01. Mai 2025
Als Linke können wir unserer Vergangenheit nicht entkommen. Doch es reicht nicht, unsere Geschichte nur zu kennen: Wenn wir sie nicht mit Leben füllen, verliert sie ihre Kraft. Zehn Gründe für ein neues Erinnern an alte Kämpfe.
»Es reicht nicht, zu erklären, dass es Klasse gibt – man muss sie fühlen. Das wusste schon Karl Marx und strebte mit seinem Buddy Engels zeit seines Lebens danach, die Klasse in Bewegungen zu setzen«, schreibt Ralf Hoffrogge.
Die Linkspartei hat drei Parteigründungen hinter sich – jede war ein Bruch mit der Vergangenheit, doch keine ein Schlussstrich. Entstanden 1989 als Partei des Demokratischen Sozialismus aus der alten SED, fusionierte die Partei 2007 mit der Wahlalternative Arbeit und Soziale Gerechtigkeit (WASG) und nennt sich seitdem die Linke. Mit der Trennung vom linkskonservativen Flügel ist seit Ende 2023 eine dritte Neugründung im Gange: mehr als die Hälfte der mittlerweile über Hunderttausend Mitglieder ist erst seit wenigen Monaten dabei. Dank dieser Wiedergeburt ist die Linke die jüngste Partei im Bundestag – und bleibt doch eine der ältesten. Denn ihre Wurzeln reichen bis zu den Anfängen der organisierten Arbeiterbewegung im 19. Jahrhundert – ein Ursprung, den sie mit der Sozialdemokratie und den Gewerkschaften des DGB teilt.
Das Erbe der deutschen Linken umfasst den Organisationseifer von August Bebel, die feurigen Reden von Rosa Luxemburg, aber auch die Stalinisierung der KPD und den Staatssozialismus der DDR. Auch die nach 1989 geborenen Neumitglieder der Linken – ebenso wie Linke in Gewerkschaften und sozialen Bewegungen, die mit der gleichnamigen Partei nichts zu tun haben – müssen sich längst in Feuilletons und Stammtischdiskussionen für den Realsozialismus rechtfertigen. Linke können ihrer Geschichte nicht entkommen – sie sollten sie sich deswegen bewusst aneignen.
Wenn Linke ihre Geschichte nicht selbst erzählen, tun es ihre Gegner. Geht es nach ihnen, sind alle Linken Stalinisten. Der Stalinismus ist ein trauriger Schatten, der auf der Idee des Sozialismus lastet. Um ihm zu begegnen, hilft ein wenig Wissen darüber, wie Stalin die Revolutionäre des Oktober 1917 verfolgen und ermorden ließ, die verbliebenen Räte in der Sowjetunion abschaffte, Abtreibungen wieder unter Strafe stellte und die Weltrevolution zum »tragikkomischen Mißverständnis« erklärte. Stalin und sein System sind keine legitimen Erben der sozialistischen Idee – der Stalinismus trägt alle Merkmale einer Konterrevolution. Es brauchte eine erneute Revolution, um die Herrschaftsstrukturen des Stalinismus zu sprengen.
»Klasse verbindet. Sie ist unsere linke Erzählung gegen ›die da oben‹.«
Eine solche Revolution erfasste 1989 auch die ins Wanken geratene SED. Auf dem Gründungsparteitag der SED/PDS schwor Michael Schumann alle Erneuerungswilligen der einstigen Staatspartei auf den Wandel ein: »Wir brechen unwiderruflich mit dem Stalinismus als System!«. Die Partei erkannte damit nicht nur die Verbrechen des Stalinismus an, sondern auch die Tatsache, dass die »Entstalinisierung« in der DDR unvollständig gewesen war. Doch obwohl die Linkspartei damit selbst ein Produkt der Revolution von 1989 ist, überlässt sie den Revolutionsbegriff immer noch den Liberalen mit ihrer »friedlichen Revolution« oder der AfD und ihrer konservativen Revolution. Es ist an der Zeit, die Klassenkämpfe des Staatssozialismus und die Revolution von 1989 als eine historische Tradition anzuerkennen, ohne die die heutige Linke nicht existieren würde.
Hitler war Kommunist, die Sache mit den Nazis nur ein Vogelschiss in der deutschen Geschichte – seit Alice Weidel und Alexander Gauland solche Entgleisungen von sich geben, regt sich im liberalen Feuilleton Widerspruch. Beim Faktencheck der Deutschen Welle kann man korrekt nachlesen, dass Hitler Kommunisten und Sozialdemokraten gleichermaßen verfolgt hat und das Privateigentum nicht antastete. Als solch geschichtsklitternder Blödsinn noch aus den Reihen der CSU kam, fehlten ähnliche Klarstellungen. Bis heute wird in deutschen Schulen, Gedenkstätten und Verfassungsschutzberichten ein Weltbild gepflegt, in dem Links- und Rechtsextreme unsere Demokratie gleichermaßen bedrohen. Es ist nur konsequent, wenn die AfD diesen Murks zur Kenntlichkeit verzerrt – sie stellt sich dummdreist in die Mitte, weil die Mitte ja nicht faschistisch sein kann.
Wer aber weiß, dass im März 1933 eine Partei wie das katholische Zentrum, das die »Mitte« schon im Namen trug, Hitler zur Mehrheit für sein Ermächtigungsgesetz verhalf, gerät ins Grübeln. Auch die Nationalkonservativen (DNVP) und die Bayrische Volkspartei, eine Vorläuferin der CSU, stimmten 1933 Hitlers Staatsumbau zu. Die Liberalen von der Deutschen Demokratischen Partei (DDP) waren schon drei Jahre vorher umgekippt – ihr rechter Flügel tat sich mit einer antisemitischen Sekte zur Deutschen Staatspartei zusammen. Auch sie stimmte dem Ermächtigungsgesetz zu. Parlamentarischer Widerspruch kam 1933 nur von der SPD, die Kommunisten saßen schon im Lager. Auf die »Mitte« kann man sich also nicht verlassen. Nicht beim historischen Faktencheck gegen die AfD und erst recht nicht bei dem was droht, sollte sie jemals in die Nähe einer Mehrheit kommen.
Die Demokratie lässt sich per Gesetz abschaffen – doch um sie einzuführen, braucht es eine Revolution. Am Beispiel der »friedlichen Revolution 1989« wird dies alle fünf Jahre gefeiert, mit den Barrikaden der Novemberrevolution und denen von 1848 hadert die nationale Erinnerungskultur in Deutschland dagegen. Es brauchte ein Jahrhundert bis 2018 die Räte der Novemberrevolution als demokratischer Aufbruch anerkannt wurden. Was aus dem Bauernkrieg von 1525 zum 500-Jährigen gemacht wird, steht noch aus. Lange stand der Luther-Kult einer Würdigung dieser ersten deutschen Revolution entgegen – ja, jener Martin Luther, der die Synagogen anzünden und die gegen ihre Grundherren rebellierenden Bauern »wie einen tollen Hund« erschlagen wollte. Deutschland liebt seine Gegenrevolutionäre – und hadert mit dem Aufruhr, selbst wenn er schon ein halbes Jahrtausend her ist.
»Doch wo hört das Trümmern auf? Wenn man nichts aufbaut, wächst auf Schutthaufen nur Gestrüpp.«
Wer die Demokratie verteidigen will, muss die Revolution verteidigen. Doch Revolutionen sind keine Bürgerdialoge für mehr Partizipation und Teilhabe. Sie entzündeten sich an politischer Entrechtung und wirtschaftlicher Ausbeutung. Wer Demokratie will, kann von Ungleichheit nicht schweigen. Im heutigen Deutschland besitzt das reichste Hundertstel der Bürger ein Drittel des Gesamtvermögens. Unsere Demokratie zu verteidigen, wie sie ist – das ist eine konservative Position. Sie mobilisiert nicht, weil sie am Stand der Dinge nichts ändert. Wer Demokratie verteidigen will, erinnere sich an die Bauern 1525 oder die roten Matrosen 1918: Ihr Ruf nach Gleichheit klammerte Grundbesitz und Bankkonten nicht aus.
Allerdings waren nicht alle Sozialisten Demokraten. Von Platons Politeia bis hin zu Thomas Morus’ Utopia von 1516 gibt es eine lange Tradition der Erziehungsdiktatur, in der Gleichheit zum Zwang wurde – einer ihrer bekanntesten Figuren war ein Wutbürger namens Robespierre. Die Tradition der Gleichheit durch Zwang durchzog gerade die bürgerlichen Revolutionen, die selten friedlich blieben. Das interessante an der Erfindung des Marxismus Mitte des 19. Jahrhunderts ist sein Bruch mit der Erziehungsdiktatur. Der junge Marx predigte in seinen Feuerbachthesen, daß der »Erzieher selbst erzogen werden muß«. Von der Revolution 1848 über die Erste Internationale bis hin zu Engels' letzten Beratungsdiensten für die SPD der 1890er Jahre kämpften beide für den demokratischen Aufbau von Arbeiterparteien und Gewerkschaften. Sie unterschieden sich damit von Zeitgenossen wie Ferdinand Lassalle, der seine Organisation wie ein König führte. Auch Rosa Luxemburg ging es stets um die demokratische Selbstermächtigung der Massen – sie war die erste, die Lenins Wende zum neuen Jakobinertum hart kritisierte.
Doch als 1921 bei den Bolschewiki ein Fraktionsverbot eingeführt und konkurrierende sozialistische Parteien verboten wurden, kippte auch der Marxismus in die Erziehungsdiktatur – und kappte damit seine Wurzeln. Stalin nutzte dies für seine Konterrevolution. Wer sich heute auf die Jakobiner beruft, sollte diese Wendungen im Kopf haben: Linkssein ist keine fertige Utopie, die mit Entschlossenheit umgesetzt werden muss. Sie ist ein Suchprozess, bei dem politische Grundsätze und historische Erfahrungen die Richtung, aber nicht das Ergebnis vorgeben.
Weil das linke Erbe nach 1989 recht sperrig war, nutzten viele Linke historische Fakten nach 1989 vor allem zur Dekonstruktion: Geschlechterordnungen, nationale Mythen, Rasse-Konstruktionen und Normalitäts-Schablonen aller Art wurden lustvoll auseinandergenommen. Es war ein Akt der Befreiung, denn das meiste davon brauchen wir nicht – wer heute noch Asiaten als »gelb« bezeichnet, wie Brecht es in seinem »Solidaritätslied« von 1947 ganz naiv tun konnte, hat den Schuss nicht gehört. Und auch die Geschlechterbilder der 1850er bis 1950er, mit denen die AfD uns heute wieder belästigt, sind ein Fall für den Vorschlaghammer. Doch wo hört das Trümmern auf? Wenn man nichts aufbaut, wächst auf Schutthaufen nur Gestrüpp.
»Wenn hinter einer Organisation keine Bewegung mehr steht, bleibt erstarrte Herrschaft übrig.«
Gemerkt habe ich das erstmals Mitte der 2000er Jahre im Studium, als mir mein Foucault-Tutor erklärte, das Aids-Virus sei nur gesellschaftliche Konstruktion. Was ich bei »Hysterie« noch einleuchtend fand, rief bei HIV Irritation hervor. Der französische Philosoph Michel Foucault, der damals die Hörsäle dominierte, schwärmte von der »Kunst, nicht dermaßen regiert zu werden«. Heute zeigen uns die Corona-Rebellen, dass das Einreißen von Autoritäten nicht zwangsläufig emanzipativ sein muss. Es geht darum, Neues aufzubauen. Linke müssen Geschichte konstruieren. Sie müssen sich überlegen, mit welchen Erzählungen sie um die Herzen und Köpfe der Menschen kämpfen wollen.
Eine Kategorie, die der Dekonstruktion erstaunlich gut widerstanden hat, ist Klasse. Selbst Liberale mussten sie als »Klassismus« in den Kanon schützenswerter Identitäten aufnehmen und »awareness« schaffen. Viele Linke haben das dankbar aufgenommen – und gemerkt, dass es nicht reicht. Klasse ist eben nicht nur Vorurteil, sondern ökonomische Struktur – genau wie das Patriarchat nicht nur im Kopf existiert, sondern eine ungleiche Arbeitsteilung zwischen den Geschlechtern ist. Auch Rassismus hätte kaum einen Zweck, wenn er nicht Ausbeutung und Ungleichheit legitimieren würde – vom transatlantischen Sklavenhandel bis zu den segmentierten Arbeitsmärkten unserer Gegenwart.
Die Geschichte des Kapitalismus zeigt, das Klassenkämpfe immer wieder Frauen, Männer und Queers verschiedenster Kulturen, Konfessionen und Hautfarben zusammengebracht haben. Rosa Luxemburg führte als polnische Jüdin das deutsche Proletariat, der bengalische Antikolonialist Manabendra Nath Roy gründete die Kommunistische Partei Mexikos. So prächtig lief es natürlich nicht bei jedem Klassenkampf.
Nicht selten emanzipierten sich einige auf Kosten der anderen: eine nach Hunderttausenden zählende Gewerkschaft wie die britische Amalgamated Engineering Union (AEU) ließ fast ein Jahrhundert keine Frauen zu, ihre Südafrikanische Sektion duldete keine Schwarzen. Doch grade in dieser beschränkten Facharbeiter-Solidarität wurde Klasse zum Befreiungschlag: Nach den Streiks und Revolutionen des ersten Weltkriegs gab es immer mehr widerständige Mitglieder, die eine Gewerkschaft für alle forderten. Ab 1944 wurde die AEU von zupackenden Arbeiterinnen überrannt, die südafrikanische Sektion später rausgeworfen. Klasse verbindet. Sie ist unsere linke Erzählung gegen »die da oben« – eine radikal-demokratische Erzählung, die ohne Volkskörper, Verschwörungen und Leitkultur auskommt.
Klasse »an sich« bewegt jedoch erstmal nichts. Es reicht nicht, zu erklären, dass es sie gibt – man muss sie fühlen. Das wusste schon Karl Marx und strebte mit seinem Buddy Engels zeit seines Lebens danach, die Klasse in Bewegungen zu setzen. Marx gründete als junger Stutzer den »Bund der Kommunisten«, im mittleren Alter die Erste Internationale, Engels tat sich das Ganze als Rentner nochmal an und stiftete 1889 die Zweite Internationale. Seit 200 Jahren gibt es Organisationen der Arbeitenden. Die Klassiker sind Parteien, Gewerkschaften und Genossenschaften – auch bekannt als »drei Säulen der Arbeiterbewegung«. Die meisten dieser Zusammenschlüsse sind zerfallen, andere existieren bis heute – und manche stehen mittlerweile auf der Gegenseite.
Der einst revolutionären Sozialdemokratie verdanken wir HartzIV, von Arbeiterinnen und Angestellten gegründete Wohnungsbaugenossenschaften wehren sich heute gegen den Mietendeckel. Wenn hinter einer Organisation keine Bewegung mehr steht, bleibt erstarrte Herrschaft übrig. Lebendige Organisationen müssen angeeignet und erneuert werden. Sie müssen ihren Gebrauchswert in jeder Generation neu beweisen. Wir brauchen diese Organisationen, denn Klassenkampf ist ein Generationenprojekt. Geschichte kann uns lehren, dass auch Organizing einen langen Atem braucht. Als Bismarck in den 1880ern gezwungen war, den aufmüpfigen Arbeiterinnen und Arbeitern eine Krankenversicherung zu gewähren, hatten diese in Deutschland bereits fünfzig Jahre Kampf hinter sich. Sie hatten Streiks verloren und gewonnen, eine Revolution angezettelt, Prozesswellen, Verbote und Neugründungen erlebt. Auch Bismarck verbot 1878 alle Arbeiterorganisationen. Doch sie überlebten seinen Sturz 1890 und wurden danach zur Massenbewegung.
»Wir sollten Geschichte singen und tanzen. Stattdessen organisieren wir die meisten unserer Demos als laufende Vorlesungen mit abgelesenen Redebeiträgen.«
SPD, Linkspartei und die Gewerkschaften des DGB stehen in direkter Kontinuität der damals gegründeten Organisationen. Die SPD hat dies längst verdrängt – die Linke könnte den Faden aufnehmen, wenn sie denn wollte. Die sozialdemokratischen Erfahrungen und Traditionen des 19. Jahrhunderts liegen brach – dabei ist dies die kreativste, spannendste und konfliktreichste Zeit, in der der Sozialismus sich ständig neu erfand. Organisationsgeschichte ist oft verpönt – zu Recht, wenn sie in einen Organisationspatriotismus abgleitet, der die Hülle erinnert und den Inhalt vergißt. Sie muss neu erfunden werden: als Erinnerung an soziale Kämpfe, die uns vor Augen führt, wie und wofür Menschen sich organisieren – damals wie heute.
In Großbritannien komponierte der Folksänger Martyn Joseph 2015 eine Hymne auf den National Health Service, die 1948 eingeführte staatliche Krankenversicherung. Sie endet mit der Zeile »freedom won’t be freedom until poverty is gone« – »Freiheit ist keine Freiheit, bis die Armut beseitigt ist«. Den Briten ist die Einführung des NHS als Konflikt in Erinnerung geblieben, in dem die arbeitende Mehrheit den Vermögenden etwas abtrotzen konnte. In Deutschland käme niemand auf die Idee, über die AOK ein Freiheitslied zu singen. Der Sozialstaat wird oft funktionalistisch erklärt, als Befriedung seitens der Herrschenden. Oder er gilt als Ausdruck funktionierender Sozialpartnerschaft, die um des sozialen Friedens willen respektiert werden soll. Für Konflikte zwischen den Klassen und Erfolge ist in beiden Erzählungen kein Platz.
In Deutschland neigen wir dazu, Klassenkämpfe zu verdrängen – wahrscheinlich, weil sie in unserer Geschichte ziemlich brutal abliefen. Die gescheiterte Novemberrevolution 1919, die Zerschlagung der Arbeiterbewegung 1933, die Teilung des Landes und der autoritäre Staatssozialismus 1945–1989 – die deutschen Klassenkämpfe im 20. Jahrhundert erzählen eine Geschichte der Gewalt. Linke haben diese Gewalt mitunter abgefeiert. Seit den 1920er Jahren verkürzte die KPD-Folklore Klassenkampf auf den militärischen Aufstand, weshalb Versuche der Wiederaneignung heute weltfremd wirken. Bajonette, Barrikaden, zu Arbeiterliedern umgedichtete Soldatenlieder, viel heroische Männlichkeit – mit unserem Alltag hat das wenig zu tun. Attraktiver scheinen Rufe nach »sozialem Frieden« oder »gesellschaftlichen Zusammenhalt« – nicht das Austragen eines Interessenkonflikt, sondern die Konsenssuche von »Sozialpartnern« soll Probleme lösen.
Doch diese Erzählungen vom Frieden entwaffnen die Arbeitenden. Ihre Gegner haben nie vergessen, das gekämpft wird – auch wenn die Kämpfe in Parlamenten und Institutionen gebändigt sind. Wir brauchen deshalb eine erneuerte Erinnerung an Klassenkämpfe; eine Erinnerung, die historische Gewalt weder leugnet noch überhöht; eine Erinnerung, die den Zusammenhang von Kapitalismus und Faschismus nicht leugnet; eine Erinnerung, die auch Reformen als Errungenschaften erinnert – ohne zu vergessen, dass jede dieser Reformen nur ein Patt sein kann – »bis die Armut beseitigt ist«.
Geschichte will gefeiert werden. Sie muss im Alltag stattfinden und auch die Kinder begeistern. Ein Bedürfnis für gelebte Tradition ist längst vorhanden – dies zeigt das gewachsene Interesse an den Jahrestagen der Arbeiterbewegung. Der Kalender reicht vom Liebknecht-Luxemburg Gedenken im Januar über den Frauenkampftag am 8. März bis zum heutigen 1. Mai. All diese Tage sind umstritten. Zwar führt das stille Gedenken an die Ermordung von Karl Liebknecht und Rosa Luxemburg in der Berliner »Gedenkstätte der Sozialisten« Linke aller Couleur zusammen, die wenig später loslaufende LLL-Demo ist dagegen fest in den Händen von Sektierern. Zum 8. März dagegen setzen feministische Bündnisse eine neue Tonlage, beim 1. Mai geht es auf Gewerkschaftsdemos wieder um Arbeitskämpfe. Doch auch Hüpfburg und Bratwurst sollte man nicht ganz abschreiben – wer schon einmal versucht hat, einen 5-Jährigen zur Latschdemo zu überreden, wird wissen, wovon ich spreche. Geschichte will gefeiert werden – ein Vortrag erreicht das Ohr, doch wenn neben der Hüpfburg die Pommes duftet und der Schalmeienchor den »Roten Wedding« spielt, dann erfasst das alle Sinne.
Wir sollten Geschichte singen und tanzen. Stattdessen organisieren wir die meisten unserer Demos als laufende Vorlesungen mit abgelesenen Redebeiträgen. Lieder gibt es aus dem Lautsprecher – meist wummern jedoch nur die Bässe. Wir sollten das Singen wieder üben, herausfinden, welche von den alten Liedern noch gehen – oder neue erfinden.
Das Erzählen neuer Geschichten über alte Klassenkämpfe ist eine Aufgabe, die Universitäten nicht leisten werden. Sie sprechen weder die Sprache der Arbeitenden noch teilen sie deren Prioritäten. Auch die sozialen Bewegungen sind mit Geschichte oft überfordert. Sie machen Historisches in ganz unerwarteten Momenten lebendig – so können wir dank der Mietenbewegung heute wieder über Vergesellschaftung reden. Doch Bewegungen mobilisieren in kurzen Wellen und Kampagnen. Sie haben selten Institutionen, die Fluktuation der Aktiven ist hoch, die Erinnerung dementsprechend kurz.
Geschichte braucht Organisationen, die fester gefügt sind. Sie braucht institutionelle Ressourcen – und Menschen, die wissen wollen, warum sie sich zusammenschließen. Als Bonn noch Hauptstadt war, waren Geschichtsseminare in der Postgewerkschaft eine Belohnung: wer Tarifrecht fertig hatte, durfte Geschichte der Arbeiterbewegung belegen. Geschichte kann Organisationsbindung erzeugen – wenn sie die Menschen ermächtigt, Sinn in ihren Kämpfen zu finden und deren Ergebnisse zu reflektieren. Dazu braucht es eine Bildungsarbeit, die nicht mit dem Scheinwerfer Jahrestage beleuchtet oder einen diffusen Kreis von Followern berieselt. Es braucht kontinuierliche Selbst-Bildung von Menschen, die sich zusammenschließen, um gemeinsam etwas zu erreichen.
Ralf Hoffrogge ist Historiker und Publizist. Er lebt in Berlin, ist dort seit über zehn Jahren in der Mietenbewegung aktiv und war Mitbegründer von Deutsche Wohnen & Co Enteignen. In der Reihe theorie.org erschien 2017 seine Einführung Sozialismus und Arbeiterbewegung in Deutschland und Österreich. Im September 2025 wird im Brumaire Verlag sein Buch Das laute Berlin über hauptstädtische Mietenproteste seit der Finanzkrise erscheinen.