18. November 2024
Inflation ist eine Umverteilung von unten nach oben, gegen die es ein wirksames Mittel gibt: Preiskontrollen. Wie das funktioniert, erklärt die Ökonomin Isabella Weber im Interview.
Die Ökonomin Isabella Weber ist auch als Erfinderin der Gaspreisbremse bekannt geworden.
Während des gesamten Gesprächs mit JACOBIN-Gründer Bhaskar Sunkara schaffte es Isabella Weber, kein einziges Mal zu sagen: »I told you so«. Dabei wäre das ebenso verständlich wie angemessen gewesen.
Denn kurz vor Ende des Jahres 2021 hatte die Ökonomin mit einem Artikel im Guardian unter der Überschrift »Could strategic price controls help fight inflation?« (»Konnten strategische Preiskontrollen die Inflation eindämmen?«) viel Aufsehen erregt. Damals war die Inflation so hoch wie seit vierzig Jahren nicht mehr, weshalb Weber ihre Frage naheliegend erschien. Praktisch das komplette Kommentariat aus dem gesamten politischen Spektrum sah das anders. Das National Review nannte ihre Vorschläge »pervers«. Paul Krugman von der New York Times war nicht viel netter: Seiner Ansicht nach seien Webers Vorschläge »wirklich dumm«.
In den Folgejahren hat sich zwar keiner dieser Kritiker für diese Ausfälle entschuldigt, aber sie selbst erhielt deutlich mehr Gehör in der Mainstream-Presse (ihr jüngster Gastbeitrag in der New York Times erschien vergangene Woche), bei politischen Entscheidungsträgerinnen und Entscheidungsträgern und sogar in der breiteren Öffentlichkeit.
Einige Tage nach der US-Wahl hat Bhaskar Sunkara mit Weber über die Ursachen der globalen Inflation gesprochen sowie über die Reaktion der Regierung von Joe Biden und die Frage, wie die Dinge hätten besser laufen können.
Was sind die Ursachen der Inflation während der Biden-Regierungszeit?
Ich bezeichne diese Inflation als »Verkäuferinflation«. Die Preissetzungsentscheidungen der Verkäufer, also der Unternehmen, sind entscheidend, wenn wir verstehen wollen, wie sich Preisspitzen in bestimmten Sektoren in eine gesamtwirtschaftliche Inflation entwickelt haben.
Es gab Preisspitzen in systemrelevanten vorgelagerten Branchen wie den Energie-, Transport- und Rohstoffsektoren. Die Energie- und die Rohstoffbranchen sind im Grunde Warenmärkte: Auf diesen Märkten sind die Preise extrem volatil, sie steigen und fallen mit Angebot und Nachfrage. In der übrigen Wirtschaft gibt es hingegen größtenteils Wirtschaftszweige, die von großen Unternehmen dominiert werden, die aktiv die Preise festlegen. Doch selbst diese großen, mächtigen Konzerne erhöhen die Preise nicht, wenn sie sich nicht wirklich sicher sein können, dass die Konkurrenz dasselbe tut. Absprachen sind natürlich eine Möglichkeit, solche Preiserhöhungen zu koordinieren. Aber unsere neuen Forschungsergebnisse zu den Unternehmensgewinnen zeigen, dass durch »Kostenschocks« solche Preiserhöhungen auch implizit herbeigeführt werden können.
Preisspitzen am Anfang der Wertschöpfungskette – vor allem im Energiesektor – haben für praktisch alle anderen Unternehmen einen solchen Kostenschock dargestellt. Wenn man als Unternehmen nun weiß, dass sowohl die eigenen Kosten als auch die der Konkurrenz in die Höhe schießen, dann muss man als Preisgestalter nicht miteinander reden: Man weiß, dass jetzt der richtige Zeitpunkt ist, die Preise zu erhöhen.
Firmen werden die Preise so stark erhöhen, dass sie zumindest ihre Gewinnspannen sichern können. Wenn ein Unternehmen in Reaktion auf einen Kostenschock seine prozentualen Aufschläge auf das Endprodukt beibehält, bedeutet dies eine Gewinnsteigerung. Zur Veranschaulichung: Es ist ein Unterschied, ob man ein günstiges Haus kauft und dem Immobilienmakler eine Gebühr von 3 Prozent zahlt, oder ein teures Haus und die gleichen 3 Prozent zahlt. Im ersten Fall bekommt der Makler relativ wenig, im zweiten relativ viel. So steigen auch die Profite von Unternehmen, wenn sie bei Preisschocks ihre Aufschläge beibehalten.
»Ich wusste, dass diese Inflation irgendwann zurückgehen würde, es sei denn, es käme zu riesigen Lohnzuwächsen, weil in Tarifverhandlungen Erfolge von historischem Ausmaß erzielt würden – was ja äußerst unwahrscheinlich ist, wenn man bedenkt, wie schwach die organisierte Arbeiterschaft heute ist.«
Das ist wichtig. Wir haben schon epische Debatten darüber geführt, ob man überhaupt von Verkäuferinflation sprechen kann, wenn die Unternehmen ihre Aufschläge doch gar nicht erhöht haben. Achtung: Verkäuferinflation bedeutet, dass es am Anfang der Wertschöpfungskette zu Gewinnexplosionen kommt, insbesondere in den Bereichen Energie, Getreidehandel, Rohstoffhandel, Schifffahrt/Transport und anderen systemrelevanten Branchen, und im Zuge dessen dann in der gesamten Wirtschaft. Die Gewinne steigen bereits, wenn die Aufschläge nur »geschützt«, also beibehalten werden. Die Kehrseite der Medaille ist: Wenn es den Unternehmen insgesamt gelingt, ihre Preisaufschläge zu schützen und somit Gewinne zu steigern, werden die Kosten der Schocks [am Anfang der Wertschöpfungskette] auf die Endverbraucher, auf die Arbeiterklasse [am Ende der Wertschöpfungskette] abgewälzt. Daher kommt Inflation einer Umverteilung von unten nach oben gleich.
Ab einem gewissen Zeitpunkt werden sich die Arbeiterinnen und Arbeiter wehren; das haben wir bereits erlebt. Irgendwann kommt es zu Streiks und die Menschen fordern mehr Geld. Doch zunächst sinken die Reallöhne und die Kaufkraft.
Warum hat sich die Inflation nun wieder abgeschwächt, obwohl die Profite hoch bleiben? Und warum sind die Preise in den Jahren vor der Corona-Pandemie nicht so stark gestiegen, obwohl die Profite damals ebenfalls hoch waren? Was hat sich 2021–22 geändert – und was danach?
Wenn es keine festen Preissetzungen oder Absprachen gibt, reagieren mächtige, preisbestimmende Unternehmen, die die effizientesten Just-in-Time-Produktionsnetzwerke der Welt beherrschen, normalerweise nicht mit Preiserhöhungen, wenn die Nachfrage steigt. Würden sie dies tun, könnte die Konkurrenz ihre eigenen Just-in-Time-Lieferungen erhöhen, und erstere [die Firmen mit höheren Preisen] würden Marktanteile verlieren. Das würde auch ihre Gewinnaussichten untergraben. Solange globale Produktionsnetzwerke bestehen und laufen, versucht man die Gewinne zu steigern, indem die Produktionskosten gesenkt werden, beispielsweise durch Automatisierung oder eine Verlagerung der Produktion an Orte mit möglichst niedrigen Löhnen und Energiekosten.
Deswegen waren die Preise vor der Pandemie trotz mehrerer Runden der quantitativen Lockerung und anderer fiskalischer Anreize nach der Finanzkrise ziemlich stabil. Viele Ökonomen waren ursprünglich davon ausgegangen, dass diese expansiven fiskalischen Maßnahmen der Staaten zu Inflation führen würden, aber das taten sie nicht. Die großen Konzerne haben in dieser Zeit bis zur Pandemie keine Preiserhöhungen vorgenommen, da es keine massiven Kostenschocks und Angebotsengpässe gab, wie wir sie in den vergangenen Jahren seitdem erlebt haben. Stattdessen haben sie damals kontinuierlich ihre Marktanteile ausgebaut. Das Ergebnis ist, dass wir heute ein sehr hohes Maß an Unternehmenskonzentration haben.
Als die Inflation nun nachließ, begannen die Kosten vieler Inputs wie Energie, Rohstoffe und Transportkosten zu fallen. Die preissetzenden Großunternehmen haben in Reaktion darauf ihre Preise jedoch nicht gesenkt. Daher stiegen die Gewinne in vielen Sektoren – und die Konzerne konnten sich erneut freuen.
Wie war die allgemeine Reaktion der Biden-Regierung und der Demokratischen Partei auf die Inflation? Hielt man diese für lediglich vorübergehend? Hielten sie die Wirtschaft für überhitzt und waren sie der Meinung, dass finanzpolitische Zurückhaltung geboten war? Welche Maßnahmen haben sie ergriffen?
2021 gab es zwei Lager: Camp Transitory und Camp Larry Summers. Im Lager um Larry Summers monierte man, wir hätten nie so viel Geld in die Wirtschaft pumpen sollen und jetzt müssten die Zinssätze so schnell und so stark wie möglich angehoben werden. Wenn dieser finanzpolitische Ansatz verfolgt worden wäre, hätten wir nicht diese wirtschaftliche Erholung erlebt – mit Blick auf das BIP-Wachstum – und wir hätten keinen derart soliden Arbeitsmarkt wie heute. Letztendlich hat die US-Notenbank dann doch mit aggressiven Zinserhöhungen begonnen, aber wenn diese Zinserhöhungen früher gekommen wären, hätten wir noch mehr negative Auswirkungen erlebt.
Larry Summers sagte im Grunde: »Wir müssen Menschen jetzt arbeitslos machen, damit der Inflationsdruck abfällt«. Dabei gibt es jedoch eine krasse Diskrepanz zwischen der erlebten Verkäuferinflation und dem von ihm empfohlenen Ansatz. Denn die Lohnerhöhungen waren erst eine Reaktion auf die Verkäuferinflation. Anders gesagt: Höhere Löhne waren eine Folge der Inflation, nicht ihre Ursache.
Das zweite Lager war das besagte Camp Transitory [»vorrübergehend«]. Von dort hieß es: »Die Preissteigerungen bei Energie und Rohstoffen sind lokale Preisspitzen. Ja, der Preisindex wird steigen, aber er wird irgendwann wieder sinken, wenn diese Preisspitzen verschwinden. Wir müssen uns also keine allzu großen Sorgen machen; wir machen einfach weiter mit unseren Konjunkturmaßnahmen.«
Ich selbst habe mich für ein drittes Lager eingesetzt. Wie das Camp Transitory habe ich nicht erwartet, dass es zu einer galoppierenden Inflation kommen würde. Ich wusste, dass diese Inflation irgendwann zurückgehen würde, es sei denn, es käme zu riesigen Lohnzuwächsen, weil in Tarifverhandlungen Erfolge von historischem Ausmaß erzielt würden – was ja äußerst unwahrscheinlich ist, wenn man bedenkt, wie schwach die organisierte Arbeiterschaft heute ist. Dieses Wissen, dass die Inflation irgendwann zurückgeht, heißt aber nicht, dass man sich gar keine Sorgen zu machen braucht. Denn bis es zu diesem Rückgang kommt, leiden die meisten Menschen in extremer Weise [unter den hohen Preisen].
»Reichere Menschen erleben die Inflation auch; aber ein Teil ihrer Inflationslast wird dadurch ausgeglichen, das ihr angelegtes Vermögen an Wert gewinnt. Dies ist bei großen Teilen der Arbeiterklasse nicht der Fall.«
Wichtig ist, dass es sich nicht nur um eine Inflation im Sinne eines allgemeinen Preisanstiegs handelte, sondern um eine Inflation, bei der insbesondere die Preise für grundlegende Dinge wie Lebensmittel, Wohnen, Transport/Mobilität und Energie in die Höhe schossen. Was sollen die Leute denn sagen? »Vielen Dank, Frau Ökonomin. Echt mal, schönen Dank, dass sie mir versichern, dass ich mir schon in drei Jahren solche Dinge wie Lebensmittel wieder leisten kann«? Menschen müssen essen; sie müssen mit ihren Familien irgendwo wohnen; sie müssen zur Arbeit kommen; sie wollen nicht in ihren Häusern frieren. Deshalb sah ich mich veranlasst, in die Debatte einzusteigen und zu sagen: Nein, es gibt noch eine dritte Möglichkeit. Es gibt die Möglichkeit, sofort etwas gegen die Preisexplosionen zu unternehmen – und damit auch etwas gegen die Profitexplosionen bei den Unternehmen, die ja die Kehrseite dieser Preisexplosionen sind.
Die US-Demokraten nutzten letztendlich einen Mix aus allen drei Lagern, wobei die ersten beiden deutlich mehr Beachtung fanden. Mit Blick auf Interventionen in einzelne Sektoren gab die Biden-Regierung 2022 beispielsweise in historischem Ausmaß Öl aus den strategischen Erdölreserven (Strategic Petroleum Reserves) frei, um den Ölpreissteigerungen entgegenzuwirken. Das war gut und richtig, reichte aber allein nicht aus. Die Vorsitzende der Verbraucherschutzbehörde Federal Trade Commission (FTC), Lina Khan, setzte wieder verstärkt auf kartellrechtliche Interventionen, was überfällig und genau richtig war. Letzteres wird jedoch erst mittelfristig Früchte tragen.
Präsident Biden hat zwar hin und wieder angesprochen, dass Unternehmen für die Inflation verantwortlich sind, aber es gab keine entsprechenden energischen Maßnahmen. Es gab keine Steuer auf unerwartete Übergewinne und kein Bundesgesetz gegen Preistreiberei, geschweige denn direktere Aktionen wie temporäre Preiskontrollen für Lebensmittel oder Mieten.
Die Preisregulierung für russisches Öl zeigt aber, dass solche Maßnahmen auch unter Zeitdruck möglich sind. Die Biden-Regierung wagte es allerdings nicht, gegen die eigene fossile Brennstoffindustrie vorzugehen, die aufgrund des Kriegs in der Ukraine Rekordgewinne erzielte. Wie unsere neue Studie zeigt, übersteigen die Gewinne der US-amerikanischen Öl- und Gasindustrie im Jahr 2022 alle Investitionen in erneuerbare Energien; und diese Gewinne sind äußerst ungleich verteilt.
Du hast die Auswirkungen der Krise auf normale Leute angesprochen: Ist der Verbraucherpreisindex nicht grundlegend irreführend? Gibt es nicht eine große Diskrepanz zwischen den angegebenen Inflationsraten und dem, was Arbeiterinnen und Arbeiter in ihrem Alltagsleben empfinden?
Ja, das denke ich schon. Es zeigt sich ja, dass immer mehr Menschen [in den USA] von Ernährungsunsicherheit betroffen sind. Die Leute stehen bei den Tafeln Schlange; die Tafeln sind völlig überlastet. Der Vorsitzende der Greater Boston Food Bank sagte mir: »Wir wurden gegründet, um Menschen zu unterstützen, die aus welchen Gründen auch immer vorübergehend in Schwierigkeiten geraten sind. Wir können die Nachfrage, die wir in dieser Krise erleben, nicht bewältigen. Wir sind einfach nicht darauf ausgelegt, für eine so große Zahl an Geringverdienern als Puffer gegen die Inflation zu fungieren.«
Lohnkonvergenz ist eben nicht die ganze Story. Es wurde eine Lohnkonvergenz beobachtet. Das bedeutet: niedrigere Reallöhne stiegen stärker als höhere Löhne. Das sind natürlich gute Nachrichten. Aber gleichzeitig stellen wir fest, dass die Ernährungsunsicherheit zunimmt und die Obdachlosigkeit Rekordhöhen erreicht. Die wirtschaftliche Notlage nimmt insgesamt eindeutig zu. Da ist also mehr im Spiel: Die Reallöhne hängen ja erstens davon ab, wie viel Geld die Menschen verdienen, zweitens aber auch davon, mit welcher Inflationsrate dieser Geldlohn sofort wieder entwertet wird.
Wenn wir die Inflation als eine Art Index für die gesamte Wirtschaft ansehen, vergessen wir dabei leicht, dass sie nicht alle Menschen im gleichen Maße betrifft und dass nicht alle Menschen die gleiche Inflationsrate erleben. Viele Menschen geben ihr gesamtes Einkommen und mehr aus, sprich: Sie können nichts zurücklegen und sparen, oder sie müssen sogar Schulden machen. Für diese Gruppe mit geringerem Einkommen wirkt sich die Inflationsrate auf ihr gesamtes Einkommen aus. Andere Menschen können einen erheblichen Teil ihres Einkommens anlegen und erhalten auf dieses gesparte Einkommen höhere Zinsen. Oder sie gehören vielleicht zur vermögenden Klasse und profitieren sogar von den Gewinnexplosionen. Diese reichere Gruppe erlebt die Inflation auch; aber ein Teil ihrer Inflationslast wird dadurch ausgeglichen, das ihr angelegtes Vermögen an Wert gewinnt. Dies ist bei großen Teilen der Arbeiterklasse nicht der Fall.
Selbst wenn wir dies außer Acht lassen, erleben die Menschen unterschiedliche Inflationsraten. Die Zusammensetzung des Warenkorbs, den wir bei der Erstellung des Inflationsindex verwenden, soll repräsentativ sein, aber viele Menschen sind weit von einem repräsentativen Warenkorb entfernt. Das Bureau of Economic Analysis hat inzwischen eine Pilotstudie mit mehreren einkommensspezifischen Verbraucherpreisindizes veröffentlicht. Sie ist noch ziemlich grob, aber selbst bei einer solchen groben Anpassung zeigt sich, dass Menschen mit niedrigerem Einkommen eine faktisch deutlich höhere Inflationslast zu tragen haben.
»Das bedeutet in der Praxis: Als Mieter erlebt man unter Umständen eine viel höhere Inflationsrate als ein Hauseigentümer, selbst wenn man ein ähnliches Einkommen hat.«
Über die Anpassung dieses Warenkorbs hinaus sollten wir auch die unterschiedlichen Preisänderungen für unterschiedliche Menschen betrachten. Da werden die Unterschiede in den Inflationsraten noch deutlicher. Ein Beispiel: Nehmen wir an, Du bist eine wohlhabende Person und kaufst Dein Brot in einer netten kleinen Bäckerei, wo frühmorgens in der eigenen Backstube handwerklich hergestelltes Sauerteigbrot produziert wird. Und nehmen wir nun an, ich bin eine Arbeiterin, die ein am Fließband produziertes Brot in der großen Plastiktüte bei Walmart kauft. Die Preise für mein Brot und für dein Brot werden sich nicht auf die gleiche Weise entwickeln. Die Produkte sind zwar dem Namen nach beide Brote, aber es sind doch sehr unterschiedliche Produkte mit unterschiedlichen Preisen. Wenn wir im Warenkorb also den Preis von Brot als Beispiel heranziehen, ignorieren wir diese Heterogenität. Vor allem gilt: Wer zuvor handwerklich hergestelltes Brot gekauft hat, kann bei einer Inflation immer noch auf Supermarktbrot umsteigen. Wer aber schon immer das billigste Brot gekauft hat, hat keine andere Wahl. Man ist bereits ganz unten auf der Preis- und Qualitätsleiter. Und wenn nun mehr Menschen die billigeren Sorten kaufen, könnten die Preise dafür auch stärker steigen, insbesondere wenn es an Grundnahrungsmittel geht. Dies wird von einigen als »Cheapflation« bezeichnet.
Ein weiterer Faktor sind übrigens Sonderangebote. Viele Menschen in den USA, insbesondere aus der Arbeiterklasse, haben schon vor der Pandemie immer nach reduzierter Ware Ausschau gehalten; sie haben primär Dinge gekauft, für die es einen Preisnachlass gibt. Im Zuge der Preiserhöhungen verschwanden aber auch viele solche Rabatte, sodass die Menschen plötzlich eine faktische Inflationsrate von 50 Prozent hatten: Schließlich kommt zu den allgemein höheren Preisen ja noch hinzu, dass sie früher Dinge gekauft hatten, die vielleicht um 50 Prozent reduziert waren, und es jetzt einfach nicht mehr sind.
Wir haben noch gar nicht das wichtigste Thema angesprochen: Wohnen. Wenn Du vor ein paar Jahren ein Haus gekauft und Deinen Hypothekenzins festgeschrieben hast, dann zahlst Du weiterhin einen niedrigen und stabilen Zinssatz und hast Dein Haus zu einem relativ niedrigen Preis bekommen. Damit ist Deine Situation ganz anders als die von jemandem, der jetzt aktuell versucht, ein Haus zu kaufen. Die Immobilienpreise sind erheblich gestiegen; und gleichzeitig auch die Zinssätze. Die Menschen können sich die Preise für den Einstieg in den Immobilienmarkt nicht mehr leisten. Das wiederum heißt, dass die Mieten vielerorts noch stärker gestiegen sind, weil Menschen, die sonst gekauft hätten, jetzt auf den Mietmarkt drängen. Das bedeutet in der Praxis: Als Mieter erlebt man unter Umständen eine viel höhere Inflationsrate als ein Hauseigentümer, selbst wenn man ein ähnliches Einkommen hat. Die Art und Weise, wie wir im Verbraucherpreisindex die Inflation im Wohnungswesen messen, ist daher sehr ungenau. Ich denke, das sollte man zumindest im Hinterkopf behalten.
Zusammengenommen können diese Effekte ganz schön ins Gewicht fallen. Wir verstehen offenbar noch nicht so ganz, dass es in der Praxis stark voneinander abweichende Inflationsraten geben kann. Anstatt also zu sagen: »Das ist eine Vibecession« [eine gefühlte, nicht reale Rezession] – die Leute verstehen es einfach nicht; sie klagen über Not, obwohl sie sich doch über eine boomende Wirtschaft freuen können«, wäre es ehrlicher, einzuräumen: »Wir haben noch keine wirklich gute Datenanalyse und beginnen gerade erst zu verstehen, auf welche Weise die Inflation weitere Ungleichheiten schafft.«
Du hast etwas Wichtiges angesprochen, das man nicht oft genug wiederholen kann: Wenn man 20 Prozent des Einkommens sparen kann, hat man in Form eines Sparkontos mit hohen Zinsen oder Investitionen in einen Indexfonds eine ganz gute Absicherung gegen Inflation. Wenn man aber Arbeiterin ist und das gesamte Einkommen für das Nötigste ausgibt, macht man womöglich sogar Schulden, weil man hohe Zinsen für Kreditkarten zahlt. Diese Kluft zwischen, sagen wir, 10 Prozent Rendite auf eine Geldanlage und 25 Prozent Verlust durch Zinszahlungen macht einen riesigen Unterschied. Der wohlhabendere Sparer einerseits und der Schuldner aus der Arbeiterklasse andererseits empfinden die Inflation gänzlich unterschiedlich.
Korrekt. Und obwohl ich Donald Trump genauso sehr hasse wie jeder andere progressive Mensch auch, hat er den Finger in diese Wunde gelegt. So schlägt er beispielsweise vor, Kreditkartenzinsen zu deckeln. Wenn Menschen auf Kreditkartenschulden angewiesen sind, um über die Runden zu kommen, wird ihr verfügbarer Cashflow durch den Kreditkartenzins geschmälert. Dies wirkt sich unmittelbar auf ihre Kaufkraft und somit ihren Lebensstandard aus.
Lass uns darüber sprechen, welche Art von Preiskontrollen wann wie funktionieren und wann sie schiefgehen. Klar, die Eliten hassen diese Art von Marktinterventionen ohnehin. Ich denke aber, es gibt eine noch viel weiter verbreitete Auffassung, dass Preiskontrollen durch die Regierung die Wirtschaft verschlechtern und zu Engpässen führen können. Da denkt man direkt an Venezuela, wo Preiskontrollen offensichtlich nach hinten losgegangen sind. Was ist an dem, was du vorschlägst, anders?
Zunächst einmal ist klar: Wenn wir über Preiskontrollen diskutieren, befinden wir uns in der Regel bereits in einer sehr schwierigen Situation. Preiskontrollen oder Preisdeckel sind keine schöne Maßnahme, oder besser gesagt: Sie sind nicht die Art von Maßnahmen, die Menschen gerne umsetzen. Wenn wir an einem solchen Punkt angelangt sind, befinden wir uns also schon in einer sehr tiefen Krise. Wenn wir nun den Erfolg oder Misserfolg von Preiskontrollen bewerten wollen, müssen wir diesen Kontext, in dem sie eingesetzt werden, sehr genau berücksichtigen.
In meinem Buch Das Gespenst der Inflation widme ich ein ganzes Kapitel der Hyperinflation in China und dem krassen Scheitern der Preiskontrollen, mit dem sie in den Griff bekommen werden sollte. Die Ökonomen, die während des Zweiten Weltkriegs in den Vereinigten Staaten sehr erfolgreich Preiskontrollen eingeführt hatten, wurden nach China eingeflogen, um dort die damals noch regierenden Nationalisten zu beraten. In China wurde zur gleichen Zeit versucht, die gleiche Art von Preiskontrollen wie in den USA durchzuführen. Dennoch war dies ein völliger Misserfolg. Dafür gibt es zwei Gründe. Erstens ist es schwierig, Preiskontrollen einzuführen, wenn man bereits eine galoppierende Inflation hat. Darüber hinaus ist es auch schwierig, Preiskontrollen effektiv durchzuführen, wenn man, wie China damals, eine Agrarwirtschaft mit vielen kleinen, unabhängigen Produzenten und einem zersplitterten Markt hat. Auch in Venezuela fanden meines Wissens viele der Preiskontrollversuche in einem hyperinflationären Kontext statt.
Die Gegenfrage ist natürlich, wann Preiskontrollen funktionieren. Es gibt im Grunde zwei Situationen, in denen sie funktionieren können.
John Kenneth Galbraith war während des Zweiten Weltkriegs der wohl wichtigste Fürsprecher von Preiskontrollen in den USA. Dort wurde das vermutlich erfolgreichste Beispiel für Preiskontrollen weltweit durchgeführt. Galbraith sagte mal: »Es ist relativ einfach, Preise festzusetzen, wenn sie bereits festgesetzt sind.« Das stimmt: Wenn man eine kleine Anzahl riesiger Unternehmen hat, die im Grunde bereits die Preise festlegen, weil diese fast-monopolistischen Märkte nun einmal so funktionieren, dann ist es relativ einfach, sich dieser Handvoll Preisfestsetzer anzunehmen und einen Weg zu finden, dass die Preise auf stabile Weise festgelegt werden.
»Es schien, als würden die Wirtschaftsfachleute selbst nach drei Jahren Debatte über Inflation nur wieder das gleiche alte Argument gegen Preiskontrollen aus dem VWL-Grundkurs aufwärmen.«
Der zweite Fall ist, wenn es auf dem heimischen Markt eine massive Steigerung der Rohstoffpreise gibt und diese so stark ausfällt, dass es zu historischen Übergewinnen kommt – dies war jüngst der Fall bei Öl und Gas. Dann kann man eine Preisobergrenze einführen und sagen: »Ihr dürft Öl nicht zu Preisen über X verkaufen.« Natürlich muss man dabei den internationalen Markt im Blick behalten, aber das ist machbar. Viele waren überrascht, dass die Preisobergrenzen für russisches Öl relativ gut funktionierten. [Anmerkung der Redaktion: Nach den von der G7 verhängten Sanktionen darf russisches Öl nur zu einem Maximalpreis von 60 US-Dollar pro Barrel gekauft werden.]
Nun gibt es die Kritik, dass Preiskontrollen zumindest teilweise umgangen werden können – genauso wie Steuern. Wir erheben aber weiterhin Steuern, obwohl es eine erschreckende Menge an Steuerhinterziehung gibt. Bei Preiskontrollen ist es dasselbe: Sie werden nie perfekt sein, aber sie funktionieren und bewirken das, was sie bewirken sollen, in erheblichem Maße.
Nochmals: Wir haben eine Preisobergrenze für russisches Öl festgelegt. Ich verstehe nicht, warum wir nicht auch eine Preisobergrenze für amerikanisches Öl hätten festlegen und damit den internationalen Ölpreis effektiv senken können. Das Schöne an Preiskontrollen ist ja: Wenn man die zufälligen Übergewinne begrenzt – die wie gesagt die Kehrseite von Preisexplosionen sind – gibt man den Unternehmen einen größeren Anreiz zu produzieren. Denn bei festgelegten Preisen profitieren ja nicht mehr davon, die Angebotsmenge niedrig zu halten. Die einzige Möglichkeit die Gewinne zu steigern, besteht nun darin, mehr zu produzieren, weil der Gewinn pro Produktionseinheit ja festgelegt ist. Tatsächlich haben es sich die Chefs einiger Ölunternehmen herausgenommen, zu sagen, man habe es gar nicht so eilig, die Versorgungslücke zu schließen, weil man aktuell ja von Rekordmargen profitiere. Mit Preiskontrollen wäre das nicht möglich gewesen.
Ein weiterer Punkt, den ich ansprechen möchte, ist etwas, das Galbraith immer wieder betonte, wenn er über Preiskontrollen sprach: Preiskontrollen verschaffen uns Zeit, nicht mehr und nicht weniger. Bei Problemen kann man nicht einfach Preisobergrenzen einführen und dann sagen: »Okay, ich habe meine Arbeit getan, das war’s.« Die Preiskontrolle wird früher oder später nicht mehr angemessen funktionieren. Aber man kann Preiskontrollen anwenden, damit ein Preis nicht völlig überzogen wird – und in der Zwischenzeit alles Denkbare tun, um die tatsächlich existierende Knappheit des jeweiligen Guts zu beheben.
Manchmal gibt es wirtschaftliche Engpässe, die nicht mit Preissteigerungen nach dem klassischen Angebot-und-Nachfrage-Prinzip zu beheben sind. Nehmen wir an, es gäbe einen massiven Rückstau an Schiffen im Hafen von Los Angeles – wie es tatsächlich während der Pandemie der Fall war. Es wird eine gewisse Zeit dauern, bis der Hafen wieder frei ist. Die Preise in den Läden können in der Zwischenzeit explodieren, aber dadurch löst sich dieser Stau im Hafen auch nicht schneller auf. Nun kann man verhindern, dass die Preise übermäßig steigen; gleichzeitig muss man natürlich trotzdem dafür sorgen, dass der Hafen wieder frei wird.
Was ich damit deutlich machen will: Preiskontrollen sind Notfallmaßnahmen. Sie sind wie ein Verband, den man nach einem Unfall anlegt, um die Blutung zu stoppen. Das ist wichtig, aber darüber hinaus braucht es oft noch weitere Maßnahmen zur Heilung der Verletzung. Nichtsdestotrotz sind Verbände nützliche Dinge, die man stets zur Hand haben sollte.
Anfang dieses Jahres hatte Kamala Harris einen Vorschlag gegen Preistreiberei vorgelegt. Dieser wurde veröffentlicht, aber nicht vollständig erklärt – und sehr bald wurde kaum noch darüber gesprochen. Was waren die positiven und negativen Aspekte dieses Vorschlags?
Zunächst einmal zeigte sich seit über einem Jahr in so gut wie jeder Umfrage, dass die Inflation die größte Sorge der Wählerschaft ist. Wenn man die Menschen nun fragt, was ihres Verständnisses nach die Inflation verursacht, antwortet die überwiegende Mehrheit, verantwortlich seien die Macht der Konzerne, deren Preisgestaltung und die Profitgier. Das ist ein eindeutiges Stimmungsbild.
Daher war es ein kluger Schachzug von Harris, als sie als erste wirtschaftspolitische Maßnahme gewisse Initiativen gegen Preistreiberei bei Lebensmitteln vorschlug. Ich denke, das war richtig. Ich sage nicht, dass sie nicht noch mehr hätte tun können; aber als eine erste Aktion war es der richtige Ansatz. Harris’ Vorschlag kam zu einem Zeitpunkt, als solche Maßnahmen sehr beliebt waren. Das hat ihrer Popularität sicherlich einen Schub gegeben.
»Man kann keine umfassende Industriepolitik betreiben, ohne auf die Preise zu achten. Meines Wissens hat jedes Land, das in der Geschichte erfolgreich Industriepolitik betrieben hat, auch eine gewisse Preispolitik verfolgt.«
Allerdings war ihr Vorschlag mit Blick auf konkrete Gesetze sehr vage. Es ist schwer zu sagen, was das Ganze im Detail bedeutet hätte. Klar war allerdings, dass sie sich auf den Lebensmittelsektor konzentrieren wollte, was meiner Meinung nach auch richtig ist. Insgesamt müssen wir das Augenmerk zwar auf mehr als nur eine Branche legen – wir müssen den gesamten Warenkorb betrachten – aber wenn man sich rein wahlkampftaktisch zunächst für nur einen entscheiden müsste, war es sicherlich klug, auf die Grundnahrungsmittel zu zielen.
Gesetze gegen Preistreiberei unterscheiden sich von einer gezielten Preiskontrolle dadurch, dass sie Unternehmen nicht vorschreiben, einen bestimmten Preis X zu verlangen oder die Preise auf dem Niveau von Datum Y einzufrieren. Vielmehr werden die Konzernführungen darauf hingewiesen, dass Verbraucher sich beschweren können, wenn Unternehmen ihre Preise stärker erhöhen, als es durch andere Kostensteigerungen zu rechtfertigen ist. In solchen Fällen könnte das entsprechende Unternehmen dann wegen Preistreiberei belangt werden. Im Grunde wird also den Verbraucherinnen und Verbrauchern die Möglichkeit gegeben, Unternehmen für Preistreiberei vor Gericht zu bringen, woraufhin für die Firma dann rechtliche Konsequenzen drohen.
Harris schlug vor, ein solches Gesetz auf Bundesebene einzuführen. Das ist sinnvoll, denn es gibt einige sehr große Unternehmen wie Kroger, die in den gesamten USA tätig sind. Man sollte sie nicht nur auf der Ebene einzelner Bundesstaaten belangen können, wenn sie doch im ganzen Land Wucherpreise verlangen.
Diese Logik ist stichhaltig. Allerdings waren James K. Galbraith und ich wohl die einzigen Ökonomen, die in einem Meinungsbeitrag Harris’ Forderung nach solchen Gesetzen gegen Preistreiberei unterstützten. Es war sehr deprimierend, dass sich kaum ein anderer Ökonom dafür aussprach. Es schien, als würden die Wirtschaftsfachleute selbst nach drei Jahren Debatte über Inflation nur wieder das gleiche alte Argument gegen Preiskontrollen aus dem VWL-Grundkurs aufwärmen. Das hatte sich ja zuvor schon in den Reaktionen auf meinen angesprochenen Kommentar im Guardian gezeigt. Diese Gegenreaktion trug dazu bei, dass Harris das Thema nicht mehr ansprach.
Natürlich kam bald heraus, dass sie von bestimmten Unternehmenseliten viel Gegenwind bekam. Hinzu kam der starke öffentliche Druck von Unternehmenslobbyisten, Khan nicht als FTC-Vorsitzende wiederzuernennen. Wie es leider allzu oft geschieht, war die alte unheilige Allianz aus Kapitalinteressen und kruder neoklassischer Ökonomie entscheidend dafür, dass Harris ihre angedachten Maßnahmen gegen Preistreiberei nicht mehr öffentlich thematisierte.
Was hat die Biden-Regierung Deiner Meinung nach im Vergleich zu früheren sozialdemokratischen Ansätzen in der Wirtschaftspolitik falsch gemacht?
Die neoliberale Wirtschaftswelt bevorzugt eindeutig Geldtransfers gegenüber Preisinterventionen. Also: man gibt den Leuten einfach mehr Geld in die Hand, damit sie die exorbitanten Preise bezahlen können. Die angeblich rationale Preissetzung [der Unternehmen] bleibt somit bestehen und der Markt kann genauso perfekt und rational weiter funktionieren wie immer. Wenn man den Leuten einfach mehr Geld gibt, mischt man sich nicht so stark in den Markt ein, wie wenn man die Preise direkt beeinflusst.
Das ist genau der springende Punkt: Man nimmt an, dass die Preissetzung rational erfolgt. Tom Krebs und ich haben ein Paper mit dem Titel »Can Price Controls Be Optimal?« (»Können Preiskontrollen optimal sein?«) verfasst. Wir verwenden darin ein sogenanntes allgemeines Gleichgewichtsmodell – das übrigens den Kern der neoklassischen Ökonomie bildet – um zu zeigen, dass man selbst innerhalb eines solchen Rahmens zu dem Schluss kommen kann, dass Preiskontrollen eine optimale Reaktion sind, wenn die Preise eben nicht rational sind, wenn sie über das Ziel hinausschießen. Man muss also wirklich Hardcore-Neoliberaler sein, um Preiskontrollen immer und überall auszuschließen. Neoklassische Ökonomen würden das nicht tun.
»Bidenomics ist am Ende nur eine neue Version der Trickle-down-Ökonomie. Nur, dass das Trickle-down nicht einfach aus dem freien Markt heraus geschieht, sondern es durch staatliche Investitionsinitiativen befeuert werden soll.«
Denken wir zurück an den Sommer, als die globalen Gaspreise quasi davon abhingen, ob Wladimir Putin gut gefrühstückt hatte oder nicht – und wie die EU-Kommission und das Weiße Haus das nun fanden. Es ist doch absurd anzunehmen, dass dies im rein ökonomischen Sinne rationale Preise sind. In solchen Situationen kommt es nun einmal zu Herdenverhalten. Das ist das gleiche Prinzip wie bei Bank-Runs: Panik und panikbedingte Übertreibung bei den Preisen. Deshalb denke ich, dass es in solchen Situationen ganz offensichtlich notwendig ist, die Preise zu stabilisieren. Da würden mir neoklassische Ökonomen sicherlich zustimmen.
Preispolitik war stets Teil der Volkswirtschaften des 20. Jahrhunderts; ganz offensichtlich in der New-Deal-Ökonomie. Im Zuge der Bidenomics feierte sie aber kein Comeback, abgesehen von der besagten Freigabe der Strategic Petroleum Reserve.
Es gibt noch einen zweiten, allgemeineren Punkt, den ich ansprechen möchte: Man kann keine umfassende Industriepolitik betreiben, ohne auf die Preise zu achten. Meines Wissens hat jedes Land, das in der Geschichte erfolgreich Industriepolitik betrieben hat, auch eine gewisse Preispolitik verfolgt. Wenn man versucht, die Struktur einer Wirtschaft durch massive staatliche Programme zu verändern – und ich denke, dass wir das tun sollten, dass wir das tun müssen, um die grüne Wende doch noch zu schaffen und den Planeten nicht verbrennen zu lassen – dann muss man auch die Preisgestaltung berücksichtigen. Es gab bisher enorme Zurückhaltung, dies zu tun. Es gab die Vorstellung, man könne all diese wunderbaren grünen industriepolitischen Dinge tun, aber den heiligen Gral der Preise dürfe man dabei nicht direkt antasten.
Eine solche Preispolitik ist das fehlende Puzzleteil. Das ist die große Lektion, die wir jetzt erneut gelernt haben. Mich erinnert das ein wenig an die Maßnahmen im Ersten Weltkrieg im Vergleich zum Zweiten. Im Ersten Weltkrieg wurde viel für den Krieg ausgegeben und massiv mobilisiert, aber die Ökonomen zögerten, zeitgleich Preiskontrollen einzuführen. Preiskontrollen kamen spät, sie waren unsystematisch und nicht so effektiv, wie sie hätten sein können. Die große Lehre – die dann im New Deal und im Zweiten Weltkrieg in die Praxis umgesetzt wurde – war, dass man bei einem solchen Ausmaß an Mobilisierung die Preise kontrollieren muss.
Ich sage nicht, dass das Inflation Reduction Act (IRA) auch nur annähernd an die riesige Ressourcen-Mobilisierung im Zweiten Weltkrieg heranreicht. Ich sage auch nicht, dass wir totale Preiskontrollen haben sollten, wie es sie im Zweiten Weltkrieg gab. Aber ich sage, dass man das Thema Preise systematisch einbeziehen muss, wenn man versucht, seine Wirtschaft wieder in Schwung zu bringen.
Ich halte die Vorstellung, dass die Investitionsprogramme im IRA und die Bidenomics an sich für diese Inflation verantwortlich sind, für falsch. Ein Großteil der Investitionen muss sogar erst noch getätigt werden. Die Menschen beschweren sich, dass die Arbeitsmarktzahlen (noch) nicht so gut aussehen. Es dauert eben eine Weile, bis diese Investitionsprogramme wirklich greifen. In diesem Sinne glaube ich absolut nicht, dass diese Inflation durch den IRA verursacht wurde.
Mit Blick auf die Zukunft ist die große Lehre meiner Ansicht nach, dass wir Industriepolitik nicht halbherzig machen können. Wir müssen das gesamte Paket betrachten und die Industriepolitik als Teil des gesamten makroökonomischen Managements sehen. Das beinhaltet auch, dass Interventionspolitik in einzelnen Branchen mit entsprechender Preispolitik abgestimmt werden muss.
Kamala Harris hat nun gegen Donald Trump verloren. Unter anderem dürften ökonomische Themen den Ausschlag gegeben haben. Die Leute haben offenbar das Gefühl, die Bidenomics haben ihnen persönlich nichts gebracht. Was hat Biden falsch gemacht?
Ich bin fest davon überzeugt, dass wir an den sogenannten vorgelagerten Branchen, den Upstream-Sektoren, arbeiten müssen. Deshalb habe ich mich mit systemisch wichtigen Preisen unter Verwendung von Input-Output-Modellen beschäftigt. Und genau deshalb betone ich, wie relevant Preisschocks in diesen vorgelagerten Primärbranchen beim »Ausbruch« einer Inflation sind.
Gleichzeitig reicht es als progressive Ökonomin nicht aus, sich nur auf diese vorgelagerten Bereiche zu konzentrieren. Das ist sehr weit entfernt von der Alltagserfahrung der Arbeiterklasse und der großen Mehrheit der Menschen. Ich denke, genau daran sind die Bidenomics gescheitert: Das Ganze war erstaunlich progressiv – Bidens Wirtschaftspolitik war Europa beispielsweise in Bezug auf mehrere industriepolitische Initiativen weit voraus –, aber die Bidenomics haben wie gesagt schlichtweg nicht genug in Bereichen getan, die die Menschen unmittelbar spüren.
Einer der Sätze von Biden, den ich tatsächlich ziemlich mag, war seine ausdrückliche Kritik an der vermeintlichen Trickle-down-Ökonomie. Er kündigte im Grunde das Ende von Trickle-down an. Wenn man sich anschaut, wie der wirtschaftspolitische Diskurs in Deutschland verläuft, ist das ein ziemlich großer Schritt nach vorne. Aber wenn man die Bidenomics so umsetzt, wie es getan wurde, dass es nur um die vorgelagerten Dinge geht – man baut die Infrastruktur auf, man baut die Industrie wieder auf, und dann gibt es quasi als Bonus einige gewerkschaftlich organisierte Arbeitsplätze und eine gewisse Nachfrage –, dann ist das am Ende nur eine neue Version der Trickle-down-Ökonomie. Nur, dass das Trickle-down nicht einfach aus dem freien Markt heraus geschieht, sondern es durch staatliche Investitionsinitiativen befeuert werden soll.
Außerdem ging es nicht direkt um die Bedürfnisse der Menschen. Was sind denn die wirklich unmittelbaren Sorgen der Menschen? Welche Nöte erleben sie inmitten einer der schlimmsten Krisen, die die Welt seit Jahrzehnten erlebt hat, und wie können wir diese Nöte direkt angehen? Wie können wir sicherstellen, dass die horrend hohen Lebenshaltungskosten nicht das Leben von Millionen von Menschen zerstören? Bidens »Build Back Better« hatte viel von diesem auf die menschlichen Bedürfnisse ausgerichteten Denken. Als dann der spätere Inflation Reduction Act tatsächlich verabschiedet und umgesetzt wurde, ist das leider komplett hintüber gefallen.
Isabella Weber ist Assistant Professor für Wirtschaftswissenschaften an der University of Amherst, Massachusetts.