14. Dezember 2023
Ecuadors Ex-Außenminister analysiert Israels diplomatische Bemühungen vor dem 7. Oktober, das internationale Image des Staates seit der Offensive in Gaza – und wie dieses Ansehen möglicherweise Schaden nimmt.
US-Präsident Joe Biden spricht mit dem israelischen Premierminister Benjamin Netanjahu während eines bilateralen Treffens in Tel Aviv, 18. Oktober 2023.
Israels Krieg in Gaza – als Vergeltung für den brutalen Terrorangriff der Hamas am 7. Oktober – kommt einer kollektiven Bestrafung der palästinensischen Menschen vor Ort gleich. Eine offensichtliche Folge dieses Krieges ist allerdings auch, dass der Kampf der Palästinenser dadurch wieder in den Fokus der Weltpolitik gerückt wird. Es bleibt nun abzuwarten, ob Israels Angriff eine ausreichend starke internationale Gegenreaktion hervorruft, um den Status quo ante zu verändern. Anders gefragt: Kann die neuerliche internationale Aufmerksamkeit für die Notlage der Palästinenserinnen und Palästinenser Druck für eine politische Lösung erzeugen? Oder wird Israel diese Krise unbeirrt und ohne (spätere) Zugeständnisse an die palästinensische Bevölkerung meistern?
In den vergangenen Jahren hatte die Solidarität vieler Staaten mit der palästinensischen Sache nachgelassen – trotz der weitgehend ungesühnten Übergriffe israelischer Siedler und der Landnahme im Westjordanland, insbesondere unter Israels jüngsten rechtsradikalen Regierungen. Im Gazastreifen stiegen die sozialen, wirtschaftlichen und humanitären Kosten der israelischen Blockade.
Doch die geringe Intensität des Konflikts und eine lediglich langsam schwelende humanitäre Krise, die darüber hinaus auch noch von der Dringlichkeit anderer globaler Katastrophen verdrängt wurde, hat zu einer Art »internationaler politischer Müdigkeit« mit Blick auf die Palästinenser geführt: Die palästinensische Sache hatte bis vor gut zwei Monaten viel von der ihr früher zuteilwerdenden internationalen Aufmerksamkeit eingebüßt.
Israel hat in den letzten Jahren große Anstrengungen unternommen, seine bilateralen Beziehungen zu mehreren ehemals verfeindeten Staaten zu verbessern, insbesondere im Nahen Osten und in Nordafrika. Im Jahr 2020 wurden die Beziehungen zu den Vereinigten Arabischen Emiraten, Marokko und Bahrain durch das sogenannte Abraham-Abkommen normalisiert. Israel und Saudi-Arabien haben auf Betreiben der USA versucht, einen gemeinsamen »Deal des Jahrhunderts« auszuarbeiten. Von den Unterzeichnern des Abraham-Abkommens hat bisher Bahrain (ebenso wie Israels Nachbarstaat Jordanien) als Folge der Gaza-Krise seinen Botschafter aus Tel-Aviv abgezogen.
Selbst die türkische Regierung mit ihren historischen Verbindungen zu den Muslimbrüdern und der Hamas hatte zuletzt die Spannungen mit Israel deutlich abgebaut – jedenfalls im Vergleich zur harten Haltung, die Präsident Recep Tayyip Erdoğan noch 2010 vertrat, bevor der Krieg in Syrien (neben anderen Konflikten) die palästinensische Sache in Ankara in den Hintergrund drängte. Im September 2023 wurde das erste Treffen zwischen Erdoğan und Israels Ministerpräsident Benjamin Netanjahu am Rande der Generalversammlung der Vereinten Nationen von beiden Seiten als Zeichen eines »Tauwetters« in den bilateralen Beziehungen gefeiert.
Daraufhin ernannte die Türkei einen neuen Botschafter in Israel – einen Tag vor dem Hamas-Anschlag vom 7. Oktober. Der Botschafter wurde inzwischen wieder in die Heimat beordert und die Beziehungen zu Israel sind auf einen neuen Tiefpunkt gesunken. Erdoğan bezeichnete Israel kürzlich als »terroristischen« Staat und forderte, dass Inspektoren der Internationalen Atomenergiebehörde (IAEA) entsandt werden müssten, um nach Atomwaffen zu fahnden.
Auch in Afrika – wo viele Staaten historisch gesehen eher mit dem palästinensischen Kampf sympathisieren – war Israel bis zuletzt auf dem diplomatischen Vormarsch. Nach dem Sturz von Präsident Omar al-Bashir 2019 wurden beispielsweise die Beziehungen zum Sudan normalisiert. Auch mit dem Tschad nahm Israel wieder diplomatische Kontakte auf. Diese sind aktuell ebenfalls eingefroren; die tschadische Regierung hat ihren Botschafter wegen der Gaza-Offensive zurückgerufen.
Insgesamt hat sich Israel in den letzten Jahren intensiv um tiefergehende Kooperationsabkommen, insbesondere im Sicherheitsbereich, mit mehreren Subsahara-Staaten bemüht, darunter Nigeria, Ruanda und die Elfenbeinküste. Die israelischen Beziehungen zu Äthiopien, Ghana, Kenia und Uganda waren bis Oktober so gut wie nie zuvor. Die Zusammenarbeit Israels mit afrikanischen Staaten verbesserte sich sogar so sehr, dass das Land kurzzeitig eingeladen werden sollte, einen Beobachterstatus bei der Afrikanischen Union zu übernehmen. Diese Entscheidung wurde rückgängig gemacht, als Algerien und Südafrika mit ihren Vetos ein Machtwort sprachen und damit auf dem Gipfeltreffen der Afrikanischen Union im Februar 2023 in Addis Abeba für diplomatische Verstimmung sorgten.
In Lateinamerika war die propalästinensische Stimmung während der Auseinandersetzungen im Gazastreifen 2008/9 sowie 2014 besonders groß. Die meisten Länder der Region sprachen sich ab 2010 für die Anerkennung eines palästinensischen Staates in den Grenzen von 1967 aus. Die propalästinensischen Positionen veränderten sich jedoch dramatisch, als zwischen 2015 und 2019 in mehreren lateinamerikanischen Ländern rechtsgerichtete Regierungen an die Macht kamen. Mit expliziter Unterstützung der US-Regierung von Donald Trump vertraten Jair Bolsonaro in Brasilien, Jeanine Añez in Bolivien und einige andere ausdrücklich proisraelische Positionen.
»In anderen Ländern erhält Israel hingegen weiterhin große Unterstützung. In den USA, in Lateinamerika und in Subsahara-Afrika hat vor allem der Einfluss christlicher Zionisten und der evangelikalen Kirchen dafür gesorgt.«
Mit dem jüngsten Linksruck scheint Lateinamerika nun größtenteils zu seiner Tradition zurückzukehren, sich eher für palästinensische Selbstbestimmung einzusetzen. Israels Angriff auf den Gazastreifen wurde dementsprechend nicht nur von den üblichen Verdächtigen wie Kuba und Venezuela, sondern auch von anderen lateinamerikanischen Ländern scharf verurteilt: Kolumbien, Chile und Honduras riefen jeweils ihre Botschafterinnen und Botschafter zurück; Bolivien brach die diplomatischen Beziehungen komplett ab. Es gibt aber auch bedeutende Ausnahmen, vor allem in Mittelamerika und ganz aktuell in Argentinien, wo die Präsidentschaft des israelfreundlichen Politikers Javier Milei dafür sorgen dürfte, dass die lateinamerikanische Haltung zum Konflikt in Israel/Palästina gespalten bleibt.
Brasiliens Präsident Luiz Inácio Lula da Silva versucht derweil, die Rolle des Elder Statesman und erfahrenen Vermittlers zu spielen. Das dürfte auch damit zusammenhängen, dass sein Land gerade den Vorsitz im UN-Sicherheitsrat innehat. So hat Lula Israel deutlich vorsichtiger verurteilt als Regierungen in einigen Nachbarstaaten. In den vergangenen Wochen haben sich die Beziehungen aber ebenfalls verschlechtert. Grund dafür sind Streits um die Rolle israelischer Geheimdienste sowie die Vermutung, Brasilien habe israelische Befehle zur Verhaftung mutmaßlicher Hisbollah-Mitglieder in Brasilien ausgeführt, und das jüngste Treffen des israelischen Botschafters mit Ex-Präsident Jair Bolsonaro.
Im Gegensatz zu den USA, westeuropäischen Ländern sowie dem Großteil der NATO-Staaten erkennen sowohl China als auch Russland die palästinensische Staatlichkeit in den Grenzen von 1967 und mit der Hauptstadt Ost-Jerusalem an. Allerdings war es bei keinem der beiden Staaten ein hervorstechender Aspekt der jüngeren Außenpolitik, die Rechte der Palästinenser zu verteidigen. Zwischen Israel und Russland gab es gewisse Spannungen wegen Moskaus Verbindungen zum Iran und zu Syrien. Insgesamt blieben die Beziehungen aber gut, wobei der Krieg in der Ukraine erneut zu Verstimmungen zwischen Ministerpräsident Benjamin Netanjahu und Präsident Wladimir Putin führte.
China ist Israels zweitgrößter Handelspartner. Die Beziehungen zwischen den beiden Ländern wurden bis vor Kurzem offenbar so positiv gesehen, dass die South China Morning Post jüngst titelte: »Israels enge Wirtschaftsbeziehungen zu China haben gut funktioniert – bis zum Gaza-Konflikt.«
Indien erkennt derweil – getreu seiner blockfreien Tradition und mit Blick auf Indira Gandhis Solidarität mit der palästinensischen Befreiungsbewegung (Indien war der erste nicht arabische Staat, der die PLO anerkannte) – ebenfalls eine palästinensische Staatlichkeit an. Seit den Annäherungsversuchen von Premierminister Rao im Jahr 1992 ist das indische Verhältnis zu Israel aber ebenfalls deutlich wärmer geworden. Die Unterstützung Israels für Indien im Kargil-Krieg 1999 gegen Pakistan spielte eine weitere wichtige Rolle bei diesem allmählichen Wandel.
In den vergangenen zehn Jahren hat sich Premierminister Narendra Modi bemüht, diesen Weg konsequent weiter zu gehen, obwohl er zumindest formal noch an Indiens traditioneller »blockfreier« beziehungsweise multilateraler Position festhält. Für Modi sind enge Beziehungen zu Israel auch ein symbolischer Aspekt seiner hindunationalistischen Feindseligkeit gegenüber Muslimen im eigenen Land und dem historischen Feind Pakistan. Im Gegensatz zum früheren Abstimmungsverhalten enthielt sich Indien bei der Abstimmung der UN-Generalversammlung am 27. Oktober, bei der ein Waffenstillstand für den Gazastreifen gefordert wurde. Darüber hinaus ist Indien heute der weltweit größte Käufer israelischer Waffen.
Von den BRICS-Ländern ist Südafrika damit das Land, das »die israelische Apartheid« am schärfsten kritisiert. Die Regierung hat ihren Botschafter abberufen; das Parlament forderte sogar den Abbruch aller diplomatischen Beziehungen, bis Israel einem Waffenstillstand zustimmt.
Das Ausmaß der israelischen Vergeltungsmaßnahmen gegen Gaza bringt nun riesige Veränderungen. Bestärkt durch die zahlreichen Sympathiebekundungen ihrer Bevölkerung haben viele Regierungen inzwischen das Töten unschuldiger Zivilisten durch Israel sowie dessen Verstöße gegen das Völkerrecht und grundlegende Menschenrechte verurteilt.
Das gilt natürlich besonders für den Nahen Osten. Auf dem gemeinsamen Gipfeltreffen der Arabischen Liga und der Organisation für Islamische Zusammenarbeit am 11. November in Riad teilten die Staatsoberhäupter in einer Erklärung mit, Israel handele in Gaza nicht aus Selbstverteidigung. Sie riefen den Internationalen Strafgerichtshof auf, israelische »Kriegsverbrechen« zu untersuchen, verlangten ein Verbot von Waffenverkäufen an Israel und forderten eine verbindliche Resolution der UNO, um die israelischen Angriffe zu stoppen. Es war eine ungewöhnliche Demonstration der Einigkeit in einer ansonsten tief zerstrittenen und gespaltenen Region. Im Zuge dieser jüngsten Entwicklungen besuchte zum ersten Mal seit 2012 ein iranischer Präsident Saudi-Arabien.
»Seit mit dem Beginn des Krieges in der Ukraine einmal mehr die militärische Abhängigkeit Europas von den USA zu spüren ist, steht zu befürchten, dass es keine wirklich unabhängige Position zum israelisch-palästinensischen Konflikt geben wird.«
Der rhetorisch und emotional aufgeladene Gipfel in Riad brachte jedoch keine konkreten Ergebnisse für die beteiligten Staaten. Vorschläge wie der Abbruch der Wirtschaftsbeziehungen, die Kürzung der Öllieferungen oder die Verhinderung des Transits von US-Waffen nach Israel fanden keine einhellige Zustimmung. Dennoch zeigt sich, dass die arabischen Staaten zunehmend frustriert darüber sind, dass der Westen Israel für seine Taten offenbar einen Freifahrtschein ausstellt. Im arabischen Raum ist man offenbar gewillt, zunehmend größere geopolitische Machtspiele zu spielen: Der kürzliche Besuch mehrerer Außenminister der arabischen und muslimischen Länder in China war einerseits ein mutiger Schritt für die Region, andererseits wurde er nur als eine »erste Station einer größeren diplomatischen Reise« angekündigt. Er wurde auch in Peking sehr positiv aufgenommen und entsprechend gespiegelt; Außenminister Wang Yi kritisierte Israels »Kollektivbestrafung« der palästinensischen Bevölkerung.
In anderen Ländern erhält Israel hingegen weiterhin große Unterstützung. In den USA, in Lateinamerika und in Subsahara-Afrika hat vor allem der Einfluss christlicher Zionisten und der evangelikalen Kirchen dafür gesorgt. So beruht Ghanas klare Unterstützung Israels in der aktuellen Krise sowohl auf dem persönlichen Glauben des evangelikalen Präsidenten Nana Akufo-Addo als auch auf seinem politischen Werben um die evangelikalen Christen im Land. In Ghana, wie auch anderswo in Afrika, ist der Geist eines gemeinsamen »Dritte-Welt-Gedankens« verflogen, der 1973 zahlreiche afrikanische Länder dazu veranlasste, die Beziehungen zu Israel wegen des damaligen Krieges abzubrechen.
Auch im Westen ist es Israel gelungen, die dem israelischen Staat freundlich gesinnten politisch mächtigen Gruppen wirksam zu mobilisieren. Die Vorstellung, dass Israel ein westlich-demokratisches Bollwerk im Nahen Osten bildet, während die Angst vor dem schwindenden globalen Einfluss des Westens wächst, ist in konservativen Kreisen sehr verbreitet. Die Vorstellung, Israel sei »ein Gegenmittel im Kampf gegen den Niedergang des Westens«, dominiert vielerorts auch den Diskurs der radikalen Rechten. Selbst in Europa, wo die radikale Rechte traditionell sehr antisemitisch geprägt war, haben Islamfeindlichkeit und der Widerstand gegen Migration in den vergangenen Jahren stark an Einfluss gewonnen und einer klassischen Anti-Israel-Haltung somit den Rang abgelaufen.
Entscheidende Fragen sind somit: Wie wird sich die politische Mitte zukünftig positionieren? Welches Narrativ wird sich durchsetzen? Wo wird Europa – wo erhebliche Teile der Öffentlichkeit propalästinensische Ansichten vertreten und wo die politische Klasse in dieser Frage deutlich gespaltener ist als in den Vereinigten Staaten – letztendlich stehen? Wird der politische EU-Mainstream den Apellen von Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen folgen, die sich vehement für Israel einsetzt? Oder hören sie auf den Aufruf des früheren französischen Außenministers Dominique de Villepin, der den Westen aufforderte, »die Augen zu öffnen«?
Seit mit dem Beginn des Krieges in der Ukraine einmal mehr die militärische Abhängigkeit Europas von den USA zu spüren ist, steht einerseits zu befürchten, dass es keine wirklich [von den USA] unabhängige Position zum israelisch-palästinensischen Konflikt geben wird. Andererseits drängt die Angst vor Gegenreaktionen und Widerstand der eigenen Wählerschaft die europäische Politik zu einem vorsichtigen diplomatischen Kurs, der mittelfristig zu einer stärkeren Kritik an Israel führen könnte. Wir beobachten bereits heute, dass einige Politikerinnen und Politiker ihre ursprünglichen Positionen zaghaft ändern. Das steht im Zusammenhang mit einer Zunahme der Opfer der israelischen Militäraktionen, mit Debatten in den Hinterzimmern der Parlamente sowie mit Meinungsumfragen und Protesten, die die Unzufriedenheit in der eigenen Bevölkerung deutlich machen.
Ob die internationale Gemeinschaft mehr Druck für eine langfristige politische Lösung auf Israel ausübt, wird letztlich davon abhängen, wie groß die öffentliche Empörung weltweit ist beziehungsweise noch wird. Dies wiederum ist bedingt durch die Frage, wie weit Israel bei der aktuellen Gewalt gegen Zivilisten gehen will.
»Nach einer längeren Pause ist das Thema Palästina wieder auf dem Tisch.«
In vergangenen Konflikten haben Palästinenserinnen und Palästinenser stets ein Vielfaches mehr an Todesopfern zu beklagen gehabt als Israelis. Im Gaza-Krieg 2014 wurden nach Angaben des UN-Menschenrechtsrats beispielsweise 67 israelische Soldaten und sechs Zivilpersonen getötet, gegenüber 2.251 Palästinensern, 60 Prozent davon Zivilistinnen und Zivilisten. Beim aktuellen Angriff auf den Gazastreifen sind Stand jetzt rund 16.000 Menschen getötet worden, davon 40 Prozent Kinder. Bei den schrecklichen Angriffen der Hamas Anfang Oktober wurden rund 1.200 Israelis getötet.
Ganz kühl und rein verhältnismäßig betrachtet entsprechen Israels derzeitige Aktionen also den früheren »Strafen« gegen Palästinenserinnen und Palästinenser. In absoluten Zahlen ist im heutigen Krieg jedoch eine neue Stufe der Eskalation erreicht. Angesichts der über 1,7 Millionen Binnenvertriebenen und mehr als der Hälfte der Gebäude im nördlichen Gazastreifen, die beschädigt oder zerstört wurden, sind das Ausmaß und insbesondere die Geschwindigkeit der Zerstörung beispiellos für die Region.
In der Vergangenheit konnte Israel trotz breiter internationaler Kritik stets standhaft bleiben und seine Interessen durchsetzen – weil es von den USA bedingungslos unterstützt wurde. Es ist unwahrscheinlich, dass sich diese Unterstützung nun drastisch ändert, aber es scheint erste Brüche im Konsens zu geben. Die öffentliche Stimmung in den USA hat sich in der israelisch-palästinensischen Frage in den vergangenen Jahren kontinuierlich verändert. Zum ersten Mal haben nun mehrere Kongressmitglieder aus der Partei des Präsidenten in dieser Frage mit ihm gebrochen; viele rufen zu einem Waffenstillstand auf. Berichten zufolge gibt es auch im Außenministerium Widerspruch gegen Joe Bidens Haltung.
Wenn die Massaker in Gaza weitergehen, könnte die US-Regierung zu der Überzeugung gelangen, dass sie ihren knallhart proisraelischen Unterstützungskurs auf ein neues Niveau heben muss. Dies könnte im Gegenzug dem Ansehen der Regierung innerhalb der amerikanischen Bevölkerung schaden, nicht zuletzt bei den jüngeren Wählerinnen und Wählern an der Basis der Demokratischen Partei. Außerdem könnten andere Staaten sowie die internationale Gemeinschaft bei einer harten Haltung verprellt werden – China und Russland dürften von einer solchen neuen Isolation der USA profitieren.
Für Israel droht so ein militärischer Pyrrhussieg mit negativen politischen Folgen (sofern denn von einem militärischen Sieg gesprochen werden kann). Wie oben beschrieben, stehen einige der wichtigsten diplomatischen Fortschritte der letzten Jahre bereits auf der Kippe. Israel kann das rein theoretisch egal sein: Der Staat hat in der Vergangenheit bereits massive internationale Anfeindungen erlebt und überstanden; schließlich kann er auf mächtige Verbündete und seine nukleare Abschreckung bauen, um solche Kritik und Widerstände auszugleichen. Man könnte Israels jüngste diplomatische Bemühungen sogar so verstehen, dass man sich einen »Puffer« aufbaut, der bei der nächsten Krise die Wucht der (verbalen und diplomatischen) Angriffe abfängt. Frei nach dem Motto: Was sind schon ein paar diplomatische Wortgefechte und diese oder jene abgezogene Botschafterin? Wenn internationale Anfeindungen von der israelischen Regierung nicht wirklich ernst genommen werden, und solange Israels militärische Macht oder wirtschaftliche Stellung davon nicht ernsthaft bedroht werden, ist es unwahrscheinlich, dass solche Kritik Netanjahus innenpolitische und/oder Sicherheitsinteressen übertrumpfen kann.
Abschließend lässt sich festhalten: Nach einer längeren Pause ist das Thema Palästina wieder auf dem Tisch. Es bleibt jedoch die Frage, ob das Ausmaß der israelischen Militäraktionen und seiner tödlichen Gewalt einen Paradigmenwechsel in der internationalen Politik auslöst, der Israels Legitimität grundlegend untergräbt. Sollte letzteres nicht geschehen, könnte die Notlage der Palästinenserinnen und Palästinenser bald wieder aus dem Blickfeld der Weltöffentlichkeit verschwinden – wie es in der Vergangenheit schon so oft der Fall war.
Guillaume Long ist Senior Policy Analyst beim Center for Economic and Policy Research in Washington, DC. Zuvor hielt er diverse Regierungsposten in Ecuador, zuletzt war er dessen ständiger Vertreter bei den Vereinten Nationen in Genf.