18. September 2024
Der Internationale Gerichtshof hat die israelische Besetzung des Westjordanlands als völkerrechtswidrig eingestuft – doch Konsequenzen hat es bislang keine gegeben. Was das Urteil für die palästinensische Bevölkerung bedeutet und inwiefern es dennoch die internationale Debatte verschieben könnte, erklärt der Menschenrechtsanwalt Munir Nuseibah im Gespräch.
Israelische Flagge im Rande des Außenpostens Eviatar im Westjordanland, 19. Juli 2024.
Am 19. Juli gab der Internationale Gerichtshof (IGH) ein unverbindliches Gutachten ab, in dem er erklärte, dass die Besetzung des Gazastreifens, des Westjordanlands und Ost-Jerusalems durch Israel illegal sei. Daraus folgte die Forderung, die Besetzung »so schnell wie möglich« zu beenden. Nachdem der IGH zu dem Schluss gekommen war, dass die Situation der Palästinenserinnen und Palästinenser »systematische Diskriminierung auf der Grundlage unter anderem von Rasse, Religion oder ethnischer Herkunft« darstellt, ordnete das Gericht an, dass Israel jegliche Siedlungsbauaktivitäten einstellen muss. Zudem wies es alle Mitgliedstaaten an, »keine Hilfe oder Unterstützung bei der Aufrechterhaltung der durch die anhaltende Präsenz des Staates Israel in den besetzten palästinensischen Gebieten geschaffenen Situation zu leisten« – eine Formulierung, die viele als Aufforderung zu einem Waffenembargo interpretiert haben.
Das Urteil, das auf eine Anfrage der UN-Generalversammlung im Dezember 2022 nach einem Gutachten über die rechtlichen Konsequenzen der andauernden israelischen Besetzung zurückgeht, wurde vom israelischen Außenministerium schnell als »grundsätzlich falsch« und »eklatant einseitig« abgelehnt. Dennoch bestätigt es, was palästinensische Aktivistinnen, Aktivisten und ihre Verbündeten schon seit Jahrzehnten sagen. Für Israels Verbündete wie Deutschland und die USA wird es zunehmend schwerer, Unwissenheit über die Menschenrechtssituation in Palästina vorzutäuschen. Um besser zu verstehen, was das IGH-Urteil für die Palästinenserinnen und Palästinenser bedeuten könnte, hat JACOBIN mit dem palästinensischen Menschenrechtsanwalt Munir Nuseibah von der Al-Quds-Universität in Jerusalem gesprochen.
Das IGH-Urteil besagt, dass Israel verpflichtet ist, alle neuen Siedlungsaktivitäten sofort einzustellen und jegliche Gesetze oder Maßnahmen aufzuheben, die diese rechtswidrige Situation schaffen oder aufrechterhalten, einschließlich solcher, die das palästinensische Volk in den besetzten palästinensischen Gebieten diskriminieren. Selbiges gilt für alle Maßnahmen, die darauf abzielen, die demografische Zusammensetzung eines Teils des Gebiets zu verändern. Darüber hinaus muss Israel eine vollständige Wiedergutmachung für den Schaden leisten, der allen betroffenen natürlichen oder juristischen Personen zugefügt wurde. Dennoch bleibt das Urteil eine unverbindliche »gutachterliche Stellungnahme«. Wie bedeutend ist sie trotzdem?
Das Urteil ist aus mehreren Gründen sehr bedeutsam. Erstens bestätigt es etwas, das bereits offensichtlich war, aber von mehreren Parteien, darunter Israel und andere mächtige Länder, bestritten wurde: Die Besetzung an sich ist illegal und muss unabhängig von Verhandlungen so schnell wie möglich beendet werden. Dies ist wichtig, weil Palästina seit Beginn des Osloer Friedensprozesses vermittelt wurde, dass ein Ende der Besetzung oder Fortschritte in ihrem Befreiungskampf nur durch Verhandlungen mit Israel erreicht werden könnten.
Dieser Glaube hat nicht nur die israelische Politik beeinflusst – die nie ernsthaft offen für Verhandlungen war –, sondern auch die internationale Politik. Zum Beispiel wurde die Rechtmäßigkeit der Annexion Ost-Jerusalems durch Israel als offene Frage behandelt, die von den Verhandlungen über den endgültigen Status abhängt. Das Gutachten des IGH hat diese Dynamik verändert und der internationalen Gemeinschaft klargemacht, dass sie nicht nur die illegalen Folgen der israelischen Besetzung nicht anerkennen darf, sondern auch aktiv daran arbeiten muss, sie zu beenden.
»Das Gutachten kam zu dem Schluss, dass Israel Segregation und Apartheid praktiziert, zumindest in den besetzten palästinensischen Gebieten.«
Der zweite Punkt betrifft die Apartheid. Obwohl der Internationale Gerichtshof nicht direkt nach Apartheid gefragt wurde, sondern nach rassistischer Diskriminierung, führte seine Untersuchung zu dem Ergebnis, dass Israel tatsächlich gegen seine Pflicht verstößt, Segregation und Apartheid zu vermeiden. Das Gutachten kam zu dem Schluss, dass Israel Segregation und Apartheid praktiziert, zumindest in den besetzten palästinensischen Gebieten.
In den vergangenen vier Jahren haben zahlreiche Berichte palästinensischer, israelischer und internationaler Organisationen behauptet, Israel praktiziere Apartheid. Viele Länder haben jedoch gezögert, diese Realität offiziell anzuerkennen. In meiner Arbeit im Bereich der internationalen Interessenvertretung bin ich dieser Zurückhaltung unter Diplomatinnen und Diplomaten oft begegnet, wobei einige vorschlugen, auf eine Stellungnahme des Internationalen Gerichtshofs zu warten. Da das höchste internationale Gericht nun die Existenz der Apartheid bestätigt hat, haben wir ein überzeugendes Argument, um Staaten dazu zu bewegen, ihre Beziehungen zu Israel auf Grundlage dieser Feststellung zu überdenken.
Dies ist nicht das erste Mal, dass das Verhalten Israels Gegenstand internationaler rechtlicher Beratung ist. Welchen rechtlichen Status hat die israelische Besetzung? Mit welcher Begründung rechtfertigen sie israelische Gerichte und was haben andere internationale Gremien festgestellt?
Zwischen den Perspektiven internationaler Gremien und dem israelischen Rechtssystem gibt es eine erhebliche Divergenz. Der israelische Rechtsrahmen erkennt die Besetzung selbst nicht als illegal an. Ebenso betrachtet das israelische Rechtssystem die Annexion von Gebieten wie Jerusalem nicht als unrechtmäßig. Stattdessen behandeln israelische Gerichte Jerusalem als integralen Teil Israels und wenden israelisches Recht in der Stadt an. Darüber hinaus haben israelische Gerichte die Errichtung von Siedlungen erlaubt und israelische Siedler im Westjordanland als Teil der lokalen Bevölkerung anerkannt. Folglich spielt das israelische Rechtssystem eine entscheidende Rolle bei der Aufrechterhaltung des Apartheid-Regimes und ist untrennbar mit diesem verbunden.
Das israelische Rechtssystem bezieht sich gelegentlich auf internationales Recht, jedoch oft auf eine selektive Weise, die den israelischen Interessen und Zielen entspricht. Daher ist es kein wirksamer Anlaufpunkt, um das Apartheid-Regime anzufechten. Palästinenserinnen und Palästinenser wenden sich häufig an israelische Gerichte, um zum Beispiel den Abriss von [palästinensischen] Häusern zu verzögern oder zu stoppen, Barrieren zu verlagern, um Zugang zu ihrem Land zu erhalten, oder Genehmigungen für den Eintritt nach Jerusalem zu erlangen. Obwohl dies das einzige verfügbare Rechtsmittel innerhalb von Palästina ist, dient es hauptsächlich dazu, sich innerhalb der Zwänge des bestehenden Regimes zu bewegen, dessen grundlegende Aspekte nicht anfechtbar sind.
Im Gegensatz dazu arbeitet das internationale Justizsystem nach anderen Standards, wie das Gutachten des Internationalen Gerichtshofs zeigt. Die Besetzung wurde aufgrund der israelischen Politik von Annexion, Expansion, erzwungener Umsiedlung und Siedlungsbau als illegal eingestuft. Das angemessene Mittel für diese Situation ist das Ende der Besetzung und die Abschaffung des Apartheid-Regimes. Um das zu erreichen, ist ein erheblicher internationaler Druck erforderlich. Obwohl die aktuellen geopolitischen Dynamiken diesen Prozess unter dem Einfluss der US-amerikanischen und europäischen Politik verzögern könnten – ähnlich wie im Falle des Apartheid-Regimes in Südafrika, das ebenfalls unterstützt wurde –, bleibt das Potenzial für Veränderungen weiterhin bestehen. Doch der Prozess, an den andere Regionen sich später anschließen können, muss vom Globale Süden initiiert werden.
Wie bedeutend ist im weiteren Sinne das internationale Recht oder das Konzept der Menschenrechte für die Situation in Israel-Palästina? Schließlich dauert die Besetzung nun schon fast sechzig Jahre an, obwohl die UN-Generalversammlung sie mehrfach verurteilt hat, zusammen mit der überwältigenden Mehrheit der Staaten weltweit.
Hier liegt die Herausforderung: Der Internationale Gerichtshof hat seine Feststellungen getroffen und das Recht auf die Fakten angewendet, aber natürlich hat er keine Armee oder Polizei, um seine Entscheidungen durchzusetzen. Dennoch hat dieses Gutachten erhebliches Gewicht, insbesondere in Bezug auf die Verpflichtungen, die es den Staaten auferlegt. Der Hauptweg für Staaten, auf dieses Gutachten zu reagieren, ist die Durchsetzung von Richtlinien, einschließlich der Verhängung von Sanktionen.
»Wenn Nicaragua das Verfahren fortsetzt, könnte Deutschland letztendlich für eine Verletzung des Völkerrechts schuldig befunden werden.«
Die entscheidende Frage ist nun, ob die Generalversammlung, die das Gutachten des Gerichtshofs angefordert hat, Maßnahmen zur Durchsetzung von Sanktionen ergreifen wird oder ob wir eine Fortsetzung der Inaktivität der letzten Jahrzehnte erleben werden. Während die Generalversammlung lange Zeit die palästinensischen Rechte, einschließlich des Rechts auf Selbstbestimmung, unterstützt hat, hat sich diese Unterstützung nicht immer in konkrete Maßnahmen übersetzt. Der Sicherheitsrat, beeinflusst von Ländern wie den USA, Großbritannien und Frankreich, wird wahrscheinlich weiterhin die Verhängung von Sanktionen gegen Israel ablehnen. Daher liegt es an der Generalversammlung, Maßnahmen außerhalb des Zuständigkeitsbereichs des Sicherheitsrates zu verfolgen. Dazu gehören die Befürwortung von Sanktionen und die Überwachung des Verhaltens von Staaten – sei es durch die Verhängung von Sanktionen, die Bereitstellung von Waffen oder den Handel, der das Apartheid-Regime unterstützt.
Dieser Ansatz ist nicht ohne Präzedenzfall. Während der Apartheid-Ära in Südafrika wurde ein spezielles Komitee, bekannt als das Apartheid-Komitee, eingerichtet, um über die Apartheid-Politik zu berichten und zu beobachten, welche Länder Sanktionen umsetzten. Zunächst kam die Unterstützung für das Ende der Apartheid überwiegend aus dem Globalen Süden, aber im Laufe der Zeit war der Globale Norden, einschließlich Europa und den Vereinigten Staaten, gezwungen, seine Unterstützung einzustellen. Ende der 1980er und Anfang der 1990er Jahre trug dieser Politikwechsel zum Sturz und zur Auflösung des Regimes bei.
Im Jahr 2004 erließ der IGH ebenfalls ein Gutachten, das entschied, dass der Bau der Trennmauer, die in Jerusalem und anderen Teilen der palästinensischen Gebiete errichtet wurde, illegal ist. Dennoch existiert die Mauer weiterhin. Erwarten Sie politische Konsequenzen aus dem aktuellen Urteil oder haben diese Entscheidungen des IGH nur symbolische Bedeutung?
Die Auswirkungen des Gutachtens hängen letztendlich davon ab, wie die internationale Gemeinschaft darauf reagiert. Dieses Gutachten, das verbindliches internationales Recht widerspiegelt, ist bedeutend in seiner Feststellung, dass die israelische Besetzung illegal ist und ein Apartheid-Regime existiert. Es bietet eine wesentliche Grundlage für die Durchsetzung von Sanktionen, anstatt lediglich die Besetzung und damit zusammenhängende Maßnahmen zu verurteilen.
Wenn die internationale Gemeinschaft weiterhin nur Verurteilungen ausspricht, ohne konkrete Maßnahmen zu ergreifen, wird das Gutachten bedeutungslos werden. Wenn jedoch die internationale Gemeinschaft eine proaktive Haltung einnimmt und Sanktionen gegen Israel verhängt, wird das Gutachten sich als äußerst wertvoll erweisen. Die bevorstehenden Entscheidungen der Generalversammlung der Vereinten Nationen werden dabei entscheidend sein. Im September werden die Weltführer ihre Reden halten, was zu Diskussionen und voraussichtlich zu Resolutionen führen wird, deren Annahme im Dezember erwartet wird. Die nächsten Monate werden zeigen, ob substanzielle Maßnahmen oder nur Lippenbekenntnissen folgen werden.
Bis jetzt hat sich die deutsche Regierung zurückgehalten, den Begriff »Apartheid« im Zusammenhang mit Israels Politik gegenüber den Palästinenserinnen und Palästinensern zu verwenden. Halten Sie es aus ihrer Perspektive als Menschenrechtsanwalt für wichtig, den Begriff zu verwenden, um die Situation als solche zu beschreiben? Und glauben Sie, dass das Urteil des Gerichts Auswirkungen auf die deutsche und internationale Politik haben könnte?
Ich halte es für angemessen, die Situation als Apartheid zu beschreiben. Der Begriff bietet einen wesentlichen Rahmen, um die israelische Präsenz in den besetzten palästinensischen Gebieten zu verstehen und zu adressieren.
»Diskussionen über palästinensische Menschenrechte werden oft als Antisemitismus fehlinterpretiert. Darin zeigt sich ein besorgniserregendes Missverständnis in Deutschland über den Unterschied zwischen Antisemitismus und der Befürwortung palästinensischer Rechte.«
Leider ist die Bilanz Deutschlands enttäuschend, da Deutschland die Apartheid, die Siedlungserweiterung und die Kolonisierung Palästinas über Jahrzehnte hinweg unterstützt hat. Dazu gehört auch die Unterstützung der fortdauernden Gewalt in Gaza. Die Situation deutet auf ein besorgniserregendes Muster hin, und es ist ungewiss, ob bald wesentliche Veränderungen in der deutschen Politik eintreten werden. Die Klage von Nicaragua und Deutschland könnte möglicherweise den Internationalen Gerichtshof dazu bewegen einzugreifen. Dennoch ist eine umfassende interne Reform in Deutschland notwendig. Auch wenn ich möglicherweise nicht die Expertise habe, spezifische Änderungen vorzuschlagen, ist klar, dass Deutschland vor erheblichen Herausforderungen steht.
Deutschlands Umgang mit der Meinungsfreiheit war problematisch. So wurden beispielsweise während der jüngsten Gewalt in Gaza Palästinenser wie Dr. Abu Ghassan Abu-Sittah, die in Deutschland sprechen wollten, daran gehindert, einzureisen. Diskussionen über palästinensische Menschenrechte werden oft als Antisemitismus fehlinterpretiert. Darin zeigt sich ein besorgniserregendes Missverständnis in Deutschland über den Unterschied zwischen Antisemitismus und der Befürwortung palästinensischer Rechte. Diese Situation wirft ernsthafte Fragen zum Zustand der Demokratie, der Meinungsfreiheit und der Gerechtigkeit in Deutschland auf.
Würde der Internationale Gerichtshofs im Fall Südafrikas gegen Israel urteilen, dass die Situation in Gaza Völkermord darstellt, dann wäre dieses Urteil bindend. Welche konkreten Konsequenzen hätte dies, insbesondere für Länder wie Deutschland und die USA, die weiterhin militärische Unterstützung für Israel leisten?
Der Internationale Gerichtshof hat bereits darauf hingewiesen, dass es plausibel ist, dass Israel Völkermord begeht. Einfacher ausgedrückt: Basierend auf den vorgelegten Beweisen und den von Israel bereitgestellten Gegenbeweisen scheint ein Völkermord tatsächlich stattzufinden. Das bedeutet in diesem Kontext, dass Völkermord sehr wahrscheinlich ist und nicht nur ein Risiko oder eine Möglichkeit besteht, dass Israels Vorgehen genozidal ist. Aus diesem Grund entschied sich das Gericht, vorläufige Maßnahmen zu erlassen.
»Auch wenn es ein Gerichtssystem gibt, scheitert es darin, echte Gerechtigkeit für Palästinenserinnen und Palästinenser zu gewährleisten.«
Die vorläufigen Maßnahmen basieren auf den überzeugenden Beweisen, dass Völkermord wahrscheinlich stattfindet. Daher besteht ein dringender Bedarf, sofort alle Waffenlieferungen an Israel einzustellen. Im Fall Nicaragua gegen Deutschland erließ das Gericht keine vorläufigen Maßnahmen, weil Nicaragua nicht in der Lage war, einen direkten Zusammenhang zwischen Deutschlands Unterstützung für Israel und Israels Handlungen herzustellen. Diese Beweislücke verhinderte in diesem Fall eine Maßnahme. Wenn Nicaragua jedoch das Verfahren fortsetzt, könnte Deutschland letztendlich für eine Verletzung des Völkerrechts schuldig befunden werden.
Aber der Internationale Strafgerichtshof hat noch nicht sein endgültiges Urteil im Fall Südafrika gegen Israel gefällt.
Basierend auf den Beweisen und Analysen, die ich überprüft habe, scheint es sehr unwahrscheinlich, dass das Gericht zu dem Schluss kommen wird, dass die Situation in Gaza keinen Völkermord darstellt.
Während die Zerstörung Gazas durch israelische Streitkräfte andauert, liegt die weltweite Aufmerksamkeit größtenteils auf den Menschenrechtsverletzungen, die von Israel begangen werden. Aber wie sieht es mit der Bilanz der Hamas aus? Welche Art von Behandlung erfahren Zivilisten in Gaza durch die Hamas?
Die Hamas ist während ihrer Herrschaft im Gazastreifen für eine Reihe von Menschenrechtsverletzungen gegen Palästinenserinnen und Palästinenser verantwortlich gewesen, einschließlich Folter und anderer Verbrechen. Dies geschah Jahre vor dem aktuellen Krieg. Derzeit ist es jedoch schwierig zu beurteilen, wie die Hamas die Zivilbevölkerung in Gaza behandelt. Ich glaube, sie stehen vor enormen Schwierigkeiten, inmitten des Chaos und der Zerstörung zu regieren.
Berichte über weit verbreitete Menschenrechtsverletzungen in israelischen Haftanstalten wie Sde Teiman haben in den letzten Wochen erneut Aufmerksamkeit erhalten. Nimmt diese Art der Behandlung palästinensischer Gefangener zu?
Ich selbst bin kein praktizierender Anwalt, arbeite jedoch mit vielen zusammen, und sie haben mir schreckliche Dinge erzählt. Die Verbrechen, die in israelischen Gefängnissen geschehen, sind tatsächlich unbeschreiblich und sie nehmen zu. Dies gilt für Gefangene im Gazastreifen sowie im Westjordanland, einschließlich Jerusalems.
Inwieweit können Palästinenserinnen und Palästinenser mit einer fairen Behandlung durch israelische Richterinnen und Richter rechnen? In der deutschen Debatte wird Israel nicht als perfekt dargestellt, aber immerhin als funktionierende Demokratie mit einem Rechtssystem, das israelische Soldatinnen und Soldaten verfolgt, die Palästinenserinnen und Palästinenser misshandeln.
Diese Annahme ist falsch. Das israelische Gerichtssystem verfolgt keine Kriegsverbrechen oder Verbrechen gegen die Menschlichkeit. Wenn es das täte, hätte Israel nicht ein so tief verwurzeltes Apartheid-Regime etablieren können, noch hätte es fortlaufend Siedlungen bauen und Palästinenserinnen und Palästinenser seit 1948 bis in die Gegenwart vertreiben können. Diese Erzählung dient dazu, ein Bild von einem funktionierenden Rechtssystem zu projizieren, das Gerechtigkeit wahrt. Auch wenn es ein Gerichtssystem gibt, scheitert es darin, echte Gerechtigkeit für Palästinenserinnen und Palästinenser zu gewährleisten.
Wie steht es um die Palästinenserinnen und Palästinenser, die innerhalb der Grenzen von 1948 leben und eine israelische Staatsbürgerschaft haben?
Palästinenser mit israelischer Staatsbürgerschaft haben sicherlich mehr Rechte als Palästinenserinnen, die in den seit 1967 von Israel besetzten Gebieten leben. Sie sind jedoch nicht gleichberechtigt mit israelischen Jüdinnen und Juden. Israel definiert seine Bürgerinnen und Bürger nicht nur als Personen mit Staatsbürgerschaft, sondern auch nach ihrer ethnischen Herkunft. Jeder Israeli hat zusätzlich zur Staatsbürgerschaft eine Ethnie, etwa arabisch, jüdisch oder armenisch. Das israelische Recht und das Regime diskriminieren palästinensische Bürgerinnen und Bürger Israels [die als »arabische Israelis« angesehen werden] auf viele Arten.
Wann immer dieser furchtbare Krieg endet, wird es darum gehen, Gerechtigkeit für die Opfer beider Seiten einzufordern. Kann man israelischen oder palästinensischen Gerichten als neutrale Schiedsrichter vertrauen? Oder wäre ein internationales Tribunal geeigneter?
Es kann kein Vertrauen auf israelische Gerichte geben, wenn es um unbefangene Gerechtigkeit geht. Wie ich erklärt habe, sind sie leider ein wesentlicher Bestandteil des Apartheid-Regimes, das diese Politik unterstützt und verstärkt. Angesichts dessen fehlt den palästinensischen Gerichten die Befugnis, Israelis wegen der durch die Besetzung auferlegten Beschränkungen und der bestehenden Machtverhältnisse zu verfolgen. Folglich sind nur internationale Tribunale und Gerichte in der Lage, diese Fragen effektiv zu behandeln.