04. November 2021
In Reaktion auf EU-Sanktionen lockert Belarus seine Grenzkontrollen. Die EU wiederum rüstet auf. Geflüchtete werden zum Spielball eines geopolitischen Konflikts – mit tödlichen Folgen.
Militär errichtet Stacheldrahtzaun in der Nähe der polnischen Stadt Krynki, 1. September 2021.
Im Mai dieses Jahres zwang Belarus ein Ryanair-Flugzeug zur Landung, um den oppositionellen Journalisten Roman Protasewitsch zu verhaften. Dieses Manöver ist in der EU vielerorts zum Inbegriff für Luftpiraterie geworden. Nachdem die gefälschten Wahlen im August letzten Jahres für Brüssel bereits ein Grund waren, Sanktionen zu verhängen, bot die erzwungene Landung im Frühjahr die Gelegenheit, ein viertes, verschärftes EU-Sanktionspaket gegen Belarus zu beschließen. Dieses sieht Maßnahmen wie das Einfrieren von Vermögenswerten und die Verhängung von Einreiseverboten in die EU gegen Dutzende von Personen vor, die beschuldigt werden, die Repressionen gegen regierungskritische Demonstrationen organisiert zu haben. Außerdem wurde belarussischen Flugzeugen der Zugang zum Luftraum der Europäischen Union untersagt.
Doch die Erwartung seitens der EU, die Sanktionen würden Alexander Lukaschenko dazu zwingen, »einen echten und umfassenden nationalen Dialog mit der Bevölkerung einzuleiten«, stellte sich bereits nach kurzer Zeit als naiv heraus. Stattdessen kündigte der langjährige Präsident im Frühjahr an, dass Belarus seine Grenzkontrollen gegen in den Westen ziehende Geflüchtetenbewegungen und den Drogenhandel lockern werde: »Jetzt müsst ihr sie selbst fangen«, kündigte er an. Im Grenzgebiet zwischen Belarus und den Nachbarländern Litauen, Lettland und Polen – allesamt EU-Mitgliedstaaten – wurde diese Warnung schon bald in die Tat umgesetzt.
Bereits Anfang 2021 war die Zahl der Grenzübertritte gestiegen. Im Mai überquerten noch etwa 90 Menschen die Grenze von Belarus nach Litauen, im Sommer stieg diese Zahl sprunghaft an. Im Juni warf die litauische Regierung Lukaschenko vor, als politische Strategie vermeintlich »illegale« Migrantinnen und Migranten nach Litauen einzuschleusen. Innenminister Agnė Bilotaitė behauptete, die Menschen, die nach Minsk geflogen werden, würden »enorme Summen« an belarussische Beamte zahlen, um zu unbewachten Abschnitten der stark bewaldeten Grenze geführt zu werden. Da die litauische Regierung nicht in der Lage war, die Grenzübergänge eigenständig zu kontrollieren, errichtete sie entlang der 400 Kilometer langen Grenze einen vier Meter hohen, mit Stacheldraht versehenen Metallzaun.
Litauens Darstellung zufolge ist das Land zum Ziel der »hybriden Kriegsführung« von Lukaschenkos Verbündeten geworden, die mit staatlichen Reiseagenturen zusammenarbeiten, um Touristenvisa anzubieten, Flüge zu organisieren und Menschen von Minsk zur litauischen Grenze zu transportieren. Belarus bestreitet diese Anschuldigungen: Im Juli behauptete der belarussische Vertreter bei der Organisation für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa (OSZE), der Anstieg der Zahlen sei auf die Konflikte in den Heimatländern der Asylsuchenden sowie die Lockerung der COVID-19-Grenzschließungen zurückzuführen. Er beschuldigte Litauen, die krisenhafte Situation zu »politisieren«.
Eine solche Instrumentalisierung des Flucht- und Migrationsthemas ist nichts Neues. Man erinnere sich beispielsweise an Erdoğans Drohung, »Millionen von Geflüchteten« in die EU zu lassen oder sie sogar mit Bussen an die griechische Grenze zu bringen, wenn er keine europäische Unterstützung für die türkische Militäroffensive in Syrien erhalte. Dass sich ähnliches nun auch an der nordöstlichen Grenze der EU – die seit der Osterweiterung der EU in der Mitte der 2000er Jahre selbst Ausgangsort von Asylbewegungen ist – abspielt, ist jedoch eine neuere Entwicklung. Bis vor kurzem kamen die meisten Asylsuchenden aus dem Süden und über das Mittelmeer oder die Balkanroute in die EU. Doch heute entwickelt sich die Ostflanke der EU zu einem Eingangstor zur »Festung Europa«.
Tatsächlich werden die Menschen, die diese Grenzen überqueren oder dort festsitzen, Teil der politischen Manöver des Lukaschenko-Regimes. Kriminelle staatliche und private Gruppierungen nutzen das Schicksal dieser Geflüchteten zu ihren eigenen Zwecken aus. Aber das Narrativ, das Litauen und seine EU-Nachbarn zu unschuldigen Opfern eines hybriden Krieges erklärt, verschleiert, dass Massenverhaftungen, kollektive Rückführungen, eine Politik der Einschüchterung und zunehmende Xenophobie in der »Festung Europa« längst Realität sind. Diese »Grenzkrise« wurde bisher vor allem in Bezug auf Polen öffentlich debattiert, ihren Ursprung hat sie jedoch in Litauen. Und sie wurde durch die rhetorischen und politischen Positionen der dortigen konservativ-liberalen Regierung verschärft, die sich von den postsowjetischen Autoritären abgrenzt und einen überzeugten »Europäismus« rühmt, der vermeintlich Lichtjahre von den Machenschaften von Viktor Orbáns Fidesz-Partei in Ungarn oder Jarosław Kaczyńskis nationalkonservativer PiS-Partei in Polen entfernt ist.
Zum Entstehungszeitpunkt dieses Artikels wurden in Litauen im Jahr 2021 bisher weit über 4.000 Fälle von illegaler Migration registriert – im Vergleich zu nur 470 im gesamten Jahr 2020. Von 2.800 Asylbewerberinnen und -bewerbern wurde keinem einzigen Menschen Schutz gewährt. Neben 320 abgelehnten Anträgen sind weitere 325 Verfahren »eingestellt« worden. Viele Asylsuchende sind also entweder untergetaucht oder freiwillig zurückgekehrt.
Die Nullquote bei den erfolgreichen Asylanträgen lässt sich auf zwei Gründe zurückführen: Zum einen auf das Antragsverfahren, das darauf ausgelegt ist, so viele Anträge wie möglich abzulehnen, und zum anderen auf die Art und Weise, wie die litauische Regierung die nach Litauen kommenden Menschen darstellt.
In ihrem Bemühen, den Grenzübertritt weiterer Menschen zu verhindern, bezeichnet die litauische Regierung alle Menschen, die in Litauen Asyl beantragen, als »Wirtschaftsmigrantinnen und -migranten« und nicht als Geflüchtete. Der Verweis auf ökonomische Beweggründe soll die Flucht der ankommenden Menschen delegitimieren. Die gesamte Sphäre der Ökonomie wird somit entpolitisiert und ihre Verknüpfung mit Gewalt und Verfolgung geleugnet.
Wie die Soziologin Raia Apostolowa feststellt, werden so zwei voneinander getrennte Motive der Flucht definiert: Menschen, die vor Bombardierungen, Hinrichtungen und Mord fliehen, tun dies unfreiwillig. Die Flucht aus ökonomischen Beweggründen wird dagegen als freiwillig begriffen, schließlich sei die ökonomische Situation ein Resultat persönlicher Entscheidungen und durch den eigenen freien Willen veränderbar. Diese Abgrenzung folgt der Ideologie, dass wir Strapazen von Armut, Ungleichheit und Arbeitslosigkeit ertragen müssen oder sie sogar notwendig sind, um unser »unternehmerisches« Selbst zu fördern. Statt zu fliehen, sollte man also lieber warten, bis sich der Markt stabilisiert und die wirtschaftlichen Probleme von selbst verschwinden. Diese Argumentation verfolgt eine für die europäischen Staaten nützliche Strategie: Wenn man einmal akzeptiert hat, dass die wirtschaftliche Sphäre gewaltfrei sei, dann ist Europa selbst den Menschen, die vor der brutalsten kapitalistischen Ausbeutung fliehen, in keiner Weise verpflichtet.
Darüber hinaus bezeichnet die litauische Regierung die Asylsuchenden als »verführte Massen«, die zu Spielfiguren in Lukaschenkos geopolitischen Schachzügen werden. Beispielsweise versuchte Außenminister Gabrielius Landsbergis auf Facebook, potenzielle Migrantinnen und Migranten davon abzuhalten nach Litauen zu kommen. In dem Post betont er, dass sie von Belarus getäuscht würden, man sie nur um ihr Geld bringen wolle und ihre Leichtgläubigkeit oder Unwissenheit auszunutze. Niemand sollte daher erwarten, Asyl gewährt zu bekommen.
Die rhetorischen Verrenkungen des Außenministers drängen die individuellen Geschichten der Asylsuchenden an den Rand der öffentlichen Aufmerksamkeit. Doch hinter der Gegenüberstellung von »Wirtschaftsflüchtlingen« und »echten« Asylsuchenden verbirgt sich eine weitere, subtilere Agenda. Die meisten Menschen, die bisher die litauische Grenze passiert haben, sind irakische Staatsbürger. Viele nahmen Direktflüge von Istanbul und Bagdad nach Minsk und erhielten bei ihrer Landung belarussische Touristenvisa. Einige von ihnen sollen von dort aus nach Litauen eingereist sein und Asyl beantragt haben. Andere versuchten, in andere europäische Länder zu gelangen. Die Erzählung der litauischen Regierung muss um zwei weitere Aspekte ergänzt werden.
Viele der aus dem Irak kommenden Geflüchteten sind irakische Jesidinnen und Jesiden, die den versuchten Völkermord durch den Islamischen Staat überlebt haben. Ein Jeside, der derzeit in einem sogenannten Migrantenzentrum lebt, beschreibt die Situation folgendermaßen: »Wenn du in Sinjar leben willst, musst du eine Waffe haben ... Du kannst jederzeit getötet werden.«
Viele der Ankommenden haben im Jahr 2019 an den Massenprotesten im Irak teilgenommen, bei denen sie ihre Wut über die Korruption, die hohe Arbeitslosigkeit, die schlechten öffentlichen Versorgungssysteme und das imperialistische Vorgehen der USA zum Ausdruck brachten. Bei den Demonstrationen wurden mehr als 400 Menschen getötet und weitere 17.000 verletzt. Zahlreiche Aktivistinnen und Aktivisten wurden seither bedroht, schikaniert, entführt und getötet.
Viele der Menschen, die in Litauen festsitzen, stammen aus der Demokratischen Republik Kongo oder Kamerun. Im Gegensatz zu den irakischen Geflüchteten haben sie ihr Land nicht über Nacht verlassen, um nach Europa zu kommen. Berichten zufolge halten sich die meisten von ihnen mit Studierenden- oder Touristenvisa mehrere Wochen in Belarus auf. Als Grund für ihre Ankunft in Belarus geben sie häufig an, dass sie aus der Demokratischen Republik Kongo fliehen mussten. Andere berichten, dass sie als Studierende an belarussischen Universitäten rassistischen Angriffen ausgesetzt waren und deshalb nach Litauen kamen.
Ein weiterer großer Teil der Antragstellenden kommt aus Mali, einem Land, in dem Litauen im Rahmen der laufenden MINUSMA-Operation Truppen stationiert hat. Die MINUSMA gilt als die derzeit gefährlichste »Friedenssicherungs-Mission« der UN, bei der bisher über 200 Soldaten ums Leben gekommen sind. Sie wird von der französisch geführten Operation Barkhane unterstützt, einer Mission zur Widerstandsbekämpfung, die die Regierungen der Länder in der Sahelzone – Mauretanien, Mali, Burkina Faso, Niger und Tschad – bei der Bekämpfung des islamistischen Terrorismus unterstützen soll.
Schon ein flüchtiger Blick auf die Herkunft der derzeit in Litauen festgehaltenen Menschen widerlegt also das Bild der »verführten Massen«, die aus Opportunismus die Grenze überqueren. Ein Drittel dieser Menschen sind Kinder. Berichten zufolge sind mindestens 500 von ihnen jünger als zehn Jahre alt; weitere 150 sind unbegleitet. Laut der Kinderrechtsbeauftragten Edita Žiobienė haben einige von ihnen »ernsthafte gesundheitliche Beschwerden wie Entwicklungsstörungen, zerebrale Lähmungen, Autismus oder Epilepsie«. Das Leben hinter Gittern in geschlossenen Wohneinheiten ohne angemessene Spiel- und Bewegungsmöglichkeiten ist eine große Belastung für ihr geistiges und körperliches Wohlbefinden. Im September wurde in Litauen der erste Todesfall eines Geflüchteten registriert – ein zehnjähriges Kind, das sich noch von einer im vergangenen Jahr erlittenen Kopfverletzung erholte.
Die Historikerin Joy Neumeyer sieht in der aktuellen Situation einen weiteren Beweis dafür, dass »in der ›Festung Europa‹ die Abschottung der neue Normalzustand ist«. Nachdem Europa der Türkei und Libyen Mittel zuwies, um Migranten fernzuhalten, die Patrouillendichte im Mittelmeer erhöhte und Österreich, Griechenland und Bulgarien neue Grenzanlagen errichteten, werden nun auch an den Grenzen zwischen Belarus und Litauen, Lettland und Polen Zäune gebaut. Diese Umzäunung der nordöstlichen Flanke der Festung Europa wird sowohl durch gesetzgeberische Maßnahmen als auch durch gewaltsame Pushbacks zementiert und führt dazu, dass Geflüchtete an den Grenzen der EU festsitzen.
Im Juni dieses Jahres verabschiedete Litauens Parlament mehrere Gesetzesänderungen, um die Migration einzudämmen. Die darin enthaltenen Bestimmungen sind selbst im Vergleich mit den Gesetzesvorhaben der autoritärsten Regierungen einzigartig. Das eilig entworfene Gesetz ermöglicht, Asylsuchende für mindestens sechs Monate nach ihrer Ankunft zu inhaftieren. Zudem wurde die Einspruchsmöglichkeit für abgelehnte Asylsuchende abgeschafft und Asylsuchende dürfen schon vor einer endgültigen Entscheidung über ihren Antrag abgeschoben werden. Außerdem wurden die meisten grundlegenden Rechte im Kontext eines Asylverfahrens aufgehoben, darunter das Recht auf Rechtshilfe, das Recht auf Übersetzung und das Recht, Informationen über den eigenen Status und das Asylverfahren zu erhalten.
Diese Gesetzesänderungen verstoßen nicht nur sowohl gegen die litauische Verfassung als auch gegen die Europäische Menschenrechtskonvention, sondern sie degradieren auch die Asylsuchenden zu Menschen zweiter Klasse, die ihrer elementarsten Rechte beraubt werden. Die Maßnahmen haben die Selektivität der litauischen Asylpolitik deutlich gemacht. Noch im vergangenen Jahr inszenierten sich die litauischen Behörden als entschiedene Verteidiger der Menschenrechte, nachdem sie den »humanitären Korridor« für belarussische Oppositionelle eingerichtet hatten, die vor Verfolgung flohen. Auf Anweisung des Innenministeriums wurden jedoch Menschen, die sich im August dieses Jahres an der Grenze zu Litauen befanden, nach Belarus zurückgedrängt, weil es angeblich ein sicheres Land für nichteuropäische Asylsuchende sei.
Dies ging mit weiteren Repressionen einher, wobei die Grenzschutzbeamten ermächtigt wurden, Gewalt gegen Einreisende anzuwenden. Minsk schlug bald darauf zurück, indem es die Grenze des Landes schloss, um zu verhindern, dass die von den litauischen Behörden abgewiesenen Migrantinnen und Migranten wieder nach Belarus gelangten. Im Ergebnis bleiben die Asylsuchenden zwischen den Grenzen der beiden Länder gefangen.
Die Folgen dieses brutalen Vorgehens traten Ende September zutage, als vier Menschen an der polnisch-weißrussischen Grenze an Unterkühlung und Erschöpfung starben. Diese Todesfälle ereigneten sich in einem Grenzgebiet, über das der Ausnahmezustand verhängt wurde und das daher für Journalistinnen, NGO-Vertreter und sogar medizinisches Personal unzugänglich ist. Ähnliche vermeidbare Tragödien werden sich bald wahrscheinlich auch an der litauisch-belarussichen Grenze ereignen.
Die litauische Regierung hat ihr Möglichstes getan, um das Völkerrecht außer Kraft zu setzen und das Verhalten der Regime, die sie angeblich ablehnt, nachzuahmen, wenn nicht sogar zu überbieten. Sie sendet Menschen in den Kriegsgebieten die klare Botschaft, dass Europa bereit ist, sie alle abzuweisen – auch, wenn Litauen mehr als 4.000 Geflüchtete aufnehmen musste.
Das Asylsystem des Landes scheint heute vor allem darauf ausgelegt zu sein, ein möglichst menschenfeindliches Umfeld zu schaffen, das es ermöglicht, die Zurückweisung von Geflüchteten zu beschleunigen. Dazu werden die Asylsuchenden mittels Drohungen zu einer »freiwilligen« Rückkehr genötigt, unter menschenunwürdigen Bedingungen untergebracht und sogar Pläne für Offshore-Inhaftierungslager geprüft.
Reporter des litauischen öffentlich-rechtlichen Rundfunks haben aufgedeckt, dass Beamte in den »Migrantenzentren« Ad-hoc-Befragungen durchführen, um Asylbeantragende einzuschüchtern und sie dazu zu drängen, der Rückkehr in ihre Heimat zuzustimmen. Nach Aussage eines kamerunischen Staatsangehörigen sagten »Beamte der Migrationsbehörde während des Gesprächs, Litauen sei wie Belarus, viele Menschen hier seien Rassisten«. Daraufhin erklärte man ihm, er habe zwei Möglichkeiten: »Entweder gehen Sie freiwillig oder wir werden Sie mit Gewalt abschieben«. Diese Aussage wird durch viral gegangenes Video untermauert, das den Abgeordneten Laurynas Kasčiūnas – Vorsitzender des parlamentarischen Ausschusses für nationale Sicherheit und Verteidigung – im Streit mit einer Gruppe von Asylantragstellenden zeigt. Darin behauptet er, Asylsuchende würden mehr Geld erhalten als litauische Rentnerinnen und Rentner. Er droht ihnen an, dass sie für den illegalen Grenzübertritt »zwei Jahre Gefängnisstrafe« erhalten werden, wenn sie ihre Abschiebung nicht akzeptieren. Tatsächlich sind Menschen, die eine Grenze illegal überschreiten, um Asyl zu beantragen, nach internationalem Recht nicht strafbar.
Der Versuch, Ängste und Ressentiments zu schüren, spiegelt sich auch in der Entscheidung wider, die Geflüchteten unter unzumutbaren Bedingungen unterzubringen. Aufgrund des beschränkten Zugangs zu Unterkünften für Geflüchtete war es lange Zeit kaum möglich, Informationen über die dortigen Lebensumstände zu sammeln. Doch der jüngste Bericht der Ombudsleute des litauischen Parlaments liefert einige Einblicke.
Darin heißt es, dass die Asylsuchenden in Zelten und Hangars untergebracht werden, die nicht ordnungsgemäß abgedichtet sind, sodass viele bei Regen auf feuchten Matratzen und Laken schlafen müssen. Diejenigen, die in modularen Wohneinheiten untergebracht sind, müssen sich Duschen und Toiletten teilen, die nicht abgeschlossen werden können, und haben keinen Zugang zu warmem Wasser. Mindestens 67 Asylsuchende leben in einer ehemaligen Schulturnhalle, die sie nur für 15 Minuten am Tag verlassen dürfen. Der Beauftragte stellt in seinem Bericht fest, dass solche Auflagen gegen die UN-Antifolterkonvention verstoßen. Die in Litauen ankommenden Menschen haben nur Anspruch auf die nötigste medizinische Versorgung und werden somit nicht täglich medizinisch versorgt. So werden die Bedürfnisse besonders vulnerabler Gruppen ignoriert. Menschen mit Down-Syndrom, Schizophrenie und anderen Behinderungen erhielten beispielsweise keinerlei Behandlung. Im Nachwort des Berichts werden die Lebensbedingungen in den Unterbringungen wenig überraschend als »unmenschlich« und »entwürdigend« bezeichnet.
Der Vorschlag, Offshore-Auffanglager außerhalb der Festung Europa zu errichten, ist der jüngste Vorstoß in der Schaffung eines möglichst »menschenfeindlichen Umfelds«. Der sozialdemokratische Abgeordneten Dovilė Šakalienė – Mitglied einer Partei, die sich selbst als Litauens einzige fortschrittliche, linke politische Kraft bezeichnet – schlägt vor, dass Asylsuchende in diesen Zentren »kontrolliert« werden, bevor sie in Europa ankommen. Der Oppositionsabgeordnete verweist dabei auf eine »Best Practice«, die sich bereits in Dänemark bewährt habe.
Das dänische Parlament verabschiedete in diesem Jahr ein Gesetz, das die Einrichtung ähnlicher Zentren in Drittländern ermöglicht. Menschen, die sich auf dem Weg nach Dänemark befinden, sollen so die Entscheidungen über ihre Asylanträge bereits im Ausland erhalten, ohne europäisches Festland zu betreten. Als weitere innovative Lösung gilt der Vorschlag, Asyl in den Ländern zu gewähren, in denen die Zentren eingerichtet werden. Nach dem dänischen Modell wäre das Ruanda – ein Land, das in hohem Maße von Unterstützung aus den EU-Staaten abhängig ist und deshalb eine solche Forderung nicht ablehnen kann.
Diese vermeintliche »Best Practice« aus Dänemark wird als pragmatische Lösung angepriesen. Tatsächlich exportieren solche Maßnahmen lediglich die von Europa verursachten humanitären Krisen in den globalen Süden. Die Anthropologin Gražina Bielousova legt treffend dar, dass diese Maßnahmen die Last der Verantwortung auf Drittländer abwälzen, die weder die Einhaltung von Menschenrechten für Asylsuchende noch für ihre eigenen Staatsbürgerinnen und Staatsbürger garantieren können. In der Asylpolitik der europäischen Mächte wiederholt sich ein altes Muster ausbeuterischer Kolonialpolitik. Asylsuchende werden zu menschlichem Abfall erklärt, der im globalen Süden entsorgt werden soll.
Inzwischen sollte klar sein, dass in der Darstellung der »Gefküchtetenkrise« durch die litauischen Behörden Xenophobie und Rassismus durchklingt. Neben den oben genannten Ausuferungen wurden Asylsuchende beschuldigt, die Delta-Variante des Coronavirus zu verbreiten, sie wurden als »kleine grüne Männer« (in Anspielung auf getarnte russische Soldaten) bezeichnet, die ins Gefängnis gehören, und sie wurden verdächtigt, an kriminellen und terroristischen Handlungen beteiligt zu sein.
In der breiten litauischen Öffentlichkeit findet diese Stimmungsmache nicht überall Anklang. Neben anekdotischen Belegen aus Fernsehinterviews, wonach Geflüchtete »keine Bedrohung« darstellen, und Geschichten von Dorfbewohnern, die Geflüchtete mit Lebensmitteln versorgen, gibt es auch Spendenkampagnen, die von Wohlfahrtsverbänden, NGOs und aktivistischen Organisationen wie dem Foreigners’ Support Network Lithuania organisiert werden.
In den letzten Monaten kam es jedoch auch zu einer Zunahme xenophober Vorfälle. Ende Juli protestierten die Einwohner von Rūdninkai – einem Dorf, das nur zehn Meilen von der litauischen Hauptstadt entfernt ist – gegen die Pläne der Regierung, ein Lager für bis zu 1.500 Asylsuchende zu errichten. Sie versuchten, die Durchfahrt von Lastwagen mit Gegenständen für das Zeltlager durch eine Blockade zu verhindern. Andere hingen Transparenten auf mit Slogans wie »Wir fordern, dass niemand aufgenommen wird«, »Strafrechtliche Verfolgung illegaler Migranten« und »Schützt das litauische Volk, bewaffnet euch und verteidigt euch«. Gruppen von Bürgerinnen und Bürgern, ausgerüstet mit Warnwesten, Pfefferspray und Funkgeräten, patrouillierten nicht nur abends im Dorf und in der Umgebung, sondern begannen auch, »verdächtige« Fahrzeuge zu kontrollieren. Solche Vorfälle werfen die Frage auf, wie die Eskalation der Xenophobie in Litauen zu erklären ist – einem Land, in dem Rechtsextreme bisher nicht wie anderswo vermehrt Zuspruch bei den Wahlen erfahren hatten.
Es wäre falsch, die vom polnisch-amerikanischen Soziologen Jan Gross vertretene Position zu verteidigen, Osteuropa sei quasi von Natur aus intolerant, abgeschottet und antidemokratisch. Wie andere bereits betont haben, führt diese Argumentation aus drei Gründen in die Irre. Erstens unterschätzt sie die asylfeindliche Stimmung und die daraus folgenden Gräueltaten in Ländern wie Deutschland oder auch im sozialdemokratischen Dänemark, dessen Politik sich nicht mehr viel von der ungarischen unterscheidet. Zweitens wird das Verhalten der rechten Regierungen der Region mit der allgemeinen gesellschaftlichen Stimmung gleichgesetzt. Schließlich widerlegt selbst ein Blick auf Meinungsumfragen solche Behauptungen. In der Europäischen Sozialerhebung 2016 stimmten in Litauen beispielsweise 34 Prozent der Bevölkerung der Aussage zu, dass »die Regierung bei der Beurteilung von Anträgen auf Zuerkennung des Flüchtlingsstatus großzügiger sein sollte« – in Belgien, Italien, Österreich, Deutschland oder den Niederlanden teilte ein geringerer Anteil der Befragten diese Position.
Möglicherweise liefern die Realitäten und Nachwirkungen der postkommunistischen Transformation ein bessere Erklärung. Wie in weiten Teilen des postsowjetischen Raums war auch in Litauen das erste Jahrzehnt des Übergangs zum Marktkapitalismus geprägt vom Zusammenbruch ganzer Industriezweige, Massenarbeitslosigkeit, zunehmender Ungleichheiten zwischen Stadt und Land und Krisen der sozialen Reproduktion.
Die überstürzte Deregulierung der Arbeitsmärkte förderte durch die Ausbreitung von ungesicherten Arbeitsverhältnissen, befristeten Arbeitsverträgen, Teilzeitarbeit und der Erodierung vertraglicher Verhältnisse durch die sogenannte Umschlagvergütung vor allem die Prekarisierung. Diese prekären Beschäftigungsverhältnisse führten zu einer verschärften Ausbeutung und zu belastenden Arbeitsbedingungen. In der unmittelbaren Folge nahm die Zahl der Konfliktsituationen und tödlichen Verletzungen am Arbeitsplatz zu, auch ein Anstieg von selbstverletzendem Verhalten und Suiziden war zu verzeichnen. Die drastische Verschlechterung des durchschnittlichen Lebensstandards in diesem ersten Jahrzehnt scheint nun der Vergangenheit anzugehören, doch die anhaltenden Ungleichheiten bei Einkommen und Vermögen sowie die wachsende Zahl der Menschen, die in Armut leben, sind vielen Menschen in Litauen nach wie vor allzu präsent.
Mit den ökonomischen Veränderungen veränderte sich auch die Sprache, mit der die soziale Wirklichkeit beschrieben und neu gestaltet wurde. Begriffe wie »Klasse« (und »Klassenkampf«) wurden in den 1990er Jahren aus der öffentlichen Debatte, den Medien und den Sozialwissenschaften getilgt. Während diejenigen, die solche Begriffe verwendeten, versteckter Verbindungen zum historischen Kommunismus bezichtigt wurden, reduzierte der neoliberale Jargon die Sprache auf bloße Slogans, um die Kritik an den gesellschaftlichen Verhältnissen zu verdrängen.
Da der Klassenbegriff nun ins Museum der überholten Kategorien verbannt wurde, wie Jan Toporowski und Piotr Żuk betonen, musste die Politik zwangsläufig neue entwickeln. An die Stelle der Bezugnahme auf den Klassenbegriff traten Überlegungen zu demokratischen liberalen Rechten und Erwägungen zu verantwortungsvoller Regierungsführung, die darauf ausgerichtet waren, den Staat aus Wirtschaft und Gesellschaft herauszuhalten. Der Kampf für mehr Gerechtigkeit wurde fortan mit der Bekämpfung von Korruption gleichgesetzt.
Schon bald konnten sich diejenigen, denen die soziale Sicherheit genommen wurde, nur noch auf die Kategorie der Nation beziehen. In der Blütezeit der postkommunistischen Transformation machte sich der der Neoliberalismus den Nationalismus zunutze, um die »Schocktherapie« in den baltischen Staaten zu legitimieren. Der darauffolgende Abschwung stellte diese Logik auf den Kopf. Nach der Krise von 2007/08 – Produktionseinbrüche, Arbeitsplatzverluste und priavte Verschuldung waren in dieser Region besonders stark ausgeprägt –, wurde auf die neoliberale Politik, die weiterhin ihrem eigenen Scheitern entgegen stolperte, zunehmend mit Nationalismus reagiert.
Der Versuch, die soziale Realität ausschließlich durch eine nationale Linse zu interpretieren, führte dazu, dass die Verschlechterung der Situation des »ethnonationalen Volkes«, wie Don Kalb es nennt, auf die Machenschaften einer sogenannten kosmopolitischen herrschenden Klasse zurückgeführt wurde. Letzterer wurde vorgeworfen, die »ausländischen Anweisungen« aus Brüssel über die Interessen »der Nation« zu stellen – zum Beispiel bei der (nur sehr partiell erfolgten) Verteidigung von LGBT-Rechten. Lange Zeit hieß es, das ethnonationale Volk sei unfähig, sich an die »neue Normalität« anzupassen, weil es in sowjetischer Nostalgie schwelge und sich in die Vergangenheit zurücksehne. In Reaktion darauf begannen sich Nationalistinnen und Nationalisten, gegen einheimische (Roma sowie russisch- und polnischsprachige Minderheiten) und ausländische Überschussbevölkerung abzugrenzen, deren Belange die kosmopolitische Klasse angeblich vorrangig behandelte. Auch heute fühlen sich viele Litauerinnen und Litauer vom Versprechen des globalen neoliberalen Wohlstands ausgeschlossen, der ihnen einst als Nebeneffekt der sogenannten Rückkehr nach Europa in Aussicht gestellt wurde. Sie sind unzufrieden darüber, dass sie nicht in gleichem Maße am Reichtum des Westens teilhaben – zu dem sie sich zugehörig fühlen. Und sie fürchten sich davor, als Bürgerinnen und Bürger zweiter Klasse behandelt zu werden.
In einer Region, die in diesem Maße unter den verheerenden Auswirkungen des finanzialisierten Kapitalismus und neoliberaler Sparmaßnahmen gelitten hat, sollte es nicht überraschen, dass die politischen Debatten von Geschichten vernichteter Existenzen, Finanzkatastrophen und verwehrter Zukunftsperspektiven geprägt sind. Diese Erfahrungen werden für die Ziele eines ethnischen Nationalismus instrumentalisiert, der die Bevölkerung in eine schützenswerte einheimische Bevölkerung und eine verachtenswerte Überschussbevölkerung einteilt. Gesellschaftlicher Zusammenhalt und Solidarität werden dadurch unweigerlich zur Rarität.
Die litauische extreme Rechte, die bisher nicht in der Lage war, ihre Macht zu vergrößern, verspricht sich von der sogenannten Grenzkrise beträchtliche Wahlgewinne in der Zukunft. Eine wiedererstarkte Linke wird die Flucht- und Migrationsfrage neu formulieren müssen. Anstatt in dieser Frage die von manchen als nachrangig angesehene Dimension der Kultur und Wertesysteme in den Mittepunkt zu stellen, müssen die wirtschaftlichen und geopolitischen Hintergründe in den Fokus gerückt werden. Nur so werden neue Formen der Solidarität entstehen können.
Jokubas Salyga ist Postdoc-Stipendiat der Kone-Stiftung am Aleksanteri-Institut der Universität Helsinki.
Jokubas Salyga ist Postdoc-Stipendiat der Kone-Stiftung am Aleksanteri-Institut der Universität Helsinki.