26. November 2025
Der Historiker Avi Shlaim zögerte erst, von einem Völkermord in Gaza zu sprechen. Im Interview erklärt er, woran er den Genozid dann doch erkannte, und warum er wenig Hoffnung hat, dass die israelische Gesellschaft ihr Unrecht von selbst einsehen wird.

»Ich befürworte einen Staat vom Fluss bis zum Meer, mit gleichen Rechten, mit Freiheit, Würde und gleichen Rechten für alle Menschen, die in diesem Gebiet leben.«
Nach dem Anschlag der Hamas auf Israel am 7. Oktober 2023 war es Israels erklärtes Kriegsziel, die Hamas zu zerstören. Seit dem 10. Oktober 2025 gibt es nun eine Waffenruhe, die in Folge von Trumps sogenanntem Friedensplan verhängt wurde. Vor wenigen Tagen bestätigte der UN Sicherheitsrat mit einer Resolution diesen »Friedensplan«. Dieser soll nach der Waffenruhe die Organisation und den Wiederaufbau des Gazastreifens bestimmen. Während darin festgehalten ist, dass es »einen glaubwürdigen Weg zur palästinensischen Selbstbestimmung und Staatlichkeit« geben soll, sind darin kaum konkrete politische Maßnahmen verankert, die diesen Prozess absichern sollen.
Dazu geht die Zerstörung Gazas weiter: Laut einem Bericht der BBC wurden seit Anfang der Waffenruhe über 1.500 weitere Gebäude von den israelischen Streitkräften gesprengt. Experten schätzen, dass über 80 Prozent der Gebäude in Gaza zerstört oder zumindest stark beschädigt sind. Über 10 Prozent der Bevölkerung sind tot, verletzt oder vermisst.
Aufgrund der Brutalität der israelischen Kriegsführung erhoben die ersten Beobachter bereits im Oktober 2023 den Genozid-Vorwurf, obwohl er vor allem im deutschsprachigen Raum lange umstritten war und bleibt. Einer der ersten, der offen von Genozid sprach, war der britisch-israelische Historiker jüdisch-irakischer Herkunft, Avi Shlaim.
Der emeritierte Professor für internationale Beziehungen an der Universität Oxford gehört zu den neuen Historikern Israels, die eine Geschichtsschreibung jenseits des offiziellen zionistischen Nationalmythos vertreten. Sein jüngstes Buch, Genozid in Gaza: Israels langer Krieg gegen Palästina, ist vor wenigen Wochen in deutscher Übersetzung erschienen. Inwieweit es sich bei Israels Krieg gegen Gaza, der in einen Genozid eskalierte, um eine Kontinuität, aber auch einen Bruch mit Israels Politik gegen Palästina handelt, erklärt Shlaim im Interview mit Jacobin.
Für Ihr neu erschienenes Buch Genozid in Gaza haben Sie ein spezielles Vorwort für die deutsche Ausgabe geschrieben. Bei der Pressekonferenz in Berlin sprach Ihr Verleger Abi Melzer darüber, dass der Titel bei einigen Journalisten in Deutschland für Aufsehen gesorgt hat. Können Sie erklären, warum Sie diesen Titel gewählt haben?
Keines meiner Bücher wurde bisher ins Deutsche übersetzt, daher war es mir besonders wichtig, ein deutsches Publikum zu erreichen. Der Westend Verlag war an der Veröffentlichung der deutschen Ausgabe interessiert, bekam aber schließlich kalte Füße und schlug vor, ein Fragezeichen hinzuzufügen. Der Titel würde dann lauten: »Genozid in Gaza?« Ich war mit dem Fragezeichen nicht einverstanden, da es meiner Meinung nach keine Frage mehr ist, ob Israel sich des Völkermordes schuldig gemacht hat. Abi Melzer, ein deutscher Jude und Antizionist, beschloss daraufhin, das Buch selbst privat zu verlegen und unter dem ursprünglichen Titel ohne Fragezeichen zu veröffentlichen.
Im Vorwort zur deutschen Ausgabe schrieb ich, dass es mir nicht leicht gefallen ist, Israel des Völkermordes zu beschuldigen. Es schien fast pervers, den jüdischen Staat des Völkermordes zu beschuldigen, wo doch die Juden die Hauptopfer des Völkermordes der Nazis im Zweiten Weltkrieg waren. Außerdem habe ich vor einigen Jahren ein Buch veröffentlicht, eine Autobiografie mit dem Titel Three Worlds: Memoirs of an Arab Jew. Ich bin arabischer Jude, da ich in Bagdad geboren wurde und in Israel aufgewachsen bin. Dieses Buch ist eine scharfe Kritik am Zionismus und insbesondere an seiner Behandlung der Juden in den arabischen Ländern.
Aber ich fügte hinzu, dass Israel trotz all seiner Sünden niemals Völkermord begangen hat. Das war meine Position vor dem Ausbruch des Krieges in Gaza. Selbst zu Beginn des Krieges hatte ich nicht den Eindruck, dass Israel Völkermord beging. Der Wendepunkt für mich war, als Israel Hunger als Kriegswaffe in großem Umfang einsetzte. Als Israel jede internationale Hilfe für Gaza einstellte und die Menschen in Gaza von Wasser, Nahrungsmitteln, Treibstoff und medizinischen Hilfsgütern abschottete, war ich überzeugt, dass es sich um Völkermord handelte.
Dann gibt es noch die rechtliche Definition von Völkermord. 1948 wurde die »Konvention zur Verhütung und Bestrafung des Völkermordes« beschlossen, um eine Wiederholung dessen zu verhindern, was den Juden in Nazi-Deutschland widerfahren war. Die Botschaft des Holocaust lautete: Nie wieder, nie wieder für alle, nicht nur für Juden. Die Konvention definiert Völkermord als Handlungen, die mit der Absicht begangen werden, eine ethnische, religiöse oder rassische Gruppe ganz oder teilweise zu zerstören. Was Israel in Gaza tut, ist ein Versuch, eine ganze ethnische Gruppe zu vernichten. Die Konvention listet fünf Kriterien auf, fünf Handlungen, die Völkermord darstellen, und Israel hat sich aller fünf schuldig gemacht.
Das erste Kriterium ist die Tötung von Mitgliedern der Gruppe. Israel hat in Gaza etwa 69.000 Menschen getötet und fast 200.000 verletzt. Das zweite Kriterium ist die Zufügung von psychischem und physischem Leid. Das dritte Kriterium ist die Schaffung von Bedingungen, die das Überleben der Gruppe sehr erschweren. Israel hat Gaza unbewohnbar gemacht. Viertens: die Verhinderung von Geburten in der Gruppe. Israel hat dies durch Angriffe auf das gesamte Gesundheitssystem, einschließlich der Entbindungsstationen in Krankenhäusern, erreicht.
Die fünfte Handlung ist die Überführung von Kindern der Gruppe in eine andere Gruppe. Israel hat sich dessen nicht schuldig gemacht. Aber was Israel getan hat, ist viel, viel schlimmer. Israel hat über 20.000 Kinder in Gaza getötet und 40.000 Kinder zu Waisen gemacht. In einem sehr realen Sinne handelt es sich also um einen Krieg gegen Kinder. Ich bin daher der Meinung, dass Israel sich unbestreitbar des Völkermordes in Gaza schuldig gemacht hat. Und das ist nicht nur meine Meinung; viele führende israelische Experten zum Holocaust, wie Omer Bartov, Amos Goldberg und Raz Segal, sind zu dem Schluss gekommen, dass es sich um einen klassischen Fall von Völkermord handelt.
Könnten Sie näher erläutern, wie sich dieser Völkermord insbesondere auf palästinensische Kinder auswirkt? Sie schreiben, dass Krankenhäuser in Gaza ein neues Akronym einführen mussten: WCNSF (Wounded Child, no surviving family – verwundetes Kind, keine überlebende Familie). In Ihrem Buch sind auch Zeichnungen und Bilder von verwundeten Kindern in Gaza abgedruckt.
Der Angriff auf Kinder ist besonders erschütternd, und der Angriff auf Zivilisten ist sehr bedauerlich, und Israel hat beides getan. Die Tötung von Zivilisten ist falsch, egal ob sie von der Hamas oder von Israel begangen wird, es ist ein terroristischer Akt. Ich betrachte diesen Krieg und die sieben vorherigen israelischen Militäroffensiven gegen Gaza als Akte des Staatsterrorismus. Die wichtigste Unterscheidung im humanitären Völkerrecht wird zwischen Kombattanten und Nichtkombattanten getroffen. Israel hat diese Unterscheidung verwischt.
Israel hat beispielsweise erklärt, dass Zivilisten, die sich weigern, einer Evakuierungsanordnung Folge zu leisten, zu legitimen militärischen Zielen werden. Das ist falsch. Die gewaltsame Vertreibung von Zivilisten ist an sich schon ein Kriegsverbrechen, und Israel begeht dieses Kriegsverbrechen seit zwei Jahren fast täglich. Einige Zivilisten wurden zehnmal oder sogar noch öfter vertrieben. In vielen Fällen werden Zivilisten, die den Evakuierungsbefehlen der IDF Folge leisten, aus der Luft bombardiert und getötet. Es gibt also keine sicheren Zonen in Gaza. Es gibt keinen Ort, an dem sich Zivilisten sicher fühlen können.
»Die Zwei-Staaten-Lösung nicht nur tot ist. Sie wurde nie geboren, weil keine israelische Regierung seit 1967 eine konkrete Formel für eine Zwei-Staaten-Lösung angeboten hat, die selbst für die moderateste palästinensische Führung akzeptabel gewesen wäre.«
Über 70 Prozent der Opfer dieses Krieges sind Frauen und Kinder. Der vorsätzliche Angriff, die Tötung und Verstümmelung von Kindern sind besonders verwerflich, da sie völlig wehrlos sind. Präsident Yitzhak Herzog sagte zu Beginn der Krise, dass es in Gaza keine unschuldigen Menschen gebe. Die 20.000 Kinder, die in Gaza ermordet wurden, sind nach seiner Definition also nicht unschuldig. Der Angriff auf Kinder wurde von genozidalen Äußerungen israelischer Politiker begleitet, die sagten, man solle die Schlangen töten, denn wenn Kinder groß werden, werden sie zu Terroristen. Das ist die perverse moralische Rechtfertigung Israels für die Tötung von Kindern in Gaza. Daher liegt in meinem Buch ein besonderer Schwerpunkt auf dem Krieg gegen Kinder. Und wie Sie bereits erwähnt haben, gibt es einen ganzen Abschnitt mit Fotos von Kindern während des Krieges in Gaza und sehr erschütternden Bildern von echter Grausamkeit, ja sogar Sadismus. Aber die Fotos vermitteln auch die Widerstandsfähigkeit und den Mut der Kinder in Gaza.
Für diese Kriegsverbrechen wurde ein Haftbefehl gegen Benjamin Netanjahu erlassen. In Ihrem Buch beschreiben Sie, wie Netanjahus Handlungen während seiner gesamten politischen Karriere darauf abzielten, einen palästinensischen Staat zu verhindern. Inwieweit würden Sie sagen, dass der aktuelle Kurs der logische Endpunkt seiner gesamten politischen Karriere ist?
Benjamin Netanjahu wuchs in einem sehr nationalistischen zionistischen Elternhaus auf und stand immer am rechten Flügel der zionistischen Bewegung. Er verkörpert einige der negativsten Aspekte des Zionismus, wie Rassismus, Militarismus, jüdische Vorherrschaft, aber vor allem die territorialen Ambitionen der israelischen Rechten, nämlich Groß-Israel. Seine politische Karriere war darauf ausgerichtet, die Entstehung eines palästinensischen Staates neben Israel zu verhindern.
Aber er ist nicht allein, die Likud-Partei hat die Zwei-Staaten-Lösung nie akzeptiert. Die politischen Leitlinien der aktuellen Regierung Netanjahus besagen, dass Juden das ausschließliche Recht auf Souveränität über das gesamte Land Israel haben, zu dem für Nationalisten auch das Westjordanland gehört, oder, wie sie es lieber nennen, Judäa und Samaria. Dies ist eine klare Ablehnung jeglicher nationaler Rechte der Palästinenser im gesamten historischen Palästina. Diese Position der Regierung Netanjahu ist noch extremer als das jüdische Nationalstaatsgesetz vom Juli 2018, das besagt, dass die Juden ein einzigartiges Recht auf Selbstbestimmung im Staat Israel haben. Dies war ein Anspruch auf ausschließlich jüdische Rechte auf Staatlichkeit innerhalb der Grenzen Israels vor 1967, aber es wurde kein Anspruch auf jüdische Souveränität über das Westjordanland erhoben.
Vor dem Angriff der Hamas am 7. Oktober prahlte Netanjahu damit, dass Israel gewonnen habe, dass die Palästinenser besiegt seien und dass Israel ohne Zugeständnisse an die Palästinenser Friedensverträge mit arabischen Staaten schließen könne. Er bezog sich dabei auf die Abraham-Abkommen, die Friedensabkommen zwischen den Vereinigten Arabischen Emiraten, Bahrain, Marokko und dem Sudan, die von Präsident Trump in seiner ersten Amtszeit als Präsident im Jahr 2020 vermittelt wurden.
Für Netanjahu war dies ein großer diplomatischer Sieg: Frieden mit sunnitisch-arabischen Staaten, ohne Zugeständnisse in der Palästinenserfrage zu machen. Früher gab es eine gemeinsame arabische Position zum Frieden mit Israel, die in der Arabischen Friedensinitiative verankert war, die 2002 auf dem Gipfeltreffen der Arabischen Liga in Beirut verabschiedet wurde. Darin heißt es, dass Israel Frieden und Normalisierung mit allen 22 Mitgliedern der Arabischen Liga erreichen kann, wenn es im Gegenzug die Besatzung beendet und einen unabhängigen palästinensischen Staat im Westjordanland und im Gazastreifen mit der Hauptstadt Ostjerusalem anerkennt. Netanjahu hat dieses Angebot stets abgelehnt und Anspruch auf die ausschließliche jüdische Souveränität über das gesamte Gebiet vom Fluss bis zum Meer erhoben. Die Prämisse dieser Politik war, dass die Hamas in der Lage sein würde, den Gazastreifen zu regieren. Die Hamas würde innerhalb des Gazastreifens als Freiluftgefängnis eingedämmt werden, ohne die Sicherheit Israels zu gefährden.
Doch am 7. Oktober startete die Hamas den verheerendsten Angriff auf Israelis seit 1948, wodurch Netanjahus Position untergraben wurde. Der Angriff der Hamas sendete die deutliche Botschaft, dass die Palästinenser nicht an den Rand gedrängt werden, dass die Palästinafrage weiterhin auf der internationalen Agenda stehen wird und dass der Widerstand gegen die israelische Besatzung unter der Führung der Hamas fortgesetzt wird. Daraufhin änderte Netanjahu seine Haltung und kehrte seine Politik um. Nun sagt er, dass die Hamas in keiner Form akzeptabel sei. Sein neues Kriegsziel war die vollständige Auslöschung der Hamas. Dies ist jedoch unmöglich, denn solange es Menschen in Gaza gibt, wird es Widerstand geben. Der Beweis dafür ist, dass die Hamas nach zwei Jahren unerbittlicher Bombardierungen immer noch besteht und weiterkämpft.
Netanjahus anderes Kriegsziel ist die dauerhafte militärische Kontrolle Israels über Gaza. Das unausgesprochene Kriegsziel ist, Gaza unbewohnbar zu machen. Netanjahu ist diesem Ziel schon sehr nahegekommen, indem er über 80 Prozent der Wohnhäuser und der zivilen Infrastruktur in Gaza zerstört hat, indem er das Gesundheitssystem zerstört hat, indem er das Bildungssystem systematisch zerstört hat und indem er die Fähigkeit der Bewohner Gazas, ihre eigenen Lebensmittel anzubauen, drastisch eingeschränkt hat. Bislang ist es ihm gelungen, die Gründung eines palästinensischen Staates zu verhindern.
Sie haben gefragt, ob dies der logische Endpunkt von Netanjahus Karriere ist. In gewisser Weise ist es das, obwohl er zu weit gegangen ist und sich an Völkermord beteiligt hat, was früher nie Teil eines israelischen Plans war. Das ist auf lange Sicht wirklich schädlich, weil er jeden Anspruch Israels auf moralische Überlegenheit zerstört hat. Dies kommt in dem Haftbefehl des IStGH gegen ihn zum Ausdruck, denn jetzt ist der israelische Ministerpräsident ein Kriegsverbrecher, was bedeutet, dass Israel ein krimineller Staat ist. Er hat dem internationalen Ansehen Israels dauerhaften Schaden zugefügt. Er steht wegen schwerer Korruptionsvorwürfe in Israel vor Gericht und ist außerdem ein Flüchtiger vor der internationalen Justiz. Und er weiß, dass wenn seine Partei bei einer Wahl verliert, er seine Immunität verlieren und wahrscheinlich im Gefängnis landen würde. Der Krieg in Gaza war für Israel eine strategische Katastrophe, und ein wichtiger Grund für seine Fortsetzung war Netanjahus Wunsch, nicht ins Gefängnis zu kommen.
Könnten Sie näher erläutern, warum es schon vor Netanjahu nie einen Weg zur palästinensischen Staatlichkeit gab?
Hinter der Zwei-Staaten-Lösung steht ein sehr breiter internationaler Konsens. Konkret bedeutet dies einen unabhängigen palästinensischen Staat im Gazastreifen und im Westjordanland mit der Hauptstadt Ostjerusalem – einen Staat neben Israel, nicht an dessen Stelle. In ihren Reden haben einige Labour-Politiker die Zwei-Staaten-Lösung akzeptiert, aber in Wirklichkeit haben sie nichts unternommen, um sie zu verwirklichen. Der Beweis dafür ist, dass seit 1967 sowohl unter Labour- als auch unter Likud-Regierungen die Siedlungen stetig ausgebaut wurden, was bedeutet, dass sie nicht bereit sind, das gesamte Westjordanland an einen palästinensischen Staat abzutreten.
»Gaza ist nicht arm und unterentwickelt, weil die Menschen faul oder inkompetent sind. Es ist arm und unterentwickelt aufgrund der systematischen israelischen Politik der Ententwicklung.«
Es ist mittlerweile Mode geworden, zu sagen, die Zwei-Staaten-Lösung sei tot. Israel hat sie durch den Bau von Siedlungen, durch die Annexion Ost-Jerusalems im Juni 1967 und durch den Bau der Sicherheitsbarriere im Westjordanland, die etwa 10 Prozent des Gebiets effektiv annektiert und Jerusalem vom Rest des Westjordanlands trennt, zunichtegemacht. Was übrig bleibt, sind isolierte palästinensische Enklaven im Westjordanland, umgeben von israelischen Militärbasen und Siedlungen. Das ist keine Grundlage für einen lebensfähigen, territorial zusammenhängenden palästinensischen Staat.
Ich würde behaupten, dass die Zwei-Staaten-Lösung nicht nur tot ist. Sie wurde nie geboren, weil keine israelische Regierung seit 1967 eine konkrete Formel für eine Zwei-Staaten-Lösung angeboten hat, die selbst für die moderateste palästinensische Führung akzeptabel gewesen wäre. Das ist Punkt eins. Punkt zwei ist, dass keine amerikanische Regierung Israel zu einer Einigung gedrängt hat, sodass der Status quo bestehen blieb. Bis jetzt haben alle amerikanischen Präsidenten, mit Ausnahme von Trump, eine Zwei-Staaten-Lösung unterstützt.
Für westliche Politiker wie Joe Biden und Keir Starmer ist es bequem zu sagen, dass sie eine Zwei-Staaten-Lösung unterstützen. Das klingt vernünftig. Aber sie haben nichts unternommen, um sie zu verwirklichen. Ich bin es leid, immer wieder zu wiederholen, dass die Zwei-Staaten-Lösung tot ist. Ich habe eine deutsche wissenschaftliche Mitarbeiterin, eine ehemalige Doktorandin, und ich habe sie gefragt, wie man das auf Deutsch sagt. Und sie sagte: »Die Zwei-Staaten-Lösung ist tot«.
Nachdem die Hamas 2006 die Wahlen im Gazastreifen gewonnen hatte, reagierten Israel, die Vereinigten Staaten und die Europäische Union nicht mit Anerkennung, sondern mit einem Wirtschaftskrieg gegen den Gazastreifen. Können Sie beschreiben, wie der Gazastreifen in Folge der Wahlen von 2006 systematisch, wirtschaftlich und politisch unterentwickelt wurde?
Israel und seine Verbündeten behaupten, der Angriff der Hamas am 7. Oktober sei ein Blitz aus heiterem Himmel gewesen und die Geschichte beginne an diesem Tag. Aber der Konflikt begann mindestens schon im Juni 1967. Es handelt sich nicht wirklich um einen Konflikt, sondern um eine koloniale Besatzung palästinensischen Landes. Das eigentliche Problem ist die militärische Besatzung durch Israel. Es ist die längste und brutalste militärische Besatzung der Neuzeit. Das ist der wahre Hintergrund; der Angriff der Hamas am 7. Oktober ist Ausdruck des palästinensischen Widerstands gegen die israelische Besetzung. Die Menschen kennen die Geschichte dieses Konflikts zwischen Israel und der Hamas nicht. Die Vergangenheit ist entscheidend für das Verständnis davon, wie es dazu gekommen ist, und es ist meine Aufgabe als Historiker, das Verhalten der Hamas in den richtigen historischen Kontext zu setzen.
Ich möchte einige wichtige Wendepunkte in diesem Konflikt herausgreifen und mit dem Sieg der Hamas bei den palästinensischen Wahlen im Januar 2006 beginnen. Es waren faire und freie Wahlen in den gesamten besetzten Gebieten, und die Hamas hat sie gewonnen. Israel weigerte sich, die demokratisch gewählte Regierung anzuerkennen, und griff zu wirtschaftlichen Sanktionen. Israel zieht im Namen der Palästinensischen Autonomiebehörde Steuern ein und kann diese jederzeit willkürlich einbehalten. Israel tat alles, um der gewählten Regierung die Regierungsführung unmöglich zu machen.
Die Vereinigten Staaten und die Europäische Union stellten sich, zu ihrer ewigen Schande, auf die Seite Israels und weigerten sich, diese Regierung anzuerkennen. Die westlichen Mächte sagen, ihr Ziel sei es, die Demokratie im Nahen Osten zu fördern. Hier gab es ein leuchtendes Beispiel für Demokratie unter den schwierigsten Bedingungen einer militärischen Besatzung, aber die westlichen Mächte ignorierten die Ergebnisse der Wahl völlig. Was sie damit eigentlich sagten, war, dass Demokratie theoretisch eine gute Idee ist, aber dass die Menschen hier die falschen Politiker gewählt haben, sodass wir sie nicht als legitime Regierung akzeptieren können. Sie ergriffen eine Reihe wirtschaftlicher und politischer Maßnahmen, um die Hamas-Regierung zu untergraben.
Im März 2007 bildete die Hamas eine Regierung der nationalen Einheit mit der Fatah und bot Israel Verhandlungen über einen langfristigen Waffenstillstand von 10, 20 oder 30 Jahren an. Das Ziel der Hamas war zuvor ein einheitlicher islamischer Staat vom Fluss bis zum Meer gewesen, aber sobald sie an der Macht war, wurde sie pragmatischer und war bereit, sich mit einem palästinensischen Staat in den besetzten Gebieten zufriedenzugeben. Israel lehnte Verhandlungen ab, und die Regierung der nationalen Einheit brach im Juni 2007 zusammen.
Aus den Palestine Papers, einer Sammlung von 1600 Dokumenten zum Friedensprozess, die an Al Jazeera durchgesickert waren, wissen wir heute, dass es eine Verschwörung gegen die Hamas gab, als sie an der Regierung war. An dieser Verschwörung beteiligt waren die Fatah, Israel, Amerika und der ägyptische Geheimdienst. Sie bildeten ein geheimes Komitee namens Gaza-Komitee. Das Ziel war es, die Hamas zu isolieren, zu schwächen und schließlich aus der Regierung zu vertreiben. Israel und Amerika bewaffneten die Fatah und ermutigten sie, einen Putsch gegen die Hamas zu inszenieren. Im Juni 2007 kam die Hamas einem Putsch der Fatah zuvor, indem sie die Macht in Gaza übernahm. Seitdem wurden Gaza und das Westjordanland von Israel streng voneinander getrennt gehalten, um eine einheitliche Widerstandsbewegung zu verhindern. Nachdem die Hamas die Macht übernommen hatte, verhängte Israel eine Blockade über Gaza. Eine Blockade ist eine kollektive Bestrafung, die nach internationalem Recht verboten ist, und die Blockade des Gazastreifens besteht seit 2007. Diese Geschichte ist sehr wichtig, um den Kontext für den Angriff der Hamas auf Israel am 7. Oktober zu verstehen.
Die führende Expertin für den Gazastreifen, Sara Roy, ist eine jüdische Wissenschaftlerin in Harvard. Das erste ihrer fünf Bücher über den Gazastreifen trug den Titel The Gaza Strip – The Political Economy of De-development. Ihre These lautete, dass Israel seit 1967 eine systematische Politik verfolgt, um den Gazastreifen daran zu hindern, Handel mit der Außenwelt sowie Landwirtschaft und Fischerei zu betreiben. Der Gazastreifen wurde als Quelle billiger Arbeitskräfte und als Markt für israelische Waren ausgebeutet. Gaza ist nicht arm und unterentwickelt, weil die Menschen faul oder inkompetent sind. Es ist arm und unterentwickelt aufgrund der systematischen israelischen Politik der Ententwicklung. Und die letzte und entscheidende Phase dieser konsequenten Politik ist die physische Zerstörung Gazas, die in den letzten zwei Jahren stattgefunden hat.
Kommen wir zurück zur systematischen Trennung zwischen dem Westjordanland und Gaza. Während die Augen der Welt offensichtlich auf Gaza gerichtet sind, wie sieht die Situation im Westjordanland aus?
Die derzeitige Regierung unter Netanjahu hat einige extremistische Koalitionspartner, insbesondere Bezalel Smotrich, den Anführer der Partei Religiöser Zionismus, und Itamar Ben-Gvir, den Anführer der Partei Jüdische Stärke. Dies sind offen rassistische, rechtsextreme, messianische, religiös-zionistische Parteien. Sie sind vor allem Jüdische Supremacisten. Ihr erklärtes Ziel ist die endgültige und formelle Annexion des Westjordanlands als Teil des Landes Israel, und dieses Ziel verfolgen sie seit ihrem Machtantritt im Jahr 2022.
In den letzten zwei Jahren zog der Krieg in Gaza die meiste internationale Aufmerksamkeit auf sich und weg vom Westjordanland. Dies wurde von den Rechten in dieser Regierung genutzt, um die Siedlungen auszuweiten und die ethnische Säuberung des Westjordanlandes zu intensivieren, die seit Jahren stetig voranschreitet. In den letzten zwei Jahren haben wir eine massive Eskalation der Gewalt der Siedler gegen die Palästinenser erlebt. Und dies geschieht mit der Unterstützung der Regierung und dem Schutz der Armee. Man muss das, was Israel in Gaza und im Westjordanland tut, parallel betrachten. In Gaza begann es mit dem Ziel der ethnischen Säuberung, eskalierte zu Völkermord, und im Westjordanland kam es zu einer massiven Verschärfung der Gewalt gegen die Bevölkerung, mit dem Ziel der ethnischen Säuberung ganz Palästinas.
Sie haben Ihr Buch im Oktober 2024 fertiggestellt, aber auf der Pressekonferenz in Berlin haben Sie über Ihre Einschätzung gesprochen, wie es zu Trumps Friedensplan gekommen ist. Können Sie erklären, warum dieser sogenannte Friedensplan, den Trump ermöglicht hat, gerade zu diesem Zeitpunkt kam und nicht früher, als Israel mehrere souveräne Staaten angegriffen hat?
Amerika gewährt Israel jährlich 3,8 Milliarden Dollar an Militärhilfe und diplomatischem Schutz, indem es im Sicherheitsrat sein Veto einlegt, um jede Resolution zu verhindern, die Israel nicht gefällt. Das Problem der amerikanischen Unterstützung für Israel besteht darin, dass sie nicht an die Bedingung geknüpft ist, dass Israel das Völkerrecht oder die Menschenrechte der Palästinenser achtet. Joe Biden war ein Befürworter dieser Politik der bedingungslosen Unterstützung Israels. Während des Krieges in Gaza gewährte, seine Regierung Israel 21,7 Milliarden Dollar an Militärhilfe.
Trump setzte diese Politik fort, bis Israel Doha, die Hauptstadt Katars, angriff. Als Israel den Iran angegriffen hatte, schaltete sich Amerika schließlich ein und griff den Iran ebenfalls illegal an. Der Iran ist ein Feind, aber Katar ist ein enger Verbündeter der Vereinigten Staaten. Katar hatte eine konstruktive Rolle bei den Verhandlungen über einen Waffenstillstand zwischen Israel und der Hamas gespielt. Die politischen Führer der Hamas hatten ihren Sitz in Doha, und Israel versuchte, die Personen zu ermorden, die über einen Waffenstillstand verhandelten. Die größte Militärbasis der USA im Nahen Osten befindet sich in Katar. Dieser Angriff erschreckte nicht nur die Katarer, sondern alle Herrscher am Golf, weil Amerika sie nicht geschützt hatte. Trump zwang Netanjahu, den katarischen Premierminister anzurufen und sich für diesen Angriff zu entschuldigen, und versicherte dann, dass so etwas nicht wieder vorkommen würde.
»Amerika und Israel waren die letzten Unterstützer des Apartheid-Regimes in Südafrika, und Amerika wird der letzte Unterstützer des israelischen Apartheid-Regimes sein.«
Erst nach diesem Angriff auf Doha übte Trump wirksamen Druck auf Israel aus, um einen Waffenstillstand zu erreichen. Aber Trumps sogenannter Friedensplan für den Nahen Osten ist kein Friedensplan. Ich möchte die Bedeutung dieser Entwicklung nicht herabsetzen. Sie führte zum Ende der Kämpfe, zur Wiederaufnahme der humanitären Hilfe für Gaza und zum Austausch der israelischen Geiseln gegen palästinensische Gefangene, also zu drei sehr positiven Entwicklungen.
Der Plan enthält nur sehr wenige Details, aber die vorhandenen Details sehen ein internationales Gremium unter der Leitung von Trump vor, dem ein Exekutivkomitee aus »unpolitischen« Palästinensern unterstellt wäre, also keine Hamas-Leute, sondern handverlesene Personen, die für Israel akzeptabel sind und die den Gazastreifen regieren müssten. Die Palästinenser hätten keine Handlungsbefugnis und kein Mitspracherecht bei der Verwaltung ihrer eigenen Angelegenheiten. Auch gibt es keinen Plan für Wahlen. Am Ende eines Krieges ist es doch naheliegend, den Menschen, die dort leben, zu erlauben, ihre eigenen Angelegenheiten zu regeln. Aber dies ist ein koloniales Projekt, das Amerika und Israel den Palästinensern aufzwingen. Es geht nicht ansatzweise auf das zugrunde liegende Problem ein, nämlich die israelische Besetzung des Westjordanlands und des Gazastreifens.
Es gibt noch eine weitere Dimension. Israel hat den Gazastreifen völlig zerstört, und es wird Jahre dauern, nur die Trümmer zu beseitigen, bevor überhaupt mit dem Wiederaufbau begonnen werden kann. Trumps Plan sieht weder vor, dass Israel den Menschen im Gazastreifen Reparationen zahlt, noch plant Amerika selbst Geld in den Wiederaufbau zu investieren. Die Idee ist, die reichen Golfstaaten zur Kasse zu bitten. Dabei stellt sich die Frage, warum eine arabische Regierung Geld in den Wiederaufbau des Gazastreifens investieren sollte, wenn der nächste israelische Angriff jederzeit erfolgen kann und wir wieder bei null anfangen würden. Es gibt also viele offene Fragen.
Wenn dies kein tragfähiger Friedensplan ist, wie könnte dann ein dauerhafter Frieden erreicht werden? Die rechtsextreme israelische Regierung steht immer wieder im Fokus der Kritik. Gleichzeitig finden die Aktionen in Gaza breite Unterstützung bei der politischen Opposition und der Bevölkerung in Israel. Tatsächlich gibt es eine große Nachfrage nach einem viel härteren Vorgehen gegen Gaza. Sehen Sie Perspektiven für Israel, positive Veränderungen von innen heraus zu initiieren?
Genau das ist heute das Paradox: Netanjahu ist in Israel sehr unbeliebt, der Krieg in Gaza jedoch nicht. Eine Meinungsumfrage ergab, dass mehr als 50 Prozent der Israelis der Meinung sind, dass die IDF nicht genug Gewalt angewendet hat und mehr Gewalt anwenden sollte. In Israel gibt es ein Sprichwort: »Wenn Gewalt nicht funktioniert, wende mehr Gewalt an.« Das ist eine völlig idiotische Vorstellung, denn Gewalt berührt nicht das zugrunde liegende politische Problem. Das Problem ist die koloniale Besatzung durch Israel. Israel hat acht Militäroffensiven gegen Gaza gestartet, beginnend mit der Operation »Gegossenes Blei« im Dezember 2008. Israelische Generäle bezeichnen diese Offensiven als »Rasenmähen«. Rasenmähen ist etwas, das man von Zeit zu Zeit mechanisch tut, aber es verhindert nicht, dass das Gras weiterwächst, sodass man immer wieder zurückkehren und Gaza mehr Tod und Zerstörung zufügen muss.
Diese Regierung spiegelt den Wandel in der israelischen Gesellschaft in den letzten 25 Jahren seit der zweiten Intifada wider, einen Ruck nach rechts. Sie repräsentiert die israelische Öffentlichkeit und ihre Ansichten. Daher sehe ich keine Aussicht auf eine Reform von innen heraus. Ich kann mir nicht vorstellen, dass die israelische Öffentlichkeit eines Tages aufwachen und zur Vernunft kommen wird und sagen wird, dass es falsch war, Gewalt anzuwenden. Das gibt uns keine Sicherheit. Es führt nur zu mehr Gewalt und Blutvergießen. Wenn es zu einer Änderung der Position Israels kommen sollte, dann nur als Ergebnis von Druck von außen. Und der Druck von außen auf Israel nimmt zu, was sich in der wachsenden Zahl von Ländern widerspiegelt, die Palästina anerkennen. Am bedeutendsten waren die Anerkennung durch Großbritannien und Frankreich. Das bedeutet, dass heute im Sicherheitsrat vier ständige Mitglieder – Russland, China und nun auch Großbritannien und Frankreich – Palästina anerkannt haben. Amerika ist das einzige Land, das Israel noch diplomatischen Schutz gewährt. Aber das kann nicht ewig so weitergehen.
Ich glaube, dass Israel letztendlich denselben Weg gehen wird wie Südafrika. Amerika und Israel waren die letzten Unterstützer des Apartheid-Regimes in Südafrika, und Amerika wird der letzte Unterstützer des israelischen Apartheid-Regimes sein. Dies ist ein langfristiger Prozess, in dem Israel internationale Unterstützung und Legitimität verliert. In der Zwischenzeit stellt sich die Frage, wie dieser Konflikt gelöst werden kann. Früher habe ich eine Zwei-Staaten-Lösung unterstützt, bis Israel sie mit seinen Siedlungen zunichtegemacht hat. Jetzt befürworte ich einen Staat vom Fluss bis zum Meer, mit gleichen Rechten, mit Freiheit, Würde und gleichen Rechten für alle Menschen, die in diesem Gebiet leben. Sie mögen sagen, das sei Wunschdenken, aber das ist mir egal, denn die eigentliche Wahl besteht heute nicht zwischen einer Zwei-Staaten-Lösung und einer Ein-Staaten-Lösung.
Die eigentliche Wahl besteht zwischen dem Status quo, Kolonialismus, Apartheid, jüdischer Vorherrschaft und brutaler Gewalt, was für mich völlig inakzeptabel ist. Und einer anderen Lösung, nämlich der Ein-Staaten-Lösung, an die ich glaube. Für mich ist nicht wichtig, ob es ein Staat oder zwei Staaten sind, sondern Gleichberechtigung. Man kann keine Demokratie haben, wenn es zwei Klassen von Bürgern gibt. Und vom Fluss bis zum Meer sind die Palästinenser, einschließlich der palästinensischen Bürger des Staates Israel, Bürger zweiter Klasse. Deshalb möchte ich gleiche Rechte für alle Menschen, die in diesem Gebiet leben. Dazu gehört nicht nur die Befreiung der besetzten palästinensischen Gebiete, sondern auch die Befreiung des Israels vor 1967.