05. Juni 2025
Supermarkt-Riesen treiben die Preise bewusst in die Höhe – am stärksten bei Billigprodukten. Die Konsequenz: ein Comeback der Ernährungsarmut.
Im Zuge der Lebensmittelpreis-Inflation sind nicht nur viele Produkte teurer, sondern auch Füllmengen kleiner und Rezepturen ungesünder geworden.
Als ich gestern beim Einkaufen vor dem Regal mit den bunten Snacks und Frühstückscerealien stand, fühlte ich mich ziemlich hilflos. Denn vor mir waren nicht nur unzählige Packungen Müsli, Haferflocken, Power-Balls und Energie-Riegel, sondern eher lauter Einkaufsfallen. Diese optimierten Tricks der Ernährungsindustrie und des Lebensmittelhandels, musste ich nun erkennen und umgehen, um das Budget für meine Einkäufe des ganzen Monats nicht zu sprengen – ein Budget, das mittlerweile nicht viele Ausnahmen zulässt.
Lebensmittel sind heute im Durchschnitt rund 30 Prozent teurer als noch 2021. Monatelang waren die explodierenden Lebensmittelpreise sogar die Haupttreiber der Gesamtinflation. Seit ein paar Jahren ist Einkaufen für mich fast wie Sport geworden – vor allem für die Beine, nicht so gut für den Rücken. Denn ich bücke mich deutlich häufiger als vorher, um die günstigeren Produkte zu erreichen, die auf dem untersten Regalfach platziert werden. Auch die rote Kiste mit den Lebensmitteln, die wegen des bald ablaufenden Mindesthaltbarkeitsdatums mit Rabatt verkauft werden, liegt nicht auf Augenhöhe, sondern ganz unten, in einer Ecke des Kühlregals.
Um die Folgen der Preiserhöhungen zu minimieren, mussten immer mehr Menschen ihre Taktiken perfektionieren – von besserer Einkaufsplanung, über Schlange stehen vor der Tafel, bis hin zu schlicht und einfach weniger oder schlechterem Essen. Es gab auch neue Wörter zu lernen: Shrinkflation, Skimpflation, Cheapflation. Unsere Sprache hat sich verändert, und es lohnt sich, einen Blick darauf zu werfen. Denn Preise steigen nicht von allein. Explodieren können sie auch nicht. Vielmehr werden sie von Unternehmen bewusst erhöht. Eine Inflation ist keine Naturkatastrophe, der wir ausgeliefert sind und die einen Scherbenhaufen hinterlässt, der von der Politik lediglich aufgeräumt werden kann.
»Der Preis des Orangensafts einer Eigenmarke stieg um 169 Prozent, der von einem Markenprodukt ›lediglich‹ um 62 Prozent.«
Viele Unternehmen nutzten und nutzen die Gunst der Stunde. Während der Hochinflationsphase 2022–23 erschienen mehr und mehr Studien und Analysen, die zeigten, dass der Preisanstieg in vielen Bereichen weit höher ausfiel, als es durch die Knappheit von bestimmten Rohstoffen und die gestiegenen Energiekosten zu erklären gewesen wäre. So konnten sie ihre Gewinne halten oder sogar erhöhen. Im Sommer 2023 errechneten Ökonominnen und Ökonomen des Internationalen Währungsfonds, dass 45 Prozent der Preiserhöhungen in der Eurozone auf erhöhte Unternehmensgewinne zurückzuführen waren.
EZB-Chefin Christine Lagarde sprach von einem Beitrag der Stückgewinne zur Inflation von sogar zwei Dritteln. In Branchen, die stärker von Lieferkettenengpässen betroffen waren und eine höhere Konzentration oder eine asymmetrischere Verteilung der Unternehmensgrößen aufweisen – wie der Lebensmittelsektor –, war die Inflation höher. Inflationserwartungen der Haushalte machten es vielen Unternehmen einfacher, starke Preisanstiege weiterzugeben. Denn kein Mensch konnte wirklich mehr nachvollziehen, ob die Preissteigerungen gerechtfertigt waren oder nicht.
»Hersteller steigern ihre Gewinne, indem sie bei teureren Zutaten knausern – zum Beispiel eben bei Kakao, aber auch Butter, Rapsöl oder Honig. Sie werden durch günstigere Alternativen wie Wasser, Zucker, Füllstoffe und Aromen ersetzt.«
Diese Effekte zeigten sich vor allem bei Unternehmen mit großer Marktmacht. Internationale Konzerne der Lebensmittelindustrie verzeichneten 2022 mitunter in Deutschland ihre größten Gewinnsteigerungen. Hierzulande ist zudem auch am Ende der Lieferkette eine erhebliche Marktkonzentration zu beobachten: Die vier großen Supermarkt- und Discounterketten Edeka, die Schwarz-Gruppe mit Lidl und Kaufland, Rewe und Aldi (Nord und Süd) teilen sich 85 Prozent des Marktes untereinander auf. Laut der Monopolkommission weist der deutsche Lebensmittelmarkt Anzeichen von Wettbewerbsproblemen auf. Die Ökonomin Isabella Weber spricht von »Verkäuferinflation«. Der Begriff hebt die Verteilungsfolgen dieser Entwicklungen hervor. Denn es ist kein fairer Kampf, der im Supermarkt stattfindet. Die Reallöhne haben mit den Preisanstiegen bei Weitem nicht Schritt gehalten.
Industrie und Handel setzten zudem auf schwer durchschaubare Maschen, um die höheren Preise an die Kundinnen und Kunden weiterzugeben. So verkleinern Hersteller etwa Portionsgrößen oder Füllmengen – nicht unbedingt aber die Packungsgröße –, um Teuerungen zu verbergen. Im Englischen ist dafür der Begriff Shrinkflation geläufig – ein Kofferwort, das Schrumpfen (»to shrink«) mit Inflation verbindet. Man könnte auch von Mogelpackungen sprechen, wie die Verbraucherzentrale Hamburg es tut. Sie führt seit Jahren eine sogenannte »Mogelpackungsliste«, die inzwischen über tausend Produkte aufzählt. Ein Beispiel: Kürzlich hat Dr. Oetker die Preise seiner Müslis deutlich erhöht, bei manchen Sorten sogar um 50 Prozent. Dr. Oetker verweist in diesem Zusammenhang zwar unter anderem auf höhere Rohstoffpreise, etwa für Nüsse und Kakao, wegen des Klimawandels. Das klingt nachvollziehbar – doch wie viel teurer genau der Einkauf solcher Zutaten für den Konzern geworden ist, lässt sich nicht überprüfen. Die Verbraucherzentrale hält die Teuerung des Müslis für überzogen.
Hätte das Unternehmen auch an Kakao und Nüssen gespart, würde man von Skimpflation sprechen. Das englische Wort »to skimp« bedeutet »einsparen«. Hersteller steigern also ihre Gewinne, indem sie bei teureren Zutaten knausern – zum Beispiel eben bei Kakao, aber auch Butter, Rapsöl oder Honig. Sie werden durch günstigere Alternativen wie Wasser, Zucker, Füllstoffe und Aromen ersetzt. Dadurch sinkt die Qualität des Endprodukts, der Preis bleibt unverändert oder steigt sogar. Klar kommuniziert wird das nicht, manchmal findet man gleich weniger Menge und schlechtere Qualität auf einmal. Skimpflation zu erkennen, ist besonders schwierig, denn dafür müsste man alte und neue Zutatenlisten vergleichen. Und wer hebt schon alte Packungen auf oder kennt Zutatenlisten auswendig?
Trotz geschrumpfter Füllmengen und niedriger Qualität bleiben die Lebensmittelpreise hoch. Eine Studie der Preisvergleichs-App Smhaggle für die Süddeutsche Zeitung hat gezeigt, dass Lebensmittel im »Discounter-Land« Deutschland sogar deutlich teurer sind als in Frankreich. Es stimmt zwar, dass die Inflation mittlerweile zurückgegangen ist. Im Vergleich zum Vorjahresmonat verzeichnete die Lebensmittelteuerung im März 2023 ein Plus von über 22 Prozent, ein absoluter Rekordwert. Im April 2025 betrug sie nur noch knapp 3 Prozent. Das Problem scheint gelöst zu sein, doch das ist nur die halbe Wahrheit. Denn eine niedrige Inflationsrate bedeutet nicht, dass die Preise fallen, sondern lediglich, dass sie nicht mehr so schnell steigen. Und besonders gestiegen sind ausgerechnet die Preise vieler Produkten, die von Supermärkten und Discountern als Eigenmarken verkauft werden.
Das dritte Phänomen der letzten Jahre heißt Cheapflation: eine Verschmelzung von »cheap«, dem englischen Wort für »billig«, und »Inflation«. Eine Auswertung im Auftrag des Handelsblatts ergab, dass Markenprodukte 2022–24 in Deutschland im Durchschnitt um rund 14 Prozent teurer wurden, während die Preise der Eigenmarken um knapp 25 Prozent stiegen. Der Preis des Orangensafts einer Eigenmarke stieg um 169 Prozent, der von einem Markenprodukt »lediglich« um 62 Prozent. Ähnliche Muster zeigen sich bei Nudeln, Kaffee und Schokolade. Verglichen mit anderen Ländern ist Cheapflation in Deutschland besonders stark.
»Die Unternehmen haben in den letzten Jahren ihre Macht kontinuierlich ausgebaut, indem sie immer mehr Produkte als Eigenmarken anbieten und Firmen für deren Produktion gründeten oder aufkauften.«
Die unterschiedlichen Preiskalkulationen spielen dabei wahrscheinlich eine Rolle. Die Preise von »No-Name«-Produkten sind in der Regel knapper kalkuliert, Anstiege bei den Kosten von Rohstoffen und Energie fallen daher deutlicher ins Gewicht und werden direkt an Endkundinnen und -kunden weitergegeben. Bei Markenprodukten hingegen erlauben zusätzliche Werbungs- und Verpackungskosten mehr Puffer, um auf schwankende Produktionskosten zu reagieren. Bei den Eigenmarken haben aber Supermärkte und Discounter auch die direkte Kontrolle über Produktion und Preise.
Die Nachfrage nach solchen Produkten wächst. Die Unternehmen haben in den letzten Jahren ihre Macht kontinuierlich ausgebaut, indem sie immer mehr Produkte als Eigenmarken anbieten und Firmen für deren Produktion gründeten oder aufkauften. Das führt wiederum dazu, dass wir nicht wissen, wie Lebensmittelpreise zustande kommen und wer an welchen Stellen der Wertschöpfungskette wie viel damit verdient. Industrie und Handelskonzerne bestreiten Preismitnahmen im Zuge der Inflation. Aber keine Supermarktkette wollte im Rahmen einer Studie von der NGO Foodwatch Einblick in die Margenkalkulation geben.
Eines ist hingegen sicher: Am meisten betroffen von der Inflation, und insbesondere von der Cheapflation, waren und sind vor allem Menschen, die auf günstigere Lebensmittel angewiesen sind – also Beschäftigte im Niedriglohnsektor und in prekären Jobs, Seniorinnen und Senioren mit kleiner Rente, junge Leute, die von Bafög oder niedrigen Ausbildungsvergütungen leben, Empfänger von Sozialleistungen oder Alleinerziehende. Diese Bevölkerungsgruppen geben gezwungenermaßen einen verhältnismäßig höheren Anteil ihres verfügbaren Einkommens für Grundbedürfnisse aus, wie etwa Energie, Miete und Ernährung. Teuerungen in diesen Bereichen fallen für sie also deutlich stärker ins Gewicht. Ökonomen warnen daher vor einer erheblichen Inflationsungleichheit. Das liegt auch daran, dass die Cheapflation Ungleichheiten bei den Reallöhnen verschärfen kann, je nachdem, wie sich die Löhne in den verschiedenen Einkommensgruppen entwickeln.
Dass es so nicht weitergehen kann, scheint inzwischen sogar die EU-Kommission bemerkt zu haben. Sie will die Regeln zur Preistransparenz in der Lebensmittelkette überprüfen, wie Ursula von der Leyen zum Auftakt der Konferenz Vision für Landwirtschaft und Ernährung Anfang Mai ankündigte. Die Gewährleistung von »fairen Preisen« für Landwirtinnen und Landwirte sei nach dem Bürokratieabbau der zweitwichtigste Punkt. Was und wie viel genau von einer solchen Ankündigung tatsächlich umgesetzt wird, bleibt abzuwarten. Angesichts der Macht der Agrar- und Ernährungslobby darf man sich keine Illusionen machen. Die Verbraucherzentralen und Foodwatch fordern seit langem Sektoruntersuchungen des Bundeskartellamts sowie eine Preis- und Margenbeobachtungsstelle – Unternehmen wehren sich dagegen. Passiert ist bis jetzt nichts.
Preissteigerungen sind kein Naturgesetz. Die Regierung kann handeln, um die Menschen in ihrem Alltag zu entlasten. Über 13 Millionen Menschen gelten in Deutschland als finanziell arm, immer mehr sind von Ernährungsarmut betroffen. Eine ausreichende, gesunde Ernährung ist ein Menschenrecht. In einem der reichsten Länder der Welt ist sie aber zu einem Privileg geworden.
Silvia Monetti ist Politikwissenschaftlerin, arbeitet im Verbraucherschutz und promoviert zum Thema Ernährungspolitik und soziale Gerechtigkeit.