10. Januar 2024
Während Israel seine Zerstörung Gazas fortsetzt, hat US-Präsident Joe Biden sich zwei Ziele gesetzt: Israel weiter bedingungslos unterstützen und einen größeren Krieg in der Region verhindern. Doch diese beiden Ziele könnten sich als unvereinbar erweisen.
US-Präsident Joe Biden bei einem Staatsbesuch in Israel im Oktober 2023.
Während Gaza weiter in Schutt und Asche gebombt wird, hat Präsident Joe Biden zwei geopolitische Ziele für die US-Regierung benannt: Erstens soll es weiterhin bedingungslose Unterstützung für Israel geben; zweitens muss eine Ausweitung der Kriegshandlungen auf die gesamte Nahostregion verhindert werden. Bisher hat er diese beiden Ziele dementsprechend im Tandem verfolgt: So wurden 14 Milliarden Dollar an Unterstützung für die israelische Armee bereitgestellt und gleichzeitig Abschreckungsmannöver gegen Interventionen von außen durchgeführt. Die Entwicklungen der ersten Januar-Woche zeigen aber, dass es schwierig ist, die beiden Ziele mittelfristig miteinander zu vereinbaren.
Da die USA nun auch Angriffe auf die Huthi-Truppen im Roten Meer durchführen, gibt es durchaus Grund zur Annahme, dass die Führung im Weißen Haus zu impulsiv handelt und schlicht unfähig ist, die Krise unter Kontrolle zu bringen. Das Ergebnis könnte ein Konflikt sein, der außer Kontrolle gerät und die ohnehin fragile Hegemonie der USA in der Region gefährdet.
In Washington weiß man, dass Benjamin Netanjahus Ankündigung, die »Hamas zu eliminieren«, weitgehend eine Nebelkerze ist, deren Hauptzweck es ist, seine innenpolitische Macht zu sichern und ihn vor einer drohenden Gefängnisstrafe zu bewahren. Derweil haben sich die israelischen Streitkräfte bisher als deutlich effektiver darin erwiesen, zivile Ziele zu zerstören, als der Hamas ernsthaft Schaden zuzufügen. Die militante Truppe ist offensichtlich zu stark und fest etabliert, um sich Israels Angriffen komplett zu beugen.
Nichtsdestotrotz haben die Vereinigten Staaten Israel ihren Segen gegeben, für die Terrorangriffe vom 7. Oktober Rache zu üben. Man hofft, die führenden Köpfe der Hamas zu töten und damit auch ihre Regierungsfähigkeit einzuschränken, während gleichzeitig der Bevölkerung im Gazastreifen so viel Leid zugefügt wird, dass diese den Willen zum Widerstand verliert. Biden scheint bereit, jeglichen Waffenstillstand zu blockieren, bis es wirklich zu einer solchen Entwicklung gekommen ist. Jedenfalls bekräftigte er in bisher jeder präsidialen Erklärung seine »unerschütterliche Unterstützung« für die Kriegshandlungen.
Dabei wollen die US-amerikanischen Großstrategen im Hintergrund weiterhin den von Barack Obama eingeleiteten »Pivot to Asia« vollenden – ein Programm, mit dem der Aufstieg Chinas durch wirtschaftliches Abwürgen und militärische Einkreisung eingedämmt werden soll. Für die USA bedeutet das auch, sich zumindest teilweise aus dem Nahen Osten zurückzuziehen, sich nicht direkt in »ewige Kriege« in der Region einzumischen und stattdessen lokale Stellvertreter zu nutzen, um die eigenen Interessen durchzusetzen. Sowohl unter Trump als auch unter Biden wurde versucht, die arabisch-israelischen Beziehungen zu normalisieren, um die beiden starken Staaten in einen zuverlässigen regionalen Machtblock einzubinden. Damit sollte eine dauerhafte »Sicherheitsarchitektur« geschaffen werden, die es dem amerikanischen Hegemon ermöglicht, seine Aufmerksamkeit auf andere Weltregionen (wie eben Asien) zu richten.
Die anhaltende Zerstörung des Gazastreifens droht diese geopolitischen Pläne allerdings zu untergraben. So sind die Entspannungsbemühungen zwischen Israel und Saudi-Arabien bereits gefährdet, die Hisbollah und die jemenitische Huthi-Bewegung haben bewaffnete Vergeltungsmaßnahmen gestartet und sogar die Wahrscheinlichkeit einer militärischen Konfrontation zwischen Israel und dem Iran ist gestiegen. So droht ein Flächenbrand, bei dem die Vereinigten Staaten entgegen ihrer Versuche, sich aus der Region zurückzuziehen, gezwungen sein könnten, einzugreifen.
»Israels extrem rechte Regierung wäre überaus zufrieden, wenn ihre Verbündeten und Gegner in die Gewaltspirale hineingezogen und so die kriegerischen Handlungen auf unbestimmte Zeit verlängert würden.«
Das Best-Case-Szenario für Biden wäre daher ein begrenzter Krieg, in dem Israel seine Maximalziele aufgibt, aber dem bewaffneten palästinensischen Widerstandskampf einen schweren Schlag versetzt (und somit vielleicht die Palästinensische Autonomiebehörde wiederbelebt werden kann).
Die Hoffnung auf ein solches Ergebnis erklärt die scheinbare Widersprüchlichkeit des US-Ansatzes: Einerseits muss man Israel weiterhin mit Waffen, Geheimdienstinformationen und diplomatischer Rückendeckung für den Feldzug versorgen – im vollen Bewusstsein der genozidalen Komponente. Auf der anderen Seite beklagt die US-Regierung die steigenden Opferzahlen unter der palästinensischen Zivilbevölkerung und drängt auf eine »gezieltere«, weniger intensiv geführte Militäroperation. In Washington ist man sich bewusst, dass ein anhaltender Krieg das Potenzial hat, sich über den Gazastreifen hinaus auszuweiten.
Israels extrem rechte Regierung hat jedoch andere Ziele: Sie wäre überaus zufrieden, wenn ihre Verbündeten und Gegner in die Gewaltspirale hineingezogen und so die kriegerischen Handlungen auf unbestimmte Zeit verlängert würden. Letztendliche Ziele wären die Entvölkerung Gazas, die Durchsetzung israelischer Souveränität über den Gazastreifen und möglicherweise sogar ein offener Krieg zwischen westlichen Mächten und der sogenannten Achse des Widerstands. Tel Aviv sieht diese Eskalation als notwendig an, um das regionale Kräftegleichgewicht neu zu ordnen, bestehenden Widerstand gegen das zionistische Projekt abzuschwächen und eine Grundlage für die endgültige Massenvertreibung der Palästinenserinnen und Palästinenser zu schaffen.
Angesichts solcher Interessen ist unklar, ob die amerikanischen Appelle zur »Zurückhaltung« einen nennenswerten Einfluss auf die militärischen Aktionen Israels haben. Die Entscheidung darüber liegt letztlich in den Händen einer rechtsradikalen israelischen Regierung mit gewissen neofaschistischen Elementen. Diese Regierung scheint inzwischen sogar bereit und gewillt zu sein, Unabhängigkeit von den USA zu demonstrieren und ihre Feinde im Alleingang zu vernichten.
Dieser Wille spiegelt sich in den Angriffen auf Hamas-Vertreter im Libanon – einer direkten Provokation in Richtung Hisbollah – wider. Andererseits erscheint Netanjahus Befehl vom Neujahrstag, tausende Soldaten aus dem Gazastreifen abzuziehen, wie eine Reaktion auf den Druck der USA, die eine weniger intensive Kampfphase fordern. Diese gemischten Signale deuten darauf hin, dass Israels Führung noch nicht entschieden hat, wie weit sie von den US-Vorgaben abweichen will.
Doch nach den Ereignissen der vergangenen Tage zu urteilen, muss sich Israels Regierung vielleicht gar nicht sonderlich stark bemühen, die Vereinigten Staaten in die besagte Gewaltspirale zu verwickeln. Da die Huthi-Bewegung, die einen Großteil des Jemen kontrolliert, weiterhin Frachtschiffe mit Israel-Bezug im Roten Meer kapert und damit die globalen Lieferketten aus Protest gegen die Belagerung des Gazastreifens unterbricht, hat Washington scheinbar jede rationale Abwägung seiner eigenen Interessen aufgegeben. Eine umsichtige Regierung hätte es angesichts des Kriegs wohl akzeptiert, dass solche lokalen Vergeltungsaktionen unvermeidlich sind, und sich bemüht, das Risiko einer weiteren Eskalation zu minimieren. Biden und Außenminister Antony Blinken reagierten stattdessen mit Aggression: Sie schickten die US Navy; amerikanische Hubschrauber versenkten am 31. Dezember drei Huthi-Schiffe und töteten dabei zehn Besatzungsmitglieder.
»Wäre Biden ein kompetenterer Vertreter des US-Imperiums, würde er versuchen, den Konflikt einzudämmen, Israel in die Schranken zu weisen und die Region zu stabilisieren – um sich dann wieder dem ›Neuen Kalten Krieg‹ widmen zu können.«
Im Weißen Haus scheint man bestrebt, die Situation weiter anzuheizen. Am Mittwoch vergangener Woche wurden zwölf Länder zusammengetrommelt, um ein gemeinsames Ultimatum an die Huthi zu richten. Darin wird die Rebellengruppe gewarnt, dass sie »die Verantwortung für die Konsequenzen tragen« werde, wenn sie die Angriffe nicht einstelle. US-Beamte gaben außerdem bekannt, dass sie Pläne für direkte Militärschläge im Jemen ausgearbeitet haben. Mögliche Ziele reichen von Radaranlagen an der Küste bis hin zu Munitionslagern. Des Weiteren wurden die Vereinten Nationen aufgerufen, koordinierte Maßnahmen gegen die Huthi zu ergreifen, wobei die Schuld für die Entwicklungen im Roten Meer letztlich dem Iran zuzuschreiben sei, der angeblich bei der Koordinierung der Angriffe geholfen habe. In amerikanischen Sicherheitskreisen wird sogar Druck für einen Angriff auf ein in der Seestraße stationiertes iranisches Kriegsschiff gemacht. Dies wäre eine Aktion, die die gesamte Region in Brand setzen und Israels Rechten das erhoffte Geschenk eines großen Krieges machen könnte.
Die Vereinigten Staaten haben freilich schon einmal versucht, die Huthi zu vernichten; durch die Unterstützung des von den Saudis geführten Krieges gegen die Gruppe, der zum Tod von 377.000 Menschen führte und es dennoch nicht vermochte, dem Marionettenregime des jemenitischen Generalmajors Abed Rabbo Mansur Hadi den Sieg zu sichern. Die Huthi scheinen nicht sonderlich besorgt zu sein, wenn sie sich jetzt für die zweite Runde im Kampf rüsten: Nur kurz nachdem die »letzte Warnung« aus Washington eingegangen war, ließen sie Berichten zufolge ein »bewaffnetes, unbemanntes Seefahrzeug« wenige Seemeilen von amerikanischen Schiffen entfernt im Roten Meer detonieren. Ihr Anführer, Abdul-Malik al-Huthi, hat die Vereinigten Staaten seinerseits daran erinnert, dass ein Krieg gegen den Jemen teuer und genauso wenig zu gewinnen wäre wie die vorherigen US-amerikanischen Fehlschläge in Afghanistan und Vietnam.
Die Saudis sind sich dessen offenbar bewusst. Sie haben angesichts der jüngsten Entwicklungen einen kühlen Kopf bewahrt und scheinen nicht gewillt, wieder (beziehungsweise noch tiefer) in das jemenitische Debakel hineingezogen zu werden oder aber den Iran unnötig zu verärgern. Wäre Biden ein kompetenterer Vertreter des US-Imperiums, würde er sicherlich diesem Beispiel folgen und versuchen, den aktuellen Konflikt einzudämmen, Israel in die Schranken zu weisen und die Region zu stabilisieren – um sich dann wieder dem »Neuen Kalten Krieg« widmen zu können. Doch anscheinend sind alte Gewohnheiten für den damaligen Verfechter der Irak-Invasion und den Architekten von Obamas Drohnenkrieg nur schwer abzulegen. Seine »Vorliebe« für militärische Interventionen scheint von deren verheerender Bilanz unberührt zu bleiben.
Wenn sich diese Vorliebe nun erneut im Nahen Osten Bahn bricht, wären die ersten Opfer noch mehr Menschen in der Region. Das zweite Opfer dürfte die US-amerikanische Vormachtstellung in Nahost sein.
Oliver Eagleton ist Redakteur bei der New Left Review sowie Autor des Buches The Starmer Project: A Journey to The Right (Verso, 2022).