06. März 2021
Nach Jahren stagnierender Umfragewerte und rückläufiger Wahlergebnisse hofft DIE LINKE, dass sie mit einer neuen Führung zu ihren früheren Erfolgen zurückkehren wird. Doch dazu braucht es mehr als neue Gesichter an der Spitze.
Nettgemeinter Hashtag oder tatsächlicher Neuanfang? Die neu gewählten Parteivorsitzenden Janine Wissler und Susanne Hennig-Wellsow rufen beim digitalen Parteitag von DIE LINKE den #Aufbruch aus.
Die einzige sozialistische Partei im deutschen Bundestag hat ein neues Führungsduo. Janine Wissler, ein Shootingstar im linken Flügel der Partei, und Susanne Hennig-Wellsow, Parteichefin in Thüringen, wo DIE LINKE an der Spitze einer Mitte-links-Koalition regiert, treten die Nachfolge der langjährigen Parteivorsitzenden Bernd Riexinger und Katja Kipping an, nachdem sie auf dem digitalen Parteitag am 27. Februar mit überwältigender Mehrheit gewählt wurden.
Riexingers und Kippings fast neunjährige Amtszeit, ursprünglich ein Zweckbündnis zwischen dem nominell äußerst linken Flügel der Partei und dem gemäßigten Lager, brachte zunächst eine gewisse interne Stabilisierung, führte aber auch zu einer unleugbaren Stagnation. Die Umfragewerte der Partei liegen seit Jahren zwischen 6 und 9 Prozent. Dem konnten weder die Patzer in den eigenen Reihen etwas anhaben, noch war man in der Lage, aus den Fehltritten anderer Kapital zu schlagen, was den Spiegel letztes Jahr dazu veranlasste, sie als eine »scheinbar erstarrte Partei« zu bezeichnen.
Keiner der beiden Ko-Vorsitzenden erwies sich als besonders charismatisch oder medienaffin, noch konnten sie die Art von Ausstrahlungskraft entfalten, die Oppositionsparteien brauchen, um in der Öffentlichkeit dauerhaft präsent zu bleiben. Auch deshalb wurde ihre Führung von der ehemaligen Fraktionsvorsitzenden Sahra Wagenknecht und anderen Kritikern, die schließlich mit Aufstehen einen unglücklichen Versuch einer links-populistischen Sammlungsbewegung starteten, wiederholt in Frage gestellt. DIE LINKE, so die Kritik, habe ihren Glanz als Oppositionspartei verloren.
Die Wahl von Wissler und Hennig-Wellsow wird daher innerhalb der LINKEN als Chance für einen parteipolitischen Aufbruch gefeiert. Der Parteitag, auf dem sie gewählt wurden, verlief im Vergleich zu den letzten auffallend friedlich, mit wenigen offenen Auseinandersetzungen. Angesichts der kommenden Landtags- und Bundestagswahlen hatte sich der Konsens etabliert, dass jetzt die Zeit für Einigkeit und Parteiaufbau gekommen sei. Was für eine Partei da genau aufgebaut werden soll, bleibt jedoch auffallend vage.
Der Aufstieg von Wissler und Hennig-Wellsow, die keine starke innerparteiliche Opposition haben, markiert die Konsolidierung eines neuen Parteizentrums, das sich erheblich von den Kräften unterscheidet, die sich in den Jahren 2004–2007 zur Gründung der Linkspartei zusammenschlossen. Damals war die PDS an der Fünf-Prozent-Hürde gescheitert und bangte um ihr politisches Überleben. In der Zwischenzeit hatte die SPD unter Gerhard Schröder ihren linken Flügel, verkörpert durch den ehemaligen Finanzminister Oskar Lafontaine, drangsaliert. Als die SPD begann, die Hartz-Reformen zu verabschieden, die einen bedeutenden Teil der Parteibasis in den Gewerkschaften entfremdeten, schlossen sich Lafontaine und einige weitere SPD-Linke zur WASG zusammen.
Diese beiden Strömungen bildeten bei der Gründung der Partei die Hauptkomponenten. Hinzu kamen kleinere linksradikale Gruppierungen, die in DIE LINKE die Möglichkeit sahen, ihre radikale Politik auf die nationale Bühne zu hieven. Zahlenmäßig in der Minderheit, prägten sie aufgrund ihrer vergleichsweise jungen Mitgliedschaft und ihrer Neigung zum Daueraktivismus die Partei an der Basis in überdurchschnittlichem Maße. Die Gründungsgenerationen von PDS und WASG konnten im Vergleich nur mit Mühe neue Kader aufstellen.
Fünfzehn Jahre später hat von den Quellparteien der LINKEN nur die PDS ihr Ziel erreicht: DIE LINKE ist heute zweifelsohne eine bundesweite politische Kraft, die erstmals in ihrer Geschichte sogar mehr Mitglieder aus dem Westen als aus dem Osten zählt. Doch der Preis dafür war hoch: Sowohl die ostdeutsche Identität als auch die ostdeutsche Basis der Partei schwindet. DIE LINKE hat in den neuen Bundesländern rapide an Einfluß verloren, da ihre traditionelle Mitgliedschaft wegstirbt und sie ihren Status als ostdeutsche Protestpartei zunehmend an die AfD verliert. Obwohl viele Ostdeutsche nach wie vor eine prominente Rolle in der Partei spielen, sind die meisten von ihnen zu jung, um einen bedeutenden Teil ihres Lebens in der DDR verbracht zu haben. Eine für den Osten spezifische Identität spielt in ihrer Politik kaum eine Rolle.
Das Ziel der WASG hingegen, die SPD zu ihrer alten Politik zurückzudrängen oder als führende Partei der Arbeiterbewegung an ihre Stelle zu treten, hat sich nicht eingelöst. Der Rückhalt der Partei innerhalb der Gewerkschaftsbewegung, immer noch eine der stärksten in Europa, ist nicht größer als bei der Gründung der Partei – vielleicht ist er sogar schwächer. Während die Unterstützung für die SPD in den letzten zehn Jahren massiv eingebrochen ist und die Partei nun bei 15 Prozent liegt, hat sich diese Entwicklung nicht in Zugewinne für DIE LINKE übersetzt.
Der scheidende Parteivorsitzende Bernd Riexinger, selbst langjähriger Funktionär bei Ver.di, sprach mit Leidenschaft davon, eine »verbindende Partei« aufbauen zu wollen, die die Arbeiterschaft mit anderen sozialen Bewegungen vereint. Doch obwohl die Partei im Pflegesektor einige Fortschritte gemacht hat, scheint seine Botschaft im Großen und Ganzen bei der SPD-Basis nicht viel Anklang gefunden zu haben. Ehemalige Sozialdemokraten werden stattdessen passiv oder, schlimmer noch, laufen nach rechts über. Infolgedessen – und trotz aller guten Absichten – wird DIE LINKE zunehmend eine Partei junger, fortschrittlicher Großstädter, die unter den Industriearbeitern und in ländlichen Gegenden an Rückhalt verliert.
Angesichts der schwindenden organisierten Arbeiterschaft und ostdeutschen Identitätspolitik, haben sich die oben erwähnten Milieus junger Aktivistinnen und Aktivisten in vielerlei Hinsicht als die »Gewinner« der veränderten Zusammensetzung der Partei erwiesen. Die neue Parteispitze verkörpert diese Realität. Obwohl sich die Ko-Vorsitzenden ideologisch erheblich voneinander unterscheiden – Wissler war bis vor kurzem Mitglied der trotzkistischen Gruppe Marx21, während Hennig-Wellsow die Thüringer Partei durch ihre gesamte Regierungszeit geführt hat –, begannen beide ihre politischen Karrieren als Aktivistinnen an der Universität in den frühen 2000er Jahren und waren für den größten Teil ihres Erwachsenenlebens hauptamtliche Parteifunktionärinnen und Parlamentarierinnen.
Flankiert werden sie von einem Parteivorstand, der sich zunehmend aus Nachwuchspolitikern mit ähnlichem Werdegang zusammensetzt. Zwar ist die neue erweiterte Führung jünger und äußerlich vielfältiger als je zuvor, aber auch sie besteht vor allem aus Funktionären. Oft sind die Partei und deren Jugendverbände die einzige politische Arena, die sie je kennengelernt haben. Wie PDS-Urgestein André Brie bereits 2018 schrieb, kämen durchaus junge Menschen zur Partei, doch führe der allgemeine Mangel an aktiven Mitgliedern dazu, dass neue Rekruten schnell aufsteigen und zwar »wissen, wie man Mehrheiten auf Parteitagen organisiert«, aber oft »kein Gefühl mehr für normale Leute« haben. Das lässt sich vor allem an der »hippen«, subkulturellen Ästhetik ablesen, mit der die Partei versucht, ihr Image aufzufrischen, was allerdings mehr schlecht als recht gelingt.
Sahra Wagenknecht und ihre Anhänger äußern berechtigte Sorgen über die Verschiebung der Partei hin zu kleinbürgerlichen urbanen Milieus. Doch sie neigen dazu, diese Entwicklung als Ergebnis einer bewussten Entscheidung der scheidenden Führung zu betrachten, die sie spöttisch als »Latte-Macchiato-Linke« abtun. Zwar hat sich insbesondere Katja Kipping bemüht, die Partei als »erste Adresse« für »junge Leute, die die Welt verändern wollen« zu etablieren. Das allein erklärt jedoch nicht, warum die Partei in ihren traditionellen Milieus Schwierigkeiten hat. Schließlich braucht jede politische Partei junge, enthusiastische Mitglieder, wenn sie auf der Straße präsent sein will.
Die Analyse des Wagenknecht-Lagers, auch wenn sie manchmal einen wahren Kern trifft, wird der Komplexität der Verhältnisse nicht gerecht. Sie baut auf stereotypen Vorstellungen darüber, wer »die Arbeiterklasse« ist und was sie will (ein bisschen mehr Recht und Ordnung, ein bisschen weniger Feminismus und Antirassismus) – vor allem aber ignoriert sie den breiteren historischen Kontext zugunsten einer vereinfachenden Erklärung. Letztlich macht sie eine zugegebenermaßen schwache Parteiführung für grundlegendere Veränderungen verantwortlich, die über den Einflussbereich der eigenen Parteiführung hinausgehen.
Die Verschiebung zur urbanen Mittelschicht betrifft nicht nur DIE LINKE in Deutschland, noch begann sie unter der Führung von Kipping und Riexinger. Die Abkopplung der gesellschaftlichen Linken von ihrer historischen proletarischen Basis war ein jahrzehntelanger Prozess, der weniger in veränderten ästhetischen Präferenzen oder politischen Verschiebungen an der Spitze wurzelte, sondern vielmehr im relativen Niedergang der Schwerindustrie und dem gleichzeitigen Aufstieg der Dienstleistungsindustrie. Diese Entwicklungen beschleunigten die Zersplitterung der Arbeitermilieus, die nach dem Zweiten Weltkrieg begann, und höhlten die Communities aus, die einst das Fundament der Linken bildeten. Als die SPD in den späten 1990er Jahren ihre neoliberale Wende einleitete, war dieser Prozess bereits weitgehend abgeschlossen.
Praktisch bedeutet die Erosion der organisierten Arbeiterschaft, dass Politik zunehmend zur Beschäftigung der Mittel- und Oberschicht wird. Historisch gesehen galt das für die meisten politischen Kräfte sowieso, aber nicht für die Linke, die Millionen Arbeiterinnen und Arbeiter für ihre Klasseninteressen sensibilisierte und sie zu einem mächtigen politischen Block organisierte, der seine Interessen nicht nur durch Protestmärsche, sondern auch durch Streiks, Wahlsiege und manchmal sogar Revolutionen durchsetzte. Diese Entwicklung war in Deutschland besonders ausgeprägt – zumindest bis 1933.
»Es gibt keine Abkürzungen, um eine solide sozialistische Mehrheit in Deutschland aufzubauen, aber die Tatsache, dass die wohl wichtigste sozialistische Partei Europas eine Strategie verfolgt, die anderswo bereits scheiterte, ist nicht gerade beruhigend.«
In den historischen Massenparteien der Arbeiterbewegung trafen junge Linksintellektuelle auf eine proletarischen Basis, wodurch beide Gruppen ein Stück weit politisch vorangebracht wurden. Das ist heute nicht mehr so. Innerhalb der jungen Generation der Partei herrscht vielmehr die Vorstellung vor, Arbeiterinnen und Arbeiter seien eine von vielen unterdrückten Gruppen, die sie zu vertreten suchen. Ein abstraktes Bekenntnis zur Macht der organisierten Arbeiterbewegung mag in ihrer Rhetorik noch vorkommen, aber praktisch spielt die Arbeiterklasse als politisches Subjekt keine gesonderte Rolle. Und wie sollte sie auch? Eine erfolgreiche sozialistische Arbeiterbewegung kennen sie nur aus den Geschichtsbüchern.
Die neuen europäischen Linksparteien und auch der Aufstieg (und Fall) von Jeremy Corbyn in Großbritannien markieren die jüngsten Versuche, die sozialistische Bewegung wiederzubeleben. Doch in ihren erfolgreichen Episoden wurden sie größtenteils von wohlmeinenden Aktivisten vorangetrieben, die sich überwiegend aus der gebildeten Mittelschicht speisen. Was die aktive Parteimitgliedschaft der LINKEN angeht waren Arbeiter vermutlich nie ein besonders wichtiger Bestandteil. Das ist aber im Jahr 2021 noch mehr der Fall als je zuvor. Parteimitglieder tun sich entsprechend schwer damit, ihre Sprache zu sprechen, weil sie schlicht nicht ihre ist.
Was DIE LINKE und viele neue linke Formationen ausbremst, ist also nicht das Schreckgespenst der »Identitätspolitik« – ein schlecht definierter Begriff, der oft eher als Schimpfwort verwendet wird –, sondern eine Politik, die man als »identitätsstiftend« bezeichnen könnte: Politik nicht als Ableitung objektiver wirtschaftlicher Interessen, sondern als Frage der moralischen Haltung. So verstanden, geht es in der Politik weniger darum, eine Strategie zu entwickeln, um gesellschaftliche Mehrheiten zu organisieren, sondern darum, die ideologisch richtige Weltanschauung zu vertreten und das korrekte ästhetische Empfinden auszustrahlen – eine Tendenz, die kürzlich vom scheidenden Abgeordneten Fabio De Masi heftig kritisiert wurde.
Dieser politische Habitus erklärt auch, warum die zentrale Botschaft des letzten Parteitags nicht etwa eine spezifische politische Position oder das Programm der LINKEN für die kommende Bundestagswahl war. Der Fokus lag vielmehr auf dem klaren Bekenntnis der Führung zu ihren queerfeministischen und antirassistischen Überzeugungen. Sicherlich sollte eine sozialistische Partei all diese Dinge sein. Wer behauptet, dass solche Begriffe per se Wähler aus der Arbeiterklasse abstoßen, die sich nur für Löhne und Gesundheitsversorgung interessieren, der macht es sich zu einfach. Dennoch ist die Frage berechtigt, ob diese Botschaften bei Menschen außerhalb der unmittelbaren Anhängerschaft der Partei große Resonanz erzeugen, geschweige denn, ob sie ihnen einen ausreichenden Grund geben, DIE LINKE zu wählen.
Identitätsstiftende Politik neigt dazu, die Unterscheidung zwischen moralischen Prinzipien und strategischen Prioritäten zu verwässern und fördert einen Ansatz, der im Wesentlichen besagt, dass alle Themen und gesellschaftlichen Auseinandersetzungen gleich wichtig sind; dementsprechend solle DIE LINKE als »Partei in Bewegung« agieren, und dabei diese Bewegungen miteinander »verbinden«. Aber was heißt das konkret? Welche strategischen Hebel kann die Partei identifizieren und stärken, um eines Tages die Macht zu übernehmen und die Gesellschaft neu zu gestalten?
Die Antwort der LINKEN auf diese Frage ist nebulös: der Kampf für Veränderungen sei sowohl »auf der Straße als auch im Parlament« zu führen. Fridays for Future, Black Lives Matter und Gewerkschaften könnten sich »gleichermaßen« der Unterstützung der Partei sicher sein. Und schließlich sei auch das »Organizing« besonders hervorzuheben. Anstatt sich explizit auf die Arbeiterklasse zu berufen, neigt die Partei dazu, von einer »Gesellschaft der Vielen« zu sprechen – eine Wendung, die direkt aus Jeremy Corbyns (inzwischen verworfenem) Playbook abgekupfert wurde und auf Deutsch noch hölzerner klingt als auf Englisch.
Doch wenn uns die letzten sechs Jahre irgendetwas gelehrt haben, dann, dass dieser Ansatz dem immensen politischen und wirtschaftlichen Druck nicht gewachsen ist, der Sozialistinnen und Sozialisten entgegen steht, wann immer sie kurz davor sind, eine nationale Wahl zu gewinnen – was angesichts der düsteren Aussichten auf einen revolutionären Aufschwung der einzige Weg ist, der der Linken eine Chance bietet, Veränderungen zu bewirken.
Die griechische Syriza, die der Linkspartei in ihrer Zusammensetzung recht ähnlich ist, hat diese Lektion 2015 auf die harte Tour gelernt. Eine Welle von Anti-Austeritäts-Protesten und die populäre Frustration über die europäischen Kreditgeber halfen ihr, die Macht zu übernehmen, doch nach Amtsantritt war sie nicht in der Lage, mehr zu tun, als ihre Unterstützer zu Protesten und Straßenkundgebungen aufzurufen. Damit erwies sich die Partei als wehrlos gegenüber der institutionellen Erpressung durch die EU und kapitulierte bald an allen Fronten. Syriza ist immer noch die zweitgrößte politische Kraft in Griechenland, aber die »Partei der Bewegungen« ist jetzt näher an der neoliberalen sozialdemokratischen Partei, die sie ersetzt hat, während sich die gefeierten Bewegungen, die sie an die Macht gebracht haben, noch lange nicht von ihrer demoralisierenden Niederlage erholt haben.
Für Jeremy Corbyn ist es nie so weit gekommen, aber die Chancen stehen gut, dass er in einer ähnlichen Lage gewesen wäre. Corbyn hatte zwar reale Unterstützung in der Gewerkschaftsbewegung, aber seine Kampagne wurde dennoch in erster Linie von jungen, enthusiastischen Anhängern getragen, von denen viele aus der Studentenbewegung 2010 hervorgegangen waren. Sie hatten zweifellos gute Absichten, aber waren von der breiteren britischen Gesellschaft teilweise weit entfernt und in den Institutionen der Arbeiterbewegung kaum verwurzelt. So verwundert es nicht, dass ein Großteil dieser radikalen Welle abebbte, nachdem Corbyn Ende 2019 die Wahl verloren hatte. Es war nur eine Frage von Monaten, bis der linke Flügel von Labour verdrängt wurde und eine demoralisierte und verwirrte Basis hinterließ.
Die vagen strategischen Formulierungen, die vom Parteiag der LINKEN ausgingen, dienen sicherlich auch dazu, öffentliche Auseinandersetzungen zwischen den Flügeln zu vermeiden. Aber aus ihnen spricht auch eine tiefere strategische Orientierungslosigkeit, die sich in der gesamten gesellschaftlichen Linken zeigt. Man scheint sich damit abgefunden zu haben, dass außer Massendemonstrationen und gelegentlichen Wahlsiegen nichts mehr zu holen ist. Es gibt keine einfachen Antworten und keine Abkürzungen, um eine solide sozialistische Mehrheit in Deutschland (oder anderswo) aufzubauen, aber die Tatsache, dass die wohl wichtigste sozialistische Partei Europas eine Strategie verfolgt, die anderswo bereits scheiterte, ist nicht gerade beruhigend.
Was hält die Zukunft für DIE LINKE bereit? Da Rot-Rot-Grün bei den Umfragen nur knapp 40 Prozent erzielt, scheinen die Aussichten auf eine Regierungsbeteiligung im Herbst düster. Das ist vielleicht sogar begrüßenswert, denn DIE LINKE wäre mit Abstand das schwächste Glied in einer solchen Konstellation, und vermutlich dazu gezwungen, erhebliche Zugeständnisse zu machen. Angenommen, sie gewinnt genug Stimmen, um im Bundestag zu bleiben, wird sie sich als effektive Opposition neu erfinden müssen, um die öffentliche Meinung zurückzuerobern, wie es ihr kurzzeitig im Jahr 2009 schon einmal gelungen ist , als sie ihr bestes Ergebnis erzielte.
Um dahin zu kommen, reicht es nicht, an genügend Türen zu klopfen oder möglichst viele Demonstrationen zu organisieren, auch wenn ein Flügel der Partei das zu glauben scheint. Organizing und Aktivismus sind beides lohnende und notwendige Bestandteile einer sozialistischen Strategie, aber Organizer und Aktivistinnen allein bilden keine ausreichende Basis, um die politische Hegemonie zu erringen. Die meisten Menschen sind nicht an Daueraktivismus interessiert und wollen sich nicht »organisieren« lassen – eine sozialistische Partei muss das akzeptieren und überlegen, wie man sie trotzdem erreichen kann. Sie muss erst einmal beweisen, dass sie auch eine Partei für die vielen Menschen ist, die sich weniger dafür interessieren, ob die Partei die richtigen ideologischen Stichworte bedient, und die eher nach einer Partei suchen, die einen praktischen Gebrauchswert für ihre Lebensrealität hat.
DIE LINKE wird nur dann ihrer Mission langfristig gerecht werden können, wenn es ihr gelingt, eine Massenpartei der Arbeiterklasse zu werden, mit tiefen Wurzeln in den immer noch mächtigen Gewerkschaften. Nur so wird sie die Art von Unterstützung mobilisieren, die nötig ist, um sich ernsthaft mit den übermächtigen kapitalistischen Interessen anzulegen. Dazu muss sie mit universellen Themen wie Wohnungspolitik, Mindestlohn und öffentlichem Nahverkehr in den Kampf ziehen und sich so klar von den etablierten Parteien abgrenzen. Gleichzeitig muss die Partei ihre Fähigkeit demonstrieren, konkrete Verbesserungen für die arbeitenden Menschen zu erreichen, wie etwa zuletzt mit dem Mietendeckel in Berlin. Das bedeutet auch, eine zugespitzte aber professionelle Öffentlichkeitsarbeit zu betreiben, wie es sowohl Wagenknecht als auch De Masi seit Jahren vormachen. Dass sie mit der Partei scheinbar nicht mehr viel anfangen können und umgekehrt, ist, gelinde gesagt, unglücklich, denn in Sachen Auftreten könnten viele LINKE-Politiker einiges von den beiden lernen.
Manche Kritiker behaupten, dass die Partei zu Sexismus, Rassismus oder anderen Unterdrückungsverhältnissen schweigen sollte, um als Arbeiterpartei wahrgenommen zu werden. Diesen Aufrufen sollte man nicht folgen. Die historischen Arbeiterparteien waren immer auch Organisationen, die für die Rechte von Frauen und Minderheiten gekämpft haben. Oft spielten sie sogar eine Vorreiterrolle. Doch anders als die linken Parteien heute konnten sie plausibel argumentieren, dass der Kampf für eine sozialistische Ordnung der einzige Weg ist, um die Befreiung aller Menschen zu erreichen, und dass der Weg zum Sozialismus notwendigerweise den Aufbau einer mächtigen Arbeiterbewegung angeführt von einer starken sozialistischen Partei erfordert.
Weder eine solche Arbeiterbewegung noch eine solche Partei existieren heute. Aber damals, als die sozialistische Bewegung gegründet wurde, existierten sie auch nicht. Sie müssen geschaffen werden. Die gute Nachricht ist, dass es kaum Länder gibt, die bessere Voraussetzungen dafür haben als Deutschland mit seinen starken Gewerkschaften und seinem Wohlfahrtsstaat, den es zu verteidigen und auszubauen gilt. Ob DIE LINKE das Potenzial hat, eine solche Massenpartei zu werden, ist offen, aber als einzige nennenswerte sozialistische Kraft in Deutschland kann man nur hoffen, dass es ihr gelingt.
Loren Balhorn ist Editor-in-Chief von JACOBIN.