08. Dezember 2025
Amazon, Meta und OpenAI haben riesigen Einfluss auf die Politik gewonnen. Aber treten wir damit wirklich in eine Ära des »Technofeudalismus« ein? Evgeny Morozov und Cédric Durand diskutieren mit Susan Watkins, wie der heutige Kapitalismus einzuordnen ist.

Mark Zuckerberg, Lauren Sanchez, Jeff Bezos, Sundar Pichai und Elon Musk nehmen an der Amtseinführungsfeier von Donald Trump in Washington, DC, teil, 20. Januar 2025.
Bei seiner Amtseinführung im Januar war US-Präsident Donald Trump von Jeff Bezos, Mark Zuckerberg und einer Reihe anderer Tech-Milliardäre umgeben. Für einige Beobachter symbolisierte dieses Bild die Verschmelzung von Wirtschaft und politischer Macht, die eher einem vormodernen Feudalismus als dem »klassischen« Kapitalismus, wie wir ihn bisher kannten, ähnele. Anstatt ihre Konkurrenten auszustechen, würden diese neuen Kapitalisten ihren politischen Einfluss nutzen, um Regulierungen und Vorschriften nach ihrem Gusto zu gestalten. Tech-Monopole wie Amazon, Google und Meta würden nun weniger über gute Produkte Geld verdienen, sondern vielmehr »Renten«, also Gebühren von ihren Nutzerinnen und Nutzern, einstreichen. In dieser neuen Welt nach 2008 stehe der Profit nicht mehr im Mittelpunkt des Kapitalismus. Stattdessen nutzten mächtige Eliten mit engen Verbindungen zum Staat ihren Einfluss, um sich direkt über politische Hebel zu bereichern.
Andere interpretierten die Situation hingegen ganz anders. Sie argumentieren, die Tech-Milliardäre seien von der Republikanischen Partei gezähmt worden und würden sich um Trump scharen, ihm sozusagen Tribut zollen. Anstatt den übermächtigen Staat in Frage zu stellen, dienen Big Tech und die Kryptoindustrie demnach dazu, die Macht Amerikas zu stärken und den Neoliberalismus aufrechtzuerhalten.
In einer umfassenden Diskussion hat Susan Watkins, Chefredakteurin der New Left Review, mit Cédric Durand und Evgeny Morozov, zwei der führenden Denker zu diesen Themen, darüber gesprochen, wie man den heutigen Kapitalismus und diese beiden gegensätzlichen Positionen verstehen und einordnen kann. Cédric Durand wurde in Frankreich geboren, studierte in Grenoble sowie an der EHESS in Paris und promovierte über den Bergbau im postsowjetischen Russland. Durand ist vor allem für seine beiden jüngsten Bücher bekannt: Fictitious Capital (2014), in dem er die Dynamik hinter der Finanzkrise untersucht, und Technofeudalism (2020), in dem er sich mit der digitalen Revolution auseinandersetzt. Evgeny Morozov wurde in der Nähe von Minsk in der damaligen Sowjetunion geboren. Er studierte an der American University in Bulgarien, promovierte in Harvard und ist Autor von The Net Delusion (2011), einer Kritik an der These, das digitale Zeitalter werde eine Demokratisierung mit sich bringen.
Durand und Morozov hatten sich zuvor an einer Debatte in der New Left Review beteiligt, die durch Durands Buch Technofeudalism ausgelöst wurde. Im Gespräch greifen die beiden diese Themen erneut auf und diskutieren über den Aufstieg, den Einfluss und die Bedeutung der Big Tech-Unternehmen; die (Un-)Abhängigkeit des Staats von der direkten Kontrolle durch heutige Kapitalisten; und sie erörtern, ob und wie die zunehmende Aushöhlung der administrativen Kapazitäten des Staats die Umsetzung sozialistischer Politik erschwert. Der folgende Text ist ein Auszug aus ihrer Diskussion beim READ-Festival 2025 in Barcelona.
CD: Danke, Susan. Guten Abend, allerseits. Ich freue mich, heute mit Euch diese wichtigen Themen zu besprechen.
Ich würde die aktuelle Situation angelehnt an Ernest Mandel als »Zuspätkapitalismus« beschreiben. Warum »zu spät«? Ich denke, der offensichtlichste Grund ist die Umweltkrise. Sie ist der Kern der Debatte, die wir führen sollten; sie ist von entscheidender Bedeutung. Wenn man sich jedoch mehr auf die kapitalistischen Dynamiken konzentrieren möchte, um die aktuelle Situation zu verstehen, gibt es meiner Meinung nach fünf wesentliche Elemente.
Das erste Element ist das, was ich als den Aufstieg »der anderen« oder die Entwestlichung der Weltwirtschaft bezeichnen würde. Die Hegemonie der USA und Europas schwindet eindeutig zugunsten des aufstrebenden Chinas und, in geringerem Maße, anderer Länder wie Indien. Um das in Zahlen zusammenzufassen: China hatte in den 1980er Jahren einen Anteil von etwa zwei Prozent am globalen BIP; bereinigt um die Kaufkraftparität sind es heute über 17 Prozent. Das ist eine enorme Veränderung, durch die die globalen Dynamiken neu geordnet werden. Frankreich und Deutschland haben einst gemeinsam mehr als zehn Prozent des globalen BIP ausgemacht, kommen heute aber auf nur noch fünf. Zusammen sind sie somit kleiner als Indien. Das gibt eine erste Vorstellung vom Ausmaß der Veränderung. Ich denke, dies ist wichtig, um zu verstehen, was derzeit geschieht.
Das zweite wichtige Element ist das, was ich als das Ende der Finanzhegemonie bezeichnen würde – auch wenn das vielleicht noch etwas verfrüht sein mag. Fünf Jahrzehnte lang gab es einen Finanz-Superzyklus. Diese Phase funktionierte bis 2008 einigermaßen, danach musste sie aber vollständig subventioniert werden: Es gab enorme Rettungsaktionen, Bailouts und massive Interventionen der Zentralbanken. Diese Interventionen selbst haben weitere Probleme verursacht. Die Coronavirus-Krise und der darauffolgende Inflationsschock haben gezeigt, dass es immer schwieriger geworden ist, diese Wirtschaft zu steuern.
Die Wirtschaft ist aktuell nicht sehr dynamisch, aber der Finanzsektor boomt trotzdem. Das Ausmaß an fiktivem Kapital ist enorm. Und wir befinden uns in einer ständigen Krise: Alle paar Monate hören wir von einer weiteren Finanzkrise in irgendeinem Teil der Welt, von weiteren Interventionen hier und dort. Diskussionen über den Dollarpreis, den Vormarsch von Kryptowährungen und Stablecoins – all das ist Teil der Krise der bisherigen Finanzhegemonie.
»Es gibt eine Verschiebung hin zu mehr Autoritarismus oder sogar eine neofaschistische Wende. Diese Entwicklung hängt mit dem zunehmend schärferen internationalen Wettbewerb, mangelnder sozialer Mobilität, einer wachsenden Konzentration der Wirtschaftsmacht und einer allgemeinen Krise zusammen, die die aktuelle Situation prägen.«
Das dritte Element ist die Tech-Hegemonie. Wir werden heute Abend noch näher darauf eingehen, aber ich möchte bereits betonen: Es geht nicht nur darum, dass der Technologiesektor bei der Kapitalakkumulation führend ist – es geht vor allem um die extreme Konzentration von Kapital. Einige wenige Unternehmen machen mittlerweile etwa 20 Prozent der Marktkapitalisierung in den gesamten Vereinigten Staaten sowie 35 Prozent der Börsenkapitalisierung aus, verglichen mit etwa 20 Prozent im Jahr 2010. Wir beobachten also nicht nur rasantes Wachstum in dieser Branche, sondern auch eine Konzentration des Kapitals in einigen wenigen Unternehmen. Das ist etwas Besonderes und Bedeutendes.
Das vierte Element ist die Globalisierung. Die Auswirkungen der Globalisierung sind in vielen Bereichen unseres Lebens spürbar, sei es beim Reisen oder dass wir Waren konsumieren, die am anderen Ende der Welt hergestellt worden sind. Es scheint jedoch, dass die Globalisierung in den vergangenen zehn, fünfzehn Jahren aufgehört hat, sich weiter auszubreiten. Der Anteil des Handels an der Weltwirtschaft wächst einfach nicht mehr. Derzeit wird viel über Zölle, »De-Coupling« und Sanktionen diskutiert. In der Weltwirtschaft findet ein neuer Fragmentierungsprozess statt, der sich stark von der klassischen neoliberalen Ära unterscheidet, die wir bislang erlebt haben.
Fünftens, und das ist auch für unsere Diskussion heute Abend wichtig, ist der Zuspätkapitalismus ein Kapitalismus, der seine Dynamik verloren hat. Es ist kein voranpreschender Kapitalismus mehr, sondern ein sich verlangsamender. Seit dem Nachkriegsboom befinden wir uns in einer Phase der Verlangsamung. Trotz der technologischen Entwicklungen gibt es bislang keine spürbare Erholung oder Wiederbelebung. In reichen Volkswirtschaften ist vielmehr ein Rückgang der Investitionsraten zu beobachten. Tatsächlich beschränkt sich dieser Abschwung nicht nur auf diese Volkswirtschaften – er findet sogar in China statt, wo wir seit etwa einem Jahrzehnt ein langsameres Wachstum beobachten können. Es geht also nicht nur darum, dass wir einen allgemeinen Abschwung erleben, sondern auch darum, dass die Produktivität niedrig und schleppend bleibt, trotz aller Innovationen. Wir produzieren keinen Mehrwert. Viele Menschen sind der Ansicht, dass die erlebte Verarmung mit der Verlangsamung des Wachstums in kapitalistischen Staaten zusammenhängt.
Diese fünf Elemente – der Aufstieg Chinas und anderer Länder, das Ende der Finanzhegemonie, die Konzentration von Tech-Kapital, das Abflauen der Globalisierung und die allgemeine Verlangsamung der kapitalistischen Dynamik – sind entscheidend, um aktuelle Entwicklungen zu verstehen. Diese fünf Elemente bilden den Hintergrund für die reaktionäre Wende, die wir in vielen westlichen Ländern, insbesondere in den Vereinigten Staaten, beobachten. Es gibt eine Verschiebung hin zu mehr Autoritarismus oder sogar eine neofaschistische Wende. Diese Entwicklung hängt mit dem zunehmend schärferen internationalen Wettbewerb, mangelnder sozialer Mobilität, einer wachsenden Konzentration der Wirtschaftsmacht und einer allgemeinen Krise zusammen, die die aktuelle Situation prägen.
Danke. Evgeny, was würdest Du dazu sagen beziehungsweise hinzufügen?
EM: Ich werde versuchen, auf einige der von Cédric angesprochenen Punkte einzugehen und gleichzeitig meine eigenen Gedanken darzulegen. Sowohl Susans Framing als auch Cédrics Antwort beziehen sich größtenteils auf das Jahr 2008 und betrachten die Krise und ihre Folgen als Wendepunkt. Als Ausgangspunkt für eine Periodisierung unserer Überlegungen zur aktuellen Form des Kapitalismus halte ich dies für weitgehend richtig, insbesondere mit Blick auf die Funktionsweise und Entwicklung der digitalen Wirtschaft. Man denke an Uber, Airbnb und viele andere ähnliche Unternehmen: Sie haben es geschafft, sich nach der damaligen Krise als Mittel darzustellen, mit denen die Mittelschicht als Kleinunternehmer durchstarten kann. Sie präsentierten sich als Anbieter, die Menschen die Möglichkeit bieten, selbst Entrepreneur zu werden beziehungsweise ihren »Assets« – seien es ihre Autos oder Wohnungen – eine zweite Bedeutung, eine zweite Aufgabe zu verschaffen.
Ich bin jedoch auch der Meinung, dass diese Periodisierung eine Tendenz in sich birgt, die früher begonnene Prozesse verwischt und uns daran hindert, andere Themen und Dimensionen des Kapitalismus zu betrachten. Da Cédric seine Ausführungen als einen Beitrag zum Verständnis eines »Zuspätkapitalismus« versteht, möchte ich anmerken, dass ich im Laufe der Jahre äußerst kritisch und skeptisch gegenüber einer Periodisierung geworden bin, die mit dem »Spätkapitalismus« beginnt. Bei allem Respekt für Ernst Mandel: Dieser Rahmen hat die analytische Fähigkeit der Linken, die strukturellen Veränderungen im Kapitalismus seit den 1970er Jahren zu verstehen, eingeschränkt.
»In dieser neuen Phase des Kapitalismus wird Politik über den Markt betrieben. Die Idee dabei ist, alles der Logik von Rentabilität und Akkumulation zu unterwerfen, um damit viele der vom Kapitalismus verursachten Probleme zu lösen.«
Diese Periodisierung geht davon aus, dass wir nach der liberalen Spielart des Kapitalismus und der anschließenden Monopolphase des Kapitalismus in den 1970er Jahren im Spätkapitalismus angekommen sind, der dann den Beginn der Globalisierung und die darauffolgenden Veränderungen markierte. Ich bin jedoch der Ansicht, dass wir eine andere Herangehensweise benötigen, um über diese Veränderungen zu sprechen, einen neuen konzeptionellen Rahmen. Anstatt also Begriffe wie Neoliberalismus, Finanzialisierung oder Globalisierung zu verwenden, um die sich entwickelnde Morphologie des Kapitalismus zu beschreiben, habe ich versucht, eine andere Periodisierung zu entwickeln.
In den vergangenen zehn Jahren habe ich an einem Konzept gearbeitet, dem die alte Idee des »organisierten Kapitalismus« zugrunde liegt, wie sie vor einem Jahrhundert von Rudolf Hilferding und anderen formuliert wurde, und einem Übergang zum »unorganisierten Kapitalismus« in den 1970er Jahren. Letzterer ist gekennzeichnet durch zunehmende Deregulierung, Privatisierung und die Etablierung des Wettbewerbs als Hauptform der globalen Steuerung. Diese unorganisierte Phase des Kapitalismus erschöpfte sich schließlich Anfang der 2000er Jahre und führte zu dem, was ich als »organischen Kapitalismus« bezeichne – ein gänzlich anderes Phänomen. Der Begriff »organischer Kapitalismus« erkennt an, dass die Bemühungen, Staaten und Unternehmen durch mehr Wettbewerb, Privatisierung und Marktorientierung in der »unorganisierten« Phase von den 1970er bis Ende der 1990er Jahre zu disziplinieren, nicht nur gescheitert sind, sondern auch eine Vielzahl von Problemen wie Klimawandel und Ungleichheit hervorgerufen haben. Ebenso hat der Kapitalismus aber auch mehr Kapital mobilisiert, um diese Probleme anzugehen.
Seit Anfang der 2000er Jahre lässt sich eine andere Denkweise beobachten. Dies gilt insbesondere für Bereiche wie den Finanzsektor, wo Personen wie Al Gore und andere begannen, sich für neue Wege zur Bewältigung der bestehenden Probleme einzusetzen. In dieser Sichtweise wird akzeptiert, dass der Kapitalismus nicht so effektiv war, wie Friedrich Hayek und andere behauptet hatten, und dass er eine Vielzahl von unerwünschten Externalitäten hervorgebracht hat. Durch die Mobilisierung von mehr Kapital und die Einführung marktorientierter politischer Interventionen können wir diese Probleme jedoch beheben, so die Annahme der frühen 2000er Jahre.
Diese Denkart zeigt sich besonders deutlich in der Herangehensweise von Asset-Managern beim Thema Klimawandel: Sie betrachten ihn als ein Problem, das durch Marktdisziplin gelöst werden kann. Das Silicon Valley bringt darüber hinaus etwas ein, das ich als »Solutionismus« bezeichne. Das Valley präsentiert sich als Anbieter von Lösungen für jegliche Probleme, die der Kapitalismus verursacht hat. Ab den 2010er Jahren präsentierte es solche vermeintlichen Lösungen in Gebieten wie Gesundheitswesen, Bildung, Verkehr, für praktisch alle Lebensbereiche. Lange Zeit nahm die Öffentlichkeit diese Lösungen ohne Widerspruch hin. Es wurde nicht erkannt, dass es sich dabei lediglich um eine weitere Form von Privatisierung und Marktorientierung handelte, die nun als »Digitalisierung« oder »Innovation« verpackt wurden.
In dieser neuen Phase des Kapitalismus, die ich als »organischen Kapitalismus« bezeichne, wird Politik über den Markt betrieben. Die Idee dabei ist, alles – seien es Plattformen oder andere marktbasierte Institutionen – der Logik von Rentabilität und Akkumulation zu unterwerfen, um damit viele der vom Kapitalismus verursachten Probleme zu lösen. Aus diesem Grund hat das Weltwirtschaftsforum in Davos in den letzten zehn Jahren die Realität des Klimawandels und anderer globaler Probleme explizit anerkannt. Ihr Lösungsvorschlag besteht allerdings darin, privates Kapital als Gegenmittel zu mobilisieren. Dabei lassen sie nicht-marktwirtschaftliche Institutionen völlig außen vor und betrachten die kapitalistische Wirtschaft als die einzige, ultimative Problemlöserin.
Dieser strukturelle Wandel kann leicht übersehen werden, wenn man eine konventionellere Periodisierung zugrunde legt. Ich halte es für wichtig, an dieser Stelle zu erwähnen, dass diese Entwicklung nicht zu einer Auszehrung der Finanzwelt oder der Finanzindustrie geführt hat. Vielmehr würde ich behaupten, dass sie zu einer interessanten Verflechtung zwischen Wall Street und Silicon Valley geführt hat. In gewisse Weise sind sie unterschiedliche Seiten derselben »organisch-kapitalistisch-solutionistischen« Medaille.
»Wenn man die Debatten der letzten Monate in den USA verfolgt, stellt man fest, dass die Demokratie, wie wir sie verstehen, in diesen Zukunftsvisionen nicht vorkommt.«
Das Silicon Valley präsentiert sich also als Anbieter von Lösungen. Doch für diese Lösungen, insbesondere wenn sie auf künstlicher Intelligenz basieren, braucht es erhebliche Kapitalinvestitionen. Allein in diesem Jahr belaufen sich die Ausgaben für Forschung und Entwicklung sowie die Investitionsausgaben der führenden Tech-Unternehmen auf etwa 250 Milliarden Dollar. Ein gewisser Teil dieser Mittel kommt aus ihren beträchtlichen Liquiditätsreserven, ein erheblicher Teil jedoch aus Deals mit ungenutztem Kapital aus den Golfstaaten – Katar, den Vereinigten Arabischen Emiraten und Saudi-Arabien. Und ein weiterer Teil stammt aus privaten Kreditmärkten, einem zunehmend wichtigen, aber wenig erforschten Segment der Weltwirtschaft. Diese Märkte umgehen das traditionelle Finanzsystem und beziehen neue Akteure ein, die nicht mit Private Equity oder Risikokapital vergleichbar sind.
Beispiel Facebook: Dort verfügt man über reichlich Barmittel, nutzt aber dennoch private Kreditmärkte. Das Unternehmen hat kürzlich angekündigt, 22 bis 28 Milliarden Dollar für den Bau neuer Rechenzentren einwerben zu wollen. Dies ist eine bedeutende Veränderung, die aber auch zu neuen Anfälligkeiten und Risiken führt. Wir müssen verstehen, dass Finanzen und Technologie nicht voneinander getrennt sind: Sie verstärken sich gegenseitig, und der Aufstieg der Tech-Hegemonie ist eng mit der weiterhin bestehenden Relevanz der Wall Street verbunden, insbesondere mit neuen Akteuren im Bereich Privatkredite.
Eines der strukturellen Merkmale dieser neuen Landschaft ist der Niedergang börsennotierter Unternehmen und des Aktienmarktes als Mittel zur Disziplinierung von Kapitalisten. Diese werden nun durch private Entscheidungsprozesse ersetzt, die in von Asset-Managern geführten Organisationen, aber auch von neuen Akteuren im Bereich Privatkredite stattfinden. Dies schafft eine Reihe neuer Schwachstellen, die wir berücksichtigen müssen.
Letztendlich hat all dies auch eine bedeutende ideologische Komponente. Das Silicon Valley, verkörpert durch Persönlichkeiten wie Elon Musk und Peter Thiel, hat die Vorstellung davon geprägt, wie Zukunft und Fortschritt aussehen. Sie zwingen (oder versuchen dies zumindest), linke Bewegungen und politische Parteien, eine alternative Zukunftsvision zu entwickeln. Es wäre ein Fehler, wenn man diese neuen Akteure lediglich als Anbieter von Lösungen betrachtet, und nicht zusätzlich als Quelle wirkmächtiger Visionen über die Zukunft der Politik und des gesellschaftlichen Lebens.
Wenn man die Debatten der letzten Monate in den USA verfolgt, stellt man fest, dass die Demokratie, wie wir sie verstehen, in diesen Zukunftsvisionen nicht vorkommt. Es wird demnach weiterhin ein gewisses öffentliches Leben und bestimmte Formen des Zusammenlebens geben, aber all dies wird hypertechnologisiert sein – unterstützt und vermittelt durch Reputations- und Ratingsysteme, Ortungsgeräte, Gesichtserkennung, Drohnen und was auch immer diese Unternehmen sonst noch entwickeln. Das wird nicht mehr den traditionellen demokratischen Formen des Zusammenlebens ähneln. Diese ideologischen Hintergründe müssen wir im Kopf behalten, wenn wir verstehen wollen, wie dieses neue System sich selbst zu legitimieren versucht.
Vielleicht sollte ich hier erst einmal schließen, und wir können später auf einige dieser Punkte zurückkommen.
Vielen Dank. Ich würde aber gerne ein paar Rückfragen stellen. Meinst Du, dass diese neuen Kräfte mit den durch sie verursachten Anfälligkeiten und neuen Krisen Schritt halten können? Oder besser: Werden sie der allgemeinen Entwicklung einen Schritt voraus sein, oder siehst Du eine Katastrophe auf uns zukommen?
EM: Naja. Wir haben jetzt schon fünf oder sechs Jahrzehnte lang eine Katastrophe erlebt, oder? Und in den letzten zwei oder drei Jahrzehnten wohl in einer noch viel intensiveren Form. Aber ich sehe nicht, dass die Kapitalisten die Kontrolle oder den Überblick verlieren, wenn Du das meinst. Ja, uns steht eine sehr turbulente Zeit bevor, aber ich sehe keine wirklich konkurrierende Kraft am Horizont, die den Kapitalisten die Kontrolle entreißen könnte. In dieser Hinsicht denke ich auch, dass die Hinwendung zu KI in den letzten Jahren, vor allem in den vergangenen zwölf Monaten, die kapitalistische Fantasie auf eine Weise wiederbelebt hat, wie wir es schon lange nicht mehr gesehen hatten.
Es wurde viel brachliegendes Kapital mobilisiert, das vorher in Immobilien oder reine Finanzspekulationen geflossen ist. Sogar Unternehmen, die zunächst eher verhalten waren, wie Apple, haben massiv eigene Aktien zurückgekauft; da wurden etwa 110 Milliarden Dollar für Aktienrückkäufe ausgegeben – aber nur etwa 30 Milliarden für Forschung und Entwicklung. Man kann gut sehen, wie sehr das Apple geschadet hat: Die Ausgaben des Unternehmens waren weitaus geringer als die von Konkurrenten wie Google und Amazon – und die beiden Letztgenannten schneiden jetzt im KI-Rennen sehr viel besser ab.
»Diese Unternehmen haben ein kohärentes Narrativ aufgebaut, obwohl das ganze Unterfangen nüchtern betrachtet höchst irrational und verschwenderisch ist – denn im Grunde entwickeln alle diese Konzerne ja die gleiche Art von Funktionen.«
Es ist offensichtlich so, dass Kapitalinvestitionen getätigt werden, die durch das Versprechen der KI getrieben sind, dass sie Kosten senken und neue Gewinnquellen erschließen wird. Es handelt sich hierbei nicht um fiktives Kapital. Diese Investitionen verschaffen den Unternehmen – und der Allianz zwischen der Wall Street und dem Silicon Valley – weitere fünf oder sieben Jahre, wenn nicht sogar mehr, in denen sie viel Geld verbrennen können. OpenAI zum Beispiel rechnet erst 2029 oder 2030 mit Gewinnen. Da werden -zig, wenn nicht sogar hunderte Milliarden verpulvert. Tatsächlich geben sie schon jetzt so viel aus und werden noch eine Weile lang jedes Jahr dutzende Milliarden an Verlusten einfahren. Doch sie überzeugen sowohl die Regierungen, die sie beim Bau von Rechenzentren stark subventionieren, als auch privates Kapital via Fonds. Diese Unternehmen haben ein kohärentes Narrativ aufgebaut, obwohl das ganze Unterfangen nüchtern betrachtet höchst irrational und verschwenderisch ist – denn im Grunde entwickeln alle diese Konzerne ja die gleiche Art von Funktionen.
In diesem Sinne beobachten wir rationales Handeln innerhalb des aktuellen kapitalistischen Rahmens, und das wird wahrscheinlich fünf bis sieben Jahre lang so weiter funktionieren. In dieser Zeit könnte sich aber die politische Lage deutlich verschlechtern: Wenn es beispielsweise zu allgemeiner Unzufriedenheit mit den Rechenzentren und ihrem verschwenderischen Energieverbrauch kommt, könnten die Eliten in der Zukunft versuchen, diese eher mit Gewalt als mit dem Versprechen auf eine bessere Zukunft unter Kontrolle zu halten.
Cédric, möchtest Du darauf antworten und gegebenenfalls auch über das Konzept des Technofeudalismus sprechen?
CD: Gerne, aber ich möchte zunächst etwas zur Beziehung zwischen Wall Street und der Tech-Branche sagen. Ich stimme Morozov zu, dass es da starke Verbindungen gibt und dass die Tech-Branche Finanzkapital mobilisiert – öffentliches Kapital, Bankkapital, privates Kapital – und dass es im Finanzsektor erhebliche Veränderungen gibt. Das ist absolut richtig. Mein Punkt ist aber, dass der Finanzsektor etwas an Autonomie verloren hat, weil er immer mehr von Maßnahmen der Zentralbanken abhängig ist. Und diese Maßnahmen der Zentralbanken sorgen für mehr Spannungen, vor allem in Bezug auf die Inflation. Im Moment steigt die Inflation in den USA an, während gleichzeitig die Zentralbank die Zinsen senkt. Das heißt, es wird immer schwieriger, den Wert des Geldes zu erhalten und gleichzeitig die Stellung der Finanzwelt zu sichern. Ich denke, da gibt es große Probleme.
Auf der anderen Seite bietet der Tech-Sektor – und was Du gesagt hast, ist total richtig – die Sicht, das vor allem KI im weiteren Sinne und die damit verbundenen Prozesse den gesellschaftlichen Wandel vorantreiben, gerade mit Blick auf Investitionen und das ökonomische Verhalten. Die Veränderung ist meiner Ansicht nach also, dass die Finanzbranche nicht mehr der wichtigste Sektor ist, sondern dass die Tech-Branche die Führung übernimmt. Natürlich gibt es keine absolute Trennung zwischen den beiden. Alles ist organisch, aber Tech übernimmt gerade die Führungsrolle. In diesem Kontext habe ich die Hypothese des Technofeudalismus entwickelt.
Ich war überrascht, wie gut das Konzept angekommen ist. Ein wichtiger Moment, an den man sich erinnern sollte, war für mich im Januar, als die Tech-Chefs bei Trumps Amtseinführung dabei waren. Es war ein wirklich bemerkenswertes Bild: All diese CEOs sitzen in der ersten Reihe, nahe bei Trump. Und was macht der an seinem ersten Tag im Amt? Er beschließt, alle Vorschriften mit KI-Bezug auf Bundesebene zu streichen. Das war eine überaus bedeutende Entscheidung: jegliche Form staatlicher Aufsicht über den Bereich, in dem diese Unternehmen ihre ehrgeizigsten Pläne verfolgen und am meisten investieren, wurde effektiv ausgehebelt. Momente wie dieser verdeutlichen, worauf ich hinauswill.
»Diese Beispiele verdeutlichen, wie bedeutende Teile der staatlichen Macht in den Privatsektor verschoben werden. In diesem Sinne werden Unternehmen zu machtvollen politischen Akteuren – nicht abstrakt, sondern mit ganz konkretem Einfluss auf das gesellschaftliche Leben.«
Ich möchte einige Punkte klarstellen. Erstens bedeutet Technofeudalismus natürlich nicht, dass wir durch die Digitalwirtschaft in feudale Zeiten zurückversetzt werden. Darum geht es nicht. Ein großer und sehr wichtiger Unterschied besteht zum Beispiel darin, dass die Produktion im Mittelalter stark individualisiert war. Ja, die Bauern arbeiteten zwar für den Lehnsherrn, aber sie arbeiteten meist selbstständig, alleine. Heute leben wir in einem stark sozialisierten Produktionssystem: Alle Unternehmen sind voneinander abhängig. Man stelle sich nur vor, wie viele Menschen an den Produkten beteiligt sind, die wir gerade nutzen – eigentlich ist das völlig unvorstellbar. Es ist also eine ganz andere Welt als vor Jahrhunderten.
Allerdings gibt es Ähnlichkeiten in Bezug auf die Qualität der gesellschaftlichen Beziehungen. Ich würde sagen, eine der wichtigsten Parallelen zum Feudalismus ist die Abhängigkeit. Jeder von uns ist in seinem Alltag von Tech-Services abhängig. Ich scherze oft, dass meine Mutter wohl ohne Google leben könnte. Aber vor einem Monat hatte sie ein Problem mit ihrem Telefon und musste einen Nachbarn fragen und dann mich zur Hilfe rufen. Es war ein Notfall. Und es zeigte: Auch sie braucht inzwischen ein Smartphone. Selbst mit ihren 84 Jahren braucht sie Google. Wir alle sind davon abhängig. Und es sind nicht nur Einzelpersonen: Unternehmen, ganze Branchen und sogar Staaten sind auf die Dienste der großen Tech-Konzerne angewiesen.
Zum Beispiel hat das deutsche Innenministerium kürzlich einen Vertrag mit Amazon über dessen Cloud-Dienste abgeschlossen. Viele der großen europäischen Banken sind auf US-amerikanische Cloud-Services angewiesen. Die französische Staatsbahn hatte früher eine eigene Cloud, diesen Dienst inzwischen aber ebenfalls an Amazon ausgelagert. Der CEO des Energieunternehmens Total erklärte kürzlich, es sei ihm geradezu peinlich, geologische Daten in die USA übermitteln zu müssen, um nach Öl bohren zu können. Er vertraue auch nicht darauf, dass diese Daten angemessen geschützt würden.
Jedenfalls gibt es offensichtlich eine allgemeine Abhängigkeit, nicht nur bei Einzelpersonen, sondern in der gesamten Produktionsstruktur. Und von dieser Abhängigkeit profitieren einige sehr wenige Unternehmen. Es handelt sich um eine höchst asymmetrische Beziehung, die koloniale Dynamiken widerspiegelt: Es gibt ein Zentrum und eine Peripherie. Das wird Europa und viele andere Länder in Zukunft prägen.
Die zweite Parallele, die ich ziehen möchte, ist, dass es im Feudalismus immer eine Verbindung zwischen Politik und Wirtschaft gab. Auch kapitalistische Firmen mussten sich auf staatliche Entscheidungen verlassen. Natürlich gab es schon immer Lobbyarbeit, aber heute übernehmen die großen Tech-Unternehmen wichtige staatliche Aufgaben direkt. Ein Beispiel: Während der Pandemie hat Google Mobilitätsdaten öffentlich zugänglich gemacht, die zeigten, wie sich die Menschen in den Städten bewegten. 2023 wurde dieser Zugang aber gesperrt; die Daten sind wieder privat. Derart wichtige Daten, die mal öffentlich zugänglich waren, werden von Google kontrolliert. Das passiert auch bei vielen anderen Arten von Daten.
Ein weiteres Beispiel ist, wie Tech-Plattformen inzwischen die öffentliche Debatte prägen. Die Algorithmen von Facebook und Twitter strukturieren das politische Leben auf eine Weise, die alles andere als neutral ist. Früher wurde dies hauptsächlich vom Staat reguliert, aber heute hat er die Kontrolle über diesen Bereich abgegeben. Es gibt auch eine Debatte über Geld: Weil das Vertrauen in den Dollar sinkt, beginnen Unternehmen wie Amazon, X/Twitter und Walmart, ihre eigenen Coins auszugeben. Wenn das passiert, wird die Fähigkeit des Staates eingeschränkt, die Wirtschaft zu steuern und makroökonomische Maßnahmen effektiv umzusetzen.
»Technofeudalismus eine mögliche Entwicklung, die sich gerade im Westen zu vollziehen scheint. In China hingegen ist es anders: Der Staat dort lässt nicht zu, dass Firmen den politischen Prozess kontrollieren und die Gesellschaft dominieren. Die Entwicklung ist also nicht zwangsläufig, sondern das Ergebnis gewisser politischer Entscheidungen.«
Diese Beispiele verdeutlichen, wie bedeutende Teile der staatlichen Macht in den Privatsektor verschoben werden. In diesem Sinne werden Unternehmen zu machtvollen politischen Akteuren – nicht abstrakt, sondern mit ganz konkretem Einfluss auf das gesellschaftliche Leben. Ich würde sagen, dass dieses Verhalten und diese Position sie ermächtigen, auf Raubzug zu gehen und Renten einzutreiben. Es ist ein Nullsummenspiel, das an feudale Zeiten erinnert. Denn das Verhalten zwischen Lehnsherren im Feudalismus war ein ebensolches Nullsummenspiel: Was der Eine erhält, verliert der Andere. Die Big-Tech-Firmen sind aktuell in einem ähnlichen Wettstreit und bauen dabei ihre Macht im gesamten gesellschaftlichen Bereich weiter aus.
Es ist wichtig zu erwähnen, dass diese Firmen – wie Evgeny schon gesagt hat – wirklich viel Geld investieren. Es ist aber eine Dynamik, die nur auf diesen Sektor beschränkt ist: Während außerordentlich viel Geld in die Tech-Branche fließt, kommen andere Bereiche zu kurz. Es gibt keinen allgemeinen Investitionsboom. Vielmehr wird weniger in öffentliche Dienstleistungen, Produktionskapazitäten, Infrastruktur und Wohnraum investiert – also in Dinge, die für den Alltag wirklich wichtig sind. In diesem Sinne ist es eine echte Raubtier-Dynamik. Dementsprechend denke ich, dass Technofeudalismus nicht nur ein abstraktes Konzept ist, sondern ein Trend, der jeden Tag mehr und mehr Realität wird.
Dazu noch eine letzte kurze Anmerkung: Ich sage nicht, dass Technofeudalismus unvermeidlich ist. Er ist eine mögliche Entwicklung, die sich gerade im Westen zu vollziehen scheint. In China hingegen ist es anders: Der Staat dort lässt nicht zu, dass Firmen den politischen Prozess kontrollieren und die Gesellschaft dominieren. Die Entwicklung ist also nicht zwangsläufig, sondern das Ergebnis gewisser politischer Entscheidungen. Es bleiben aber nach wie vor andere Wege im Umgang mit Technologie, die eingeschlagen werden können.
Evgeny, möchtest Du darauf antworten – auch mit Blick auf das alternative Modell in China?
EM: Also, zunächst müssen wir uns bewusst sein, dass es viele Theorien und Erklärungen gibt, die sich teilweise überschneiden und konkurrieren, mit denen Technofeudalismus und Neofeudalismus erklärt werden können. Cédrics Version ist wahrscheinlich die differenzierteste und hat nicht den Anspruch, dieultimative oder einzige Erklärung dafür zu sein, was den Wandel im Kapitalismus antreibt. In seinem Verständnis ist [Technofeudalismus] einer der Erklärungsansätze, der Dynamiken wie Finanzialisierung und Globalisierung ergänzt, die ebenfalls erklären können, was gerade vor sich geht.
Daneben gibt es populistischere Denkansätze, von denen der bekannteste der von Yanis Varoufakis ist. Seine Thesen sind sehr viel absoluter und definitiver. Für ihn ist der Kapitalismus 2008 gestorben und an seiner Stelle entstand ein neues System, bei dem Profit durch Rente ersetzt wird. Das ist eine populistischere Auslegung des Technofeudalismus.
Ich vertrete eine Position, die einen Mittelweg zwischen diesen extremeren populistischen Darstellungen und differenzierteren Ansätzen einnimmt. Meine spontane Reaktion auf Cédric ist: Ich habe das Gefühl, er scheint zu implizieren, dass eine Theorie des Kapitalismus bei Marx und im Marxismus im weiteren Sinne auch eine Theorie des Staates ist oder beinhaltet – eine Theorie darüber, welche Form der Staat haben und welche Funktionen er erfüllen sollte. Vielleicht wäre das der Inhalt des fehlenden Bandes gewesen, den Marx über den Staat schreiben wollte, aber diesen Band gibt es eben nicht.
Wie ich Das Kapital verstehe, ist eine Theorie des Kapitalismus agnostisch in Bezug auf die Form des Staates und die genaue Aufteilung von Arbeit zwischen Markt und Staat. Es ist interessant, dass einige Unternehmen jetzt Funktionen übernehmen, die früher vom Sozialstaat – oder davor von Wohltätigkeitsorganisationen oder noch früher von privaten Wohltätern wie den Medici – erfüllt wurden. Das allein sagt uns aber nicht wirklich, ob wir im Kapitalismus oder im Feudalismus leben. Es zeigt lediglich, dass es eine gewisse Flexibilität gibt, wie verschiedene Bedürfnisse, zum Beispiel im Bereich der Reproduktion, im Rahmen des kapitalistischen Staates erfüllt werden können.
Nach meiner Theorie und Periodisierung ist es nichts Ungewöhnliches, dass immer mehr Regierungen Verantwortung abgeben. Tatsächlich geben Regierungen gerne Verantwortung in Bereichen wie Gesundheitswesen, Bildung und Geldschöpfung an den privatwirtschaftlichen Sektor ab, gerade auch an das Silicon Valley. Letztendlich sehe ich darin eine Möglichkeit für Regierungen, mehrere Ziele gleichzeitig zu erreichen. Eines dieser Ziele ist es, Bedingungen für die kapitalistische Akkumulation zu schaffen und aufrechtzuerhalten, damit Unternehmen trotz aller systemischen Probleme des Kapitalismus weiter wachsen können. Und zum Teil ist es auch ein Weg, um Bedürfnisse in Sachen Polizeiarbeit, Gesundheitswesen und so weiter zu erfüllen.
»Seit fast einem Jahrhundert sind die Vereinigten Staaten die Hegemonialmacht, und dieser Rahmen war bisher entscheidend für das Verständnis des globalen Systems. Indem der Technofeudalismus diese Sichtweise durch eine ersetzt, die sich auf die Machtverteilung zwischen Staaten und Unternehmen konzentriert, übersieht er einen wichtigen Aspekt des gesamt-globalen Systems.«
Wenn also ein Unternehmen in die Rüstungsindustrie oder den Polizeisektor einsteigt, ist das kein Eingriff in die Vorrechte des Staates. Es ist in gewisser Weise sogar eine Möglichkeit, die Reichweite des Staates zu vertiefen – vielleicht wird dann auf etwas andere Weise gearbeitet, aber immer noch unter Einbeziehung des Staates und seiner Institutionen.
Mein Problem mit der Technofeudalismustheorie ist, dass sie andere Rahmenkonzepte, einschließlich derjenigen innerhalb des Marxismus, indirekt an den Rand drängt oder als weniger relevant ansieht. Insbesondere neigt sie dazu, Fragen im Zusammenhang mit Imperialismus und der Dynamik zwischen der Hegemonialmacht und dem Rest der Welt zu übersehen. Seit fast einem Jahrhundert sind die Vereinigten Staaten die Hegemonialmacht, und dieser Rahmen war bisher entscheidend für das Verständnis des globalen Systems. Indem der Technofeudalismus diese Sichtweise durch eine ersetzt, die sich auf die Machtverteilung zwischen Staaten und Unternehmen konzentriert, übersieht er einen wichtigen Aspekt des gesamt-globalen Systems.
Ich denke, wir haben einiges davon von Cédric gehört, dessen Analyse darauf basiert, zu verstehen, wie sich das Machtgleichgewicht zwischen Staaten und Regierungen sowie zwischen Staaten und Unternehmen verschiebt. Dieser Ansatz ist okay, aber er übersieht, dass nicht alle Staaten im aktuellen globalen System gleich sind. Vor allem die USA sollten mit ganz anderen Instrumenten analysiert werden, weil sie nach wie vor die Hegemonialmacht sind. Die USA geben den Ton an, nachdem der Rest der Welt – vielleicht mit der Ausnahme Chinas – zu tanzen hat.
Also ja, wir können über die Privatisierung von Geld, beispielsweise den Aufstieg von Stablecoins reden. Aber wenn man sich das US-Gesetz »Guiding and Establishing National Innovation for Stablecoins« (GENIUS) anschaut, das dieses Jahr verabschiedet wurde, wird klar, was die Trump-Regierung mit Stablecoins vorhat: Ihr Ziel ist es, die Vorherrschaft des Dollars zu sichern und jegliches Infragestellen der Leitwährung zu verhindern. Heute wird mehr Handel in anderen Währungen abgewickelt; die BRICS-Staaten haben einiges unternommen, um den US-Dollar als Leitwährung zu attackieren. Vor diesem Hintergrund will die Trump-Regierung im Kryptobereich sicherstellen, dass alles in der Kryptowelt, einschließlich Stablecoins, durch US-Staatsanleihen oder den US-Dollar gedeckt ist. Das ist eine clevere Methode, um die Finanzhegemonie der USA zu bewahren. Letztendlich handelt es sich somit um ein staatlich gelenktes sowie mit Blick auf den Staat durchgeführtes Projekt.
»Die Abhängigkeit von Technologie ist systemisch: Es ist nicht so, dass die Menschen persönlich von Google abhängig sind. Vielmehr wird in der modernen Gesellschaft erwartet, dass man online präsent ist.«
In diesem Sinne fällt es mir schwer, die aktuellen Ereignisse zu betrachten und dabei von einem Technofeudalismus zu sprechen, der nicht einmal die Existenz des modernen Staates mit all seinen Dynamiken und konkurrierenden Interessen voraussetzt. Wenn wir im Gegensatz dazu an den traditionellen Feudalismus denken, so gab es damals tatsächlich nicht die Art von Staat, die wir heute haben.
Ein weiteres Problem, das ich mit Technofeudalismus habe, ist, dass aufgrund des populistischen Ansatzes, den Leute wie Varoufakis ihm gegeben haben, Themen personalisiert werden, die man eigentlich aus einer systemischen Perspektive betrachten sollte. Ich denke, das hört man auch ein bisschen in Cédrics Bemerkungen, wenn er uns erzählt, dass seine Mutter von Google abhängig ist, und das mit der Abhängigkeit der Bauern von ihren Feudalherren vergleicht. Ich würde hingegen sagen, dass dies eine ganz andere Art von Abhängigkeit ist.
Die Abhängigkeit von Technologie ist systemisch: Es ist nicht so, dass die Menschen persönlich von Google abhängig sind. Vielmehr wird in der modernen Gesellschaft erwartet, dass man online präsent ist. Man braucht beispielsweise immer häufiger ein Online-Profil, um sich auf eine Stelle zu bewerben. Andernfalls kann man praktisch nicht am modernen Leben teilhaben. Das liegt nicht daran, dass Eric Schmidt oder Steve Jobs die Menschen dazu zwingen würden, sondern an einem systemischen Druck, der eine unsichtbare Kraft ausübt.
Die dadurch entstandene Abhängigkeit ähnelt stark der Abhängigkeit von Arbeitern, die ihre Arbeitskraft verkaufen müssen. Die Triebkraft dahinter ist der kapitalistische Wettbewerb – und nicht die persönliche Abhängigkeit von einem Feudalherren, bei der man buchstäblich von jemandem mit einem Gewehr oder einem Schwert in der Hand gezwungen wurde, etwas zu tun.
Ich sehe also nicht, dass eine Diskussion über Abhängigkeit uns zwangsläufig dazu führen sollte, sie als eine Spielart des Feudalismus zu begreifen. Der Druck ist systemisch, nicht persönlich bedingt. Dies ist eine der vielen Nuancen, die mich zu der Überzeugung bringen, dass es hilfreich wäre, die Diskussion in den Kontext der Dynamik des Kapitalismus zu stellen. Dann können wir vielleicht besser verstehen, was vor sich geht.
Zum Schluss möchte ich noch kurz auf einen wichtigen Teil von Cédrics Argumentation hinweisen, auf den er gerade noch nicht genauer eingehen konnte. Es geht dabei darum, wie geistiges Eigentum und systemische Faktoren wie Kontrolle über Lieferketten es Tech-Unternehmen wie Amazon und Google ermöglichen, politische Macht so auszuüben, dass sie vor dem Druck geschützt sind, dem kapitalistische Unternehmen normalerweise ausgesetzt sind. Es geht demnach also nicht mehr um den klassischen Druck auf das Kapital; es geht um die Fähigkeit, Rechtslücken beim geistigen Eigentum auszunutzen oder strukturelle Macht auszuüben, die nicht aus dem reinen marktbasierten Wettbewerb kommt. Dadurch können diese Kapitalisten ihre Akkumulation weiter ausbauen.
»Die Kapazitäten und die Leistungsfähigkeit des Staates haben sich in den vergangenen Jahren auf ziemlich überraschende Weise stark verändert. Diese Veränderung stellt die Position des Staates an sich infrage.«
Ich hoffe, ich habe diesen Punkt richtig zusammengefasst. Ich stimme mit Cédric insofern nicht überein, als ich glaube, dass es letztendlich die schiere Masse an Kapital ist, die für Attacken auf diese Großunternehmen notwendig sind, die verhindert, dass sie angegriffen werden können. Wenn aber jemand bereit ist, dieses Kapital zu mobilisieren und alle damit einhergehenden politischen Kämpfe zu überstehen, kann er Erfolg haben. Genau das haben wir in den letzten Jahren bei Elon Musk gesehen: Musk hatte beschlossen, dass er ein wichtiger Akteur im Bereich KI sein will, und hat deswegen ein Unternehmen namens xAI gegründet, 20 Milliarden Dollar reingepumpt und dieses Kapital verbraten. Er hat die besten Leute angeheuert und in nur drei Monaten den ausgeklügeltsten Supercomputer gebaut, wofür Fachleute eigentlich zwei Jahre veranschlagt hatten.
Heute ist xAI ein Konkurrent von OpenAI, Claude und Gemini. Was auch immer man über Musk sagen möchte, dies ist ein klassisches Beispiel dafür, wie ein Kapitalist Kapital mobilisiert, es klug einsetzt und Engpässe wie das Eigentumsrecht, Lieferketten und anderes umgeht, was Unternehmen wie Google oder Amazon scheinbar unzerstörbar gemacht hat. Musks Unternehmen zwingt OpenAI und andere dazu, ihre Preise zu senken. Denn sein Grok kann KI jetzt zu einem deutlich günstigeren Preis anbieten.
Für mich ist das ein klassisches Beispiel dafür, wie ein Kapitalist in eine Branche einsteigt, indem er genug Kapital mobilisiert. Klar, man kann mit geistigem Eigentum und Patentrecht Barrieren aufbauen, und klar, man kann politische Macht nutzen, aber am Ende ist Kapital immer noch der Maßstab und das Kriterium, an dem man Erfolg misst. In diesem Sinne glaube ich nicht, dass wir uns von der Logik des Kapitals entfernt haben, die die kapitalistische Wirtschaft seit ein, zwei Jahrhunderten leitet.
Cédric, da gibt es viel zu besprechen. Erstens ist das Nichtvorhandensein eines Staates im Feudalismus ein Problem für die Technofeudalismus-Analogie. Im reinen Feudalismus lag die Souveränität beim Lehnsherrn, doch als dann der absolutistische Staat entstand, begann der Feudalismus zu verschwinden. Zum Beispiel gab es immer mehr freie Städte. Wie würdest Du also Deine Analogie rechtfertigen, wenn es doch im Feudalismus keinen Staat gab oder gibt? Zweitens: Braucht es als Erklärung überhaupt den Feudalismus? Wir haben doch schon diverse Formen kapitalistischer Abhängigkeit. Und: Wenn der Verweis auf Feudalismus eher als rhetorisches Mittel eingesetzt wird – vielleicht eher von Leuten wie Mélenchon oder Yolanda Díaz als von dir –, findest du, dass er als rhetorischer Kniff funktioniert? Müssen wir den neuen Tech-Kapitalisten nicht eher mit einer Zukunftsvision begegnen, anstatt die Schrecken der Vergangenheit heraufzubeschwören?
CD: Ja, da gibt es einiges zu sagen. Ich möchte mich auf die beiden von Dir angesprochenen Punkte beschränken.
Zuerst zum Staat: Das ist selbstverständlich ein sehr wichtiges Thema. Und ich achte immer darauf, dass ich von einem Trend hin zum Technofeudalismus spreche. Ich behaupte nicht, dass wir bis 2008 im Kapitalismus waren und dann plötzlich zum Feudalismus übergegangen sind. Genauso wenig waren wir bis zum 19. Jahrhundert im Feudalismus und dann innerhalb von ein, zwei Jahren plötzlich im Kapitalismus. Das sind lange Prozesse. Die Veränderungen in der Produktionsweise passieren nicht über Nacht, sondern nach und nach.
Ich will vielmehr sagen, dass sich die Kapazitäten und die Leistungsfähigkeit des Staates in den vergangenen Jahren auf ziemlich überraschende Weise stark verändert haben. Diese Veränderung stellt die Position des Staates an sich infrage. Ich möchte auch betonen, dass ich trotz des Trends zum Technofeudalismus nicht glaube, dass dieser erfolgreich vollzogen wird. Denn wir können sehen, dass die Tech-Giganten nicht in der Lage sind, ihren eigenen internen Wettbewerb angemessen zu steuern.
Die Rolle des Staates im Kapitalismus besteht darin, den Wettbewerb zwischen Kapitalisten zu regulieren. Ohne die Vermittlung durch den Staat gibt es keine Möglichkeit, diesen Wettbewerb zu ordnen. Und nun haben wir eine Schwächung der Leistungsfähigkeit des Staates, diesen Wettbewerb zu moderieren. Die neuen Kapitalisten ändern die Regeln selbst und erlangen damit eine gewisse Art von Souveränität. Evgeny betont zu Recht die internationale Dimension dieser Entwicklung. Der US-amerikanische Staat ist definitiv an dieser Dynamik beteiligt, aber ich bin mir nicht sicher, ob er durch den Versuch, die Vorherrschaft der USA mithilfe des Tech-Sektors auszubauen oder aufrechtzuerhalten, nicht auch seine eigene Handlungsfähigkeit als autonomer Staat verliert.
Sprechen wir in dieser Hinsicht nochmal über den Dollar als Leitwährung. Das Ziel der US-Regierung bei all ihren Bemühungen, die Vorherrschaft des Dollars zu halten, ist klar. Trotz der Widersprüche versuchen sie, ihre Kontrolle zu behalten – unter anderem durch die Einführung von Stablecoins. Andererseits wissen wir, dass Stablecoins finanzielle Instabilität verursachen werden. Sie werden nicht so zuverlässig sein wie traditionelle Währungen. Wenn mehr Stablecoins auf den Markt kommen, werden einige große Unternehmen wie Amazon mehr davon haben als andere, und die Währungen dieser Unternehmen werden dann gegenüber anderen bevorzugt werden. An diesem Punkt erleben wir den Aufstieg einer Art autonomer Währungsmacht – einer ökonomischen Macht außerhalb der Kontrolle des Staates. Das ist die Art von Entwicklung, die ich im aktuellen System angelegt sehe.
Zum zweiten Punkt, der Rhetorik: Ich bin auf die Technofeudalismus-Hypothese gekommen, weil ich die Probleme verstehen wollte, die durch Globalisierung, Finanzialisierung, Stagnation und so weiter entstanden sind. Ich wollte das irgendwie einordnen. Ich habe mich verstärkt mit dem strukturalistischen Denken über die Kombination gesellschaftlicher Beziehungen beschäftigt. Das hat mir geholfen, mir vorzustellen, ob und wie wir eine Neugestaltung von solchen Beziehungen erleben. Das war bis dahin also rein analytisch.
Natürlich war mir die potenzielle rhetorische Wirkkraft des Begriffs »Technofeudalismus« bewusst. Ich habe die Vor- und Nachteile abgewogen, diesen Begriff zu verwenden. Ich denke, die Vorteile sind riesig. Es gibt vier wesentliche Vorteile, die ich hier hervorheben möchte.
Der erste Vorteil ist einfach, dass man klar macht, dass der Kapitalismus nicht für immer da sein wird. Der Kapitalismus hat eine Geschichte und seine Form ändert sich. Wir bewegen uns auf eine Art Ende des Kapitalismus zu. Der Prozess, den Marx analysiert hat – das Gesetz der Kapitalakkumulation – bedeutet, dass wir umso abhängiger voneinander werden, je mehr Kapital sich ansammelt, und dass die Mittel zur Kontrolle oder Organisation des Arbeitsprozesses umso größer werden. Wir sind gerade in diesem Prozess. Big Tech, intellektuelle Monopolisierung und die Zentralisierung von Wissen sind ein extremes Beispiel für Zentralisierung. Ich finde es wichtig, das zu betonen, weil es uns hilft, die Grenzen der kapitalistischen Logik zu erkennen und zu sehen, wohin wir uns bewegen.
»Der Staat ist als Schlachtfeld zu verstehen: Wir haben viele Stellungen räumen müssen und verloren, aber in der Vergangenheit konnten wir auch einige erobern und Siege erringen. Es ist also ein Kampfgebiet.«
Der zweite Vorteil, der einen Benjamin’schen Beigeschmack hat, besteht darin, hervorzuheben, dass diese historische Entwicklung nicht unbedingt einen Fortschritt darstellt. In den 1990er Jahren herrschte großer Optimismus in Bezug auf Technologie. Der Begriff »Technofeudalismus« erinnert uns hingegen daran, dass diese technologische Entwicklung auch regressiv sein kann. Sie könnte Ungleichheiten verstärken, die Demokratie schwächen und die persönlichen Freiheiten untergraben.
Der dritte Punkt bezieht sich auf die Strukturierung der Weltwirtschaft. Was oft nicht diskutiert wird, ist, dass die Entwicklung des Technologiesektors und die wachsende Abhängigkeit unserer Volkswirtschaften von diesen Diensten zu einer Kolonialisierung Europas führt. Nicht nur Lateinamerika und Afrika sind Peripherien – auch Europa ist inzwischen Peripherie. Die Rechnungen, die wir an diese Technologieunternehmen zahlen, steigen jedes Jahr rapide an, siehe Cloud-Investitionen und ähnliche Dienste, die Unternehmen und Gesellschaften immer mehr kosten. Es findet eine Art ungleicher Austausch statt. Die Bezeichnung dieser Beziehungen als »Technofeudalismus« hilft, die Notwendigkeit einer Anti-Technofeudalismus-Front zu verdeutlichen. Und ich denke, dieses Konzept trägt auch dazu bei, Debatten über digitale Souveränität neu zu beleben.
Viertens zeigt die Auseinandersetzung mit Technofeudalismus auch die schwindende Handlungsfähigkeit der Staaten. Die Tatsache, dass die großen Tech-Unternehmen Funktionen übernehmen, die früher vom Staat wahrgenommen wurden, ist von entscheidender Bedeutung. Wenn Staaten nicht mehr in der Lage sind, die Infrastruktur, die Erstellung von Statistiken oder ihre eigenen Verwaltungsprozesse zu kontrollieren, wirft das ernsthafte Fragen darüber auf, wie wir uns sozialistische Politik vorstellen können, die von einer demokratischen Regierungsführung auf staatlicher Ebene getragen wird.
Ich betone das, weil ich die existenzielle Bedrohung hervorheben möchte, dass sozialistische Politik nicht mehr über den Staatsapparat betrieben werden kann. Denn ohne die Fähigkeit des Staates, derartige Dinge zu kontrollieren, ist es schwer vorstellbar, dass es irgendeine Art von auf staatlicher Macht aufbauendem sozialistischem Projekt geben könnte.
Glaubst Du also, dass der Staat als Instrument für sozialistische Politik unwiederbringlich verloren ist?
CD: Nein, die Macht des Staates kann zurückkehren. Ich bin da sogar sehr optimistisch. Ich denke, der Staat ist als Schlachtfeld zu verstehen: Wir haben viele Stellungen räumen müssen und verloren, aber in der Vergangenheit konnten wir auch einige erobern und Siege erringen. Es ist also ein Kampfgebiet. So etwas wie eine endgültige, ewige Niederlage gibt es nicht.
Evgeny, wir haben heute Abend vor allem über das Kapital in seinen diversen Formen gesprochen. Nun hat Cédric die Themen Arbeiterschaft und Sozialismus eingebracht. Möchtest Du dort anknüpfen?
EM: Gern. Ich möchte ein paar Sachen anmerken und direkt auf das eingehen, was Cédric gesagt hat. Ich habe wirklich Probleme, die Entwicklung von Big Tech von, sagen wir, Ende 2016 bis 2025 zu betrachten und zu denken, dass die Unternehmen irgendwie unabhängiger vom Staat geworden sind oder mehr Macht angesammelt haben, um eigenständig zu handeln.
Ich erinnere daran, dass Sergey Brin, der Mitbegründer von Google, einst zum Flughafen von San Francisco fuhr, um gegen das Einreiseverbot für Menschen aus muslimischen Ländern von der frisch gewählten ersten Trump-Regierung zu protestieren. Das ist ein bedeutender Tech-Milliardär, jemand aus dem Silicon Valley. Dass eine solche Person im Jahr 2025 so handeln würde, ist völlig undenkbar. Heute würde Sergey Brin wahrscheinlich Produkte und Dienste anbieten, um Menschen möglichst effizient zum Flughafen zu fahren, damit sie abgeschoben werden können.
»Alles, was Marx uns über Kapitalisten sagt, zeugt davon, dass sie kurzsichtig sind und eben nicht rational darüber nachdenken, den Kapitalismus als System aufrechtzuerhalten. Stattdessen folgen sie ihrer eigenen Logik der Gewinnerzielung.«
In diesem Sinne würde ich sagen, dass sich die Branche, einschließlich Mark Zuckerberg – der übrigens in der ersten Amtszeit ebenfalls äußerst ablehnend gegenüber Trump eingestellt war – vollständig den Wünschen und Anforderungen der zweiten Trump-Regierung beugt. Ich verstehe zwar das hypothetische Potenzial von Jeff Bezos, Stablecoins zu schaffen, wodurch der Federal Reserve Macht entzogen werden könnte, aber in Wirklichkeit hat Bezos als Eigentümer der Washington Post vor einigen Monaten gesagt: »Wir werden alle unsere liberalen, linksgerichteten Kolumnisten entlassen und uns nur noch auf die Diskussion über freie Märkte und Freiheit konzentrieren.« Das ist Jeff Bezos.
Und warum hat er das gemacht? Weil sich das Klima in Washington verändert hat. Tatsächlich – nicht hypothetisch – wurde das Silicon Valley gezähmt. Das liegt zum Teil daran, dass sich die Machtverteilung innerhalb des Valleys verändert hat: Leute wie Peter Thiel, Marc Andreessen und viele andere, darunter auch Trumps Söhne, haben innerhalb der Branche viel mehr Einfluss gewonnen als während Trumps erster Amtszeit. Sie haben es geschafft, den Rest von Silicon Valley mitzureißen.
Aktuell würde ich also behaupten, dass sich das Silicon Valley größtenteils dem Trump-Projekt unterworfen und sich keinesfalls einseitig abgewendet oder verselbstständigt hat.
Darüber hinaus möchte ich noch einen weiteren Punkt ansprechen, der eher abstrakter Natur ist. Wenn ich Cédric zuhöre, habe ich das Gefühl, dass eine »kollektive Rationalität« der früheren Kapitalisten etwas idealisiert wird. Dass sie irgendwie stabile, rationale staatliche Institutionen schaffen wollten, die ihre eigenen Probleme lösen würden.
Es ist, als hätten sie beschlossen, dass sie eine unabhängige Statistikbehörde brauchen, die nicht von privatwirtschaftlichen Mächten korrumpiert wird. Und als diese Behörde dann da war, war das super, aber heute ist dieses Arrangement in Gefahr, weil was anderes ihren Platz eingenommen hat. Ich bin mir nur nicht sicher, ob ich diese idyllische Sichtweise glaube, dass Kapitalisten so weitsichtig waren und auf ideale staatliche Institutionen drängten, um ihre Probleme zu lösen. Alles, was Marx uns über Kapitalisten sagt, zeugt davon, dass sie kurzsichtig sind und eben nicht rational darüber nachdenken, den Kapitalismus als System aufrechtzuerhalten. Stattdessen folgen sie ihrer eigenen Logik der Gewinnerzielung. Manchmal gelingt es ihnen, Persönlichkeiten und Institutionen zu finden, die einige ihrer kollektiven Probleme lösen. Aber das ist selten. Meistens braucht es drastische Eingriffe oder Krisen, um sie zu einem Kurswechsel zu zwingen.
In diesem Sinne verstehe ich nicht, warum Kapitalisten etwas dagegen haben sollten, dass eine private Agentur die Koordinationsprobleme, beispielsweise beim statistischen Wissen, löst. Genau das passiert doch schon seit Jahrzehnten, siehe Standard & Poor’s, Bloomberg und viele andere, die Informationen kommerzialisiert anbieten – und kein einziger Kapitalist hat sich je darüber beschwert. Klar, man könnte sagen, dass Daten über den Straßenverkehr etwas anderes sind als Finanzmarktdaten, aber ich glaube nicht, dass es Kapitalisten interessiert, ob sie ihre Daten von Google Maps oder von irgendeiner staatlichen Kartografieagentur bekommen.
»Rhetorische Argumente über die Notwendigkeit, die Privatisierung oder Digitalisierung zu stoppen oder die ökologischen Kosten von Rechenzentren zu verringern, werden uns nicht dazu bringen, eine alternative Vision zu formulieren, die attraktiver ist als die Vision, die Silicon Valley vorgelegt hat.«
Mein Problem mit Theorien zum Technofeudalismus ist, dass sie bestimmte Eigenschaften und Merkmale sowohl auf Kapitalisten als auch auf den Staat projizieren, die meiner Meinung nach entweder nicht existieren, nur vorübergehend sind oder keine wesentlichen Kernmerkmale des Kapitalismus oder des kapitalistischen Staates darstellen. Ich denke, das führt zu einer Nostalgie für den produktiven Kapitalismus, der nach Ansicht der Neofeudalismus-Vertreter mittlerweile unproduktiv geworden ist. Ich kann mich dieser Argumentation nicht ganz anschließen.
Vielleicht habe ich überhört, was Cédric über Arbeit gesagt hat. Ich gehe gerne auf die Frage ein, aber was genau war der Einstieg in die Diskussion über Arbeit und Arbeiterklasse?
CD: Ich habe betont, dass die schwindende staatliche Leistungsfähigkeit und weniger Kompetenzen ein großes Problem für die Umsetzung sozialistischer Politik sind.
EM: Da stimme ich absolut zu. Wenn wir uns schon mit solchen hypothetischen Spekulationen beschäftigen, wäre es natürlich viel angenehmer, den Sozialismus von einer Position aus aufzubauen, wo der Staat demokratisch kontrolliert wird und nur teilweise von Kapitalisten kooptiert ist, als wenn wir über eine Ansammlung von privaten Lehensgütern reden – wie die Tech-Milliardäre sie auf Inseln aufbauen wollen; wo dann wirklich alles privatisiert ist. Sie haben ja auch schon versucht, private Städte in Honduras und anderswo aufzubauen. Es gibt also Blaupausen dafür, wie diese private Regierungsform umgesetzt werden können. Sie basieren auf den Ideen von Leuten wie Curtis Yarvin und anderen, die dieses Modell auf nationaler und globaler Ebene umsetzen möchten. Dann geht es nicht mehr um privatisierte oder private Städte, sondern um private Nationalstaaten. Ja, wenn diese Visionen verwirklicht würden, würde die Aufgabe, den Sozialismus aufzubauen, noch deutlich schwieriger werden.
In diesem Punkt stimme ich also zu. Und genau deshalb ist der aktuelle Moment so wichtig. Es ist wichtig zu verstehen, welche Teile des Staates noch verteidigt werden können. Ich denke nur, dass rhetorische Argumente über die Notwendigkeit, die Privatisierung oder Digitalisierung zu stoppen oder die ökologischen Kosten von Rechenzentren zu verringern, uns nicht dazu bringen, eine alternative Vision zu formulieren, die attraktiver ist als die Vision, die Silicon Valley vorgelegt hat – eine Vision von Hyper-Effizienz und einer Regierung, die in der Lage ist, Dokumente innerhalb einer Minute auszustellen, anstatt wie bisher erst nach Stunden oder Tagen.
Das sind die Dinge, für die Musk und Thiel in den letzten Monaten in den USA geworben haben. In diesem Sinne denke ich, dass das Problem der Linken nicht so sehr der Mangel an Anstrengung oder dem Wunsch ist, diese staatlichen Funktionen zurückzugewinnen, sondern die Unfähigkeit, ein kohärentes politisches Projekt zu formulieren, das mit dem utopischen Wahn des Silicon Valley mithalten kann – natürlich mit einer völlig anderen, emanzipatorischen Ausrichtung.
Ein solches Projekt würde die Linke nicht nur zwingen, realistisch zu sein, sondern auch verhindern, dass Sozialisten so defensiv und, ich würde sogar sagen, in manchen Fällen reaktionär sind. Die Linke darf keine Kraft sein, die nur dazu da ist, einen Status quo zu verteidigen, der vor dreißig, vierzig, fünfzig Jahren einmal erreicht wurde.
Cédric, was meinst Du?
CD: Das ist absolut richtig. Wir müssen uns der Aufgabe stellen, alternative Denkweisen zu entwickeln oder vorzuschlagen, die nicht nur defensiv sind. Meiner Meinung nach ist die Wiederaufnahme der Debatte ein guter Schritt in die richtige Richtung. Man kann das im Sinne der Demokratie formulieren: Wir wollen die Demokratisierung von Entscheidungen, die unsere Lebensweise, unseren Lebensstil und unser gemeinsames Zusammenleben betreffen.
Szenarien zu entwickeln und zu überlegen, wie wir diese umsetzen können, ist ein Weg, um zu entscheiden, welche Art von Gesellschaft wir aufbauen wollen. Wir wollen uns die Möglichkeit geben, selbst zu entscheiden, wie wir leben wollen.
Das braucht Planung, und für mich besteht Planung aus drei Hauptkomponenten. Die erste ist das Überlegen, die Entscheidungsfindung – sich zusammensetzen, um verschiedene Optionen zu besprechen und Szenarien zu entwickeln. Die zweite ist das Sammeln von Daten und das weitere Ausarbeiten dieser Szenarien. Dinge wie ökologische Bilanzierung sind in diesem Prozess entscheidend, aber natürlich nicht das einzige Element. Auch die Formulierung von Bedürfnissen ist zum Beispiel ein Teil davon. Und das dritte Element, das meiner Meinung nach der Schlüssel ist, ist die Vergesellschaftung von Investitionen. Im Moment sind es fast ausschließlich private Entscheidungen, was, wie und wo investiert wird – und das prägt unser aller Leben. Wir müssen bei Investitionen mitreden können, die Entscheidungen müssen vergesellschaftet werden. Darum geht es.
»Ich glaube, dass trotz all der Probleme und Lücken im kapitalistischen System die meisten Leute heute, sowohl in Europa als auch in den USA, immer noch an den Kapitalismus glauben. Ich denke nicht, dass ihnen die Option eines Systems, das besser und demokratischer plant, unbedingt ihren Glauben an das kapitalistische Dogma nehmen würde.«
Doch wie schafft man eine solche Vergesellschaftung von Investitionen? Es gibt viele Beispiele aus der Geschichte, aber drei Möglichkeiten fallen mir spontan ein. Eine ist, öffentlich-rechtliche Dienste aufzubauen. Wir wissen, wie man das auf nationaler Ebene macht. Die zweite ist, dass der Staat die strategisch wichtigen Bereiche der Wirtschaft kontrolliert, wie es China macht. Auch das prägt die Art von Gesellschaft, die man haben will. Die dritte Möglichkeit besteht darin, den Kreditvergabeprozess zu kontrollieren, die Kreditvergabe zu vergesellschaften. So können wir entscheiden, welche Branchen auf- und ausgebaut werden sollen und welche nicht, ohne dass dabei konkrete Vorhersagen über Innovationen getroffen werden müssen, die von der politischen »Zentrale« aus ohnehin nicht effektiv kontrolliert werden können.
In den drei angesprochenen Dimensionen – Beratung/Entscheidungsfindung, Datenerfassung sowie Vergabe und Verteilung von Investitionen auf der Grundlage der Szenarien – verändern die technologischen Möglichkeiten der Gesellschaft die Planungsdebatte. Im 20. Jahrhundert ging es bei der Planungsdebatte hauptsächlich um Wissen: das Sammeln, Formulieren und Strukturieren von Informationen. Viele dieser Probleme können jetzt mit modernen Technologien schnell gelöst werden. Allerdings, und das ist überaus wichtig, müssen wir uns bewusst sein, dass wir in diesem Planungsprozess nicht einfach zu Automaten der Technologie werden wollen. Wir müssen über die Probleme und Grenzen dieses Prozesses an sich nachdenken – Grenzen in Bezug auf die Natur und auf unser eigenes Leben.
Hier sind Dinge wie ökologische Bilanzierung wichtig. Die Idee ist, eine dauerhafte Bestandsaufnahme der Umwelt zu erstellen, die zwar nie perfekt sein wird, aber dazu dient, Grenzen zu setzen, die wir nicht überschreiten wollen, um die autonome Entwicklung der Natur zu schützen. Die zweite Frage ist unser eigenes Leben: Wir wollen nicht, dass unser Leben komplett automatisiert wird. Wir mögen es vielleicht gut finden, dass es durch Algorithmen kuratiert wird, und unsere Bedürfnisse per Koordination und Steuerung besser befriedigt werden. Wenn wir uns aber zumindest ein bisschen Autonomie bewahren wollen, müssen wir Grenzen dieses Planungsprozesses ausarbeiten und setzen.
Abschließend: Kann Technologie tatsächlich Möglichkeiten für demokratische Investitionen und demokratische Kapitalbeschaffung bieten?
EM: Deine Frage ist eine politische, denke ich: Wie framen wir eine Reaktion auf die Legitimität des kapitalistischen Projekts? Ich glaube, dass trotz all der Probleme und Lücken im kapitalistischen System die meisten Leute heute, sowohl in Europa als auch in den USA, immer noch an den Kapitalismus glauben. Ich denke nicht, dass ihnen die Option eines Systems, das besser und demokratischer plant, unbedingt ihren Glauben an das kapitalistische Dogma nehmen würde. Das liegt zum Teil daran, dass sich der Kapitalismus heute etwas anders legitimiert als in den 1930er Jahren oder 1967.
Ich möchte jetzt nicht die ganze Debatte über sozialistische Kalkulation wiederholen, die Cédric in seiner Antwort teilweise angesprochen hat, aber Ihr alle wisst sicher, dass es schon lange eine Diskussion zwischen sozialistischen und kapitalistischen Ökonomen darüber gibt, wie man die Wirtschaft am besten organisiert. Sozialisten sagen, dass wir zwar planen oder eine Art Marktplanungsprozess nutzen können, aber letztendlich geht es darum, Güter so zu verteilen, dass diese Verteilung oder Allokation nicht vom Marktwettbewerb abhängt. Das Vertrauen in die Planung würde demnach zu einer rationaleren, effizienteren und sozial gerechteren Allokation der Ressourcen führt – das Verteilungsproblem wird gelöst.
Kapitalisten und Leute wie Friedrich Hayek und Ludwig von Mises, später auch James M. Buchanan, meinten, dass der Markt besser ist als jedes rational gelenkte System. Sie warnten, dass der Sozialismus nur zu Gulags führt und Ressourcen nicht effizient verteilen kann. Eine zentrale Planung würde mit Verschwendung und Ineffizienz einhergehen und das im Markt zirkulierende Wissen – implizit und explizit – könne von den zentralen Planern nicht vollständig erfasst werden, was dann zu schlechteren Ergebnissen führe. Ich würde sagen, dass bis vielleicht Anfang der 1970er Jahre die Legitimität des kapitalistischen Projekts davon abhing, dass der kapitalistische Markt Güter besser verteilen konnte. Die Märkte nutzten Wissen und verteilten Güter auf eine Weise, die eben nicht zu Gulags führte, aber gleichzeitig auch nicht zu minderwertiger Technologien oder schlechteren Produkten.
Seit den frühen 1970er Jahren hat sich die Legitimationsstrategie des kapitalistischen Systems gegenüber potenziellen sozialistischen Alternativen verschoben. Das hat mit einem Umdenken über die Rolle des Marktes im demokratischen Kapitalismus zu tun. Der Markt wurde neu konzipiert – nicht nur als effektiveres System zur Verteilung von Gütern, sondern auch als System zur Befriedigung der tiefsten Sehnsüchte von individuellen Verbrauchern und Unternehmern. Er ist zu einem politischen System geworden, das es uns ermöglicht, uns zu komplexeren Subjekten zu entwickeln, indem wir ständig neue Produktionstechniken erleben, neue Konsumarten ausprobieren, neue Geschmäcker entwickeln und artikulieren, mit verschiedenen Identitäten experimentieren und sowohl als Verbraucher als auch als Unternehmer ein gewisses Maß an Souveränität über unser Leben ausüben.
»Ich glaube nicht, dass wir aus sozialistischer Sicht die Kontrolle über die Debatte gewinnen können, indem wir einfach sagen: ›Schaut mal, ihr könnt wie Steve Jobs sein, wenn ihr nur mehr Zeit mit ChatGPT verbringt.‹«
Zwischen den späten 1970er Jahren und den 2010er Jahren wurde dies zu einer der wichtigsten Strategien zur Legitimierung des Kapitalismus. Leute wie Buchanan, der den Nobelpreis bekommen hat und als einer der Gründerväter des Neoliberalismus gilt, würden sagen, dass die Problemstellung nicht nur rein logistischer Natur war. Gegen Ende seines Lebens betonte er, dass Sozialisten, selbst wenn sie es schaffen würden, Computer und KI-Systeme zu entwickeln, mit denen sie Güter effizienter als die Märkte verteilen könnten, dennoch nicht in der Lage wären, die kapitalistischen Versprechen von kontinuierlicher Selbstfindung und der Möglichkeit, diese Komplexität zu erleben, die der Markt sowohl Verbrauchern als auch Unternehmern bietet, zu erfüllen.
Die Form dieser Legitimationsstrategie hat sich ab Ende der 1990er Jahre verändert, weil ganz andere Funktionen der Märkte ermöglicht wurden. Das waren Funktionen, die im Rahmen der Planung schwer erfüllbar wären, weil sie nicht rein wirtschaftlicher oder logistischer Natur sind. Bis 2010 gab es in diesem Bereich massive Innovation; das Silicon Valley bot dem Kapitalismus eine noch tiefgreifendere Legitimierungsmöglichkeit, indem es versprach, dass wir alle zu Hackern und Kreativarbeitern werden könnten. Wir alle könnten in unseren Garagen Geräte bauen, mit unseren 3D-Druckern Dinge herstellen und unsere Kreativität auf neue und irgendwie bessere Weise zum Ausdruck bringen.
Wenn man der Rhetorik von beispielsweise Relax, Anthropos oder Gemini folgt, versprechen sie mit LLMs, generativer KI et cetera im Grunde genommen, dass sie die Kosten für uns alle gesenkt haben, um Fachleute in jedem erdenklichen Bereich zu werden. Diese Unternehmen lassen uns glauben, dass nun jeder zu der Art von Fachleuten oder Handwerkern werden kann, die Menschen wie Richard Sennett seit zwei Jahrzehnten feiern. Wie wird man unter modernen Bedingungen beziehungsweise im zeitgenössischen Kapitalismus zum Experten, zum Handwerksmeister? Nun, man zahlt 20 oder auch 200 Dollar im Monat an OpenAI und experimentiert mit KI. Deine Kreativität wird also über eine Reihe kapitalistischer Firmen gefördert und vermittelt, die Geld einwerben aus Ländern wie Katar und Saudi-Arabien, die ihrerseits weit davon entfernt sind, Oasen der freien Kreativität zu sein.
Ich glaube nicht, dass wir aus sozialistischer Sicht die Kontrolle über die Debatte gewinnen können, indem wir einfach sagen: »Schaut mal, ihr könnt wie Steve Jobs sein, wenn ihr nur mehr Zeit mit ChatGPT verbringt.« Wir werden die Leute ebenso nicht überzeugen, wenn wir ihnen die Möglichkeit bieten, mit anderen zu diskutieren und besser zu planen, wie der Müll in ihrer Nachbarschaft abgeholt wird.
Für mich kann Planung viele andere Bedürfnisse erfüllen, aber sie geht nicht auf den Kern ein; auf die Frage, wie das moderne kapitalistische Projekt sich selbst legitimiert. Und das ist ein Problem für die Linke. Es ist falsch, weiter darauf zu pochen, dass wir ein gerechteres, rationaleres, ökologischeres und besser allokierendes System aufbauen können, wenn die Kapitalisten doch selbst den Markt nicht mehr in erster Linie als Allokationsinstrument sehen. Sie präsentieren den Markt vielmehr als Mittel, um die Bedürfnisse zu befriedigen, die wir entwickelt haben – Bedürfnisse, die wir auch durch Politik zum Ausdruck bringen wollen: Wir wollen kulturelle und politische Institutionen aufbauen, um das Versprechen einzulösen, uns vom Erbe der Moderne zu befreien.
In diesem Sinne denke ich, dass die Aufgabe, vor der die Linke steht, viel tiefgreifender ist. Die Ideenkrise auf der Linken ist viel gravierender. Ich wünschte, wir könnten dies auflösen, indem wir die Planung partizipativer, demokratischer und ökologischer gestalten. Aber ich glaube nicht, dass das das grundlegende Problem der Linken lösen würde.
Cédric Durand ist Professor für politische Ökonomie an der Universität Genf. Kürzlich erschien von ihm How Silicon Valley Unleashed Techno-Feudalism: The Making of the Digital Economy.
Evgeny Morozov ist Wissenschaftler und Autor. Bekannt wurde er mit zwei preisgekrönten Büchern, The Net Delusion: The Dark Side of Internet Freedom (2011) und To Save Everything, Click Here: The Folly of Technological Solutionism (2013). Sein neuestes Projekt ist der Podcast The Santiago Boys.