubigern bedienen. Außerdem soll mit dem Programm die Bonität des Landes wiederhergestellt werden, damit es auf den internationalen Geldmarkt zurückkehren und Kredite aufnehmen kann. Das wiederum wird freilich zu einem Teufelskreis führen: Neue Kredite müssen aufgenommen werden, um alte Kredite zurückzuzahlen. Der Schuldenberg und die Zinslast werden weiter anwachsen.
Bisher kooperiert die sri-lankische Regierung mit dem IWF, da sie sich die Auszahlung der nächsten Tranche einer auf insgesamt 2,9 Milliarden US-Dollar erweiterten Kreditfazilität erwartet. Die einzelnen Tranchen sind allerdings sehr bescheiden (jeweils etwa 330 Millionen US-Dollar). Sie werden zweimal im Jahr ausgezahlt, nachdem zufriedenstellend nachgewiesen werden konnte, dass die Regierung neoliberale Strukturreformen umsetzt. Dieser Betrag ist geringer als die wöchentlichen Kosten für Importe nach Sri Lanka. Wie so oft bei IWF-Finanzierungen geht es hier also um reine Symbolik: Der Währungsfonds gibt multilateralen Banken, bilateralen und anderen Gläubigern des Landes in regelmäßigen Abständen die Zusicherung, dass es sich brav benimmt. Und Staaten, die sich brav benehmen, werden mit frischen Krediten belohnt.
»Ist die JVP nach dem überragenden Wahlergebnis nun an einem Punkt angelangt, an dem eine echte Auseinandersetzung darüber, wie und mit welchem Ziel sie agieren will, nicht mehr aufschiebbar ist?«
Während die NPP damit in die vermeintliche Mitte rückt – in der Hoffnung, dass die Mittelschicht eine gemäßigtere Politik gutheißen wird – stehen große Teile der Bevölkerung inzwischen links von ihr: rund 60 Prozent der Menschen in Sri Lanka fordern höhere Steuern für Reiche, um öffentliche Dienstleistungen zu finanzieren. Zwei Drittel befürworten höhere Staatsausgaben für Gesundheit und Bildung.
Die NPP könnte sich scheuen, die Ungleichheiten in Bezug auf Einkommen, Vermögen und Macht anzugehen, und nur danach streben, die Gesellschaft für die Mittelschicht »erträglich und angenehm« zu machen. Bleibt zu fragen: Werden wenigstens die vielen Gewerkschaftsführer, die jetzt in der Regierung mitreden können, dafür sorgen, dass die bestehenden Arbeitsgesetze endlich konsequent durchgesetzt werden? Insbesondere müsste das Recht auf Organisation und Tarifverhandlungen geschützt werden, nicht zuletzt in der Exportbekleidungsindustrie, wo die Arbeitskraft und das Leben von Frauen radikal ausgebeutet werden. Werden die Arbeitsrechte, einschließlich des Sozialschutzes, auf Zeit- und Leiharbeiter ausgeweitet und allen Arbeiterinnen und Arbeitern ihre Rechte in Bezug auf Gesundheit und Sicherheit gewährt? Wird die NPP-Allianz, die im vergangenen Jahr von den Oppositionsbänken aus noch gegen die »Plünderung der Ersparnisse der Arbeiterschaft« im Zuge einer ungerechten Umschuldung protestiert hatte, diesen Schritt nun rückgängig machen? Da sie den Präsidenten stellt und eine deutliche Mehrheit im Parlament hat, wäre sie dazu zumindest in der Lage.
Fast zeitgleich zur Wahl beging die JVP ihre »Novemberhelden-Gedenkfeiern«, bei denen Personen gedacht wird, die bei zwei gescheiterten Aufständen (1971 und 1987–89) ihr Leben verloren. Darüber hinaus wurde der charismatische Gründer der JVP, Rohana Wijeweera, nach seiner Gefangennahme am 13. November 1989 hingerichtet.
AKD sprach anlässlich der Gedenktage vor Familienmitgliedern derjenigen, die im Kampf oder außergerichtlich getötet wurden, sowie vor Veteranen und der derzeitigen JVP-Führung. Wie in der Vergangenheit steuerte er auch in diesem Jahr mit der ihm eigenen Nüchternheit einen heiklen Kurs: Er würdigte diejenigen, die ihr Leben für Wijeweeras Sache geopfert hatten; vermied Kritik am bewaffneten Kampf, spielte aber auf bestimmte »begangene Fehler« an; und erläuterte die geänderte Strategie der Kommunisten, nachdem ihr Verbot 1994 aufgehoben und die Partei neu aufgebaut wurde. Laut AKD war das Ziel stets dasselbe – nur die Mittel, um es zu erreichen, hätten sich geändert. In seiner Rede ging es allerdings nicht um die Interessen der Arbeiterklasse – was nur den Schluss zulässt, dass das besagte »Ziel« der JVP damals wie heute lediglich darin besteht, die Staatsmacht zu übernehmen, früher mit der Waffe, nun an der Wahlurne.
Als Wijeweera wegen seiner Rolle bei der Revolte von 1971 vor ein Ad-hoc-Gericht gestellt wurde, sagte er aus, das Ziel der JVP sei die »vollständige revolutionäre Veränderung des bestehenden Gesellschaftssystems«. Weiter erklärte er: »Wir haben nicht die Absicht, mit verschränkten Armen am Spielfeldrand zu sitzen und auf den Tag zu warten, an dem dieses kapitalistische System auf den Schultern anderer zu Grabe getragen wird.« Seiner Ansicht nach müsse eine Bevölkerung wie die in Sri Lanka keine vorgelagerte »demokratische Volksrevolution« durchlaufen, bevor der Kampf für den Sozialismus beginnen könne.
Nochmals ein Jahrzehnt früher, im Jahr 1962, stellte der sozialistische Intellektuelle und Freiheitskämpfer Hector Abhayavardhana seinen Genossen von der damaligen Lanka Sama Samaja Party (LSSP) eine Frage. Die LSSP war nominell eine trotzkistische Partei – tatsächlich die mit Abstand erfolgreichste ihrer Art weltweit – und erhielt bei der ersten Wahl nach der Unabhängigkeit Ceylons fast elf Prozent der Stimmen. Im Parteiprogramm von 1950 war allerdings erklärt worden, dass die »grundlegenden Ziele [der Partei] nicht durch bürgerliche Parlamente verwirklicht werden können«. Schließlich sorge der »unvermeidliche Widerstand der Bourgeoisie« dafür, dass ausschließlich »die revolutionäre Massenaktion das einzige Mittel zur Verwirklichung des Mehrheitswillens« sein könne.
Allerdings, so stellte Abhayavardhana fest, sei die LSSP in der Praxis mehr am Erfolg im Parlament als an der Förderung revolutionärer Veränderungen interessiert. Er schloss daraus: »Die Linke in Ceylon kann nicht weiterhin gleichzeitig auf diesen beiden Ebenen des Parlamentarismus und des doktrinären Revolutionismus agieren. Die daraus resultierende Spaltung macht ein wirksames Handeln auf beiden Ebenen unmöglich. Der Zeitpunkt ist gekommen. Es ist nicht mehr möglich, eine Entscheidung diesbezüglich aufzuschieben.«
Der wahltaktische Plan der JVP, eine neue Art von Partei (sozusagen eine echte »Volkspartei«) und ein neues Programm (Antikorruption als Ersatz für Antikapitalismus) für eine neue Ära (diverse Formen des Kapitalismus als offenbar einzig denkbare Alternativen zum Neoliberalismus) zu schaffen, hat sich wie erhofft ausgezahlt. Ist die JVP nach dem überragenden Wahlergebnis nun ihrerseits an einem Punkt angelangt, an dem eine echte Auseinandersetzung darüber, wie und mit welchem Ziel sie agieren will, nicht mehr aufschiebbar ist? Wie ist ihr »Programm der proletarisch-sozialistischen Revolution« zu verstehen, das zwar nach wie vor auf ihrer Website aufgeführt wird, aber das anscheinend nicht mehr den faktisch verfolgten Zielen der heutigen Partei entspricht?
B. Skanthakumar ist Mitglied der Social Scientists’ Association in Colombo und Redakteur beim Magazin Polity. Er ist außerdem Mitherausgeber des Bandes Pathways of the Left in Sri Lanka.