05. Dezember 2023
Der Rückzug der französischen Armee aus Niger im Oktober wurde von einigen Kommentatoren wehmütig als das »Ende der Großmacht-Ära« bezeichnet. Doch diese »Großmacht« unterdrückt die Demokratie in Afrika, um die Macht der französischen Eliten zu sichern.
Junge nigerianische Frauen protestieren gegen Frankreichs Vorherrschaft in Westafrika, 13. August 2023
Frankreich zieht (scheinbar) aus Afrika ab. Zumindest war dies im Oktober in den Zeitungen zu lesen, als Paris seine 1.400 Soldaten aus Niger nach Hause beorderte. Ähnliche Ereignisse im sogenannten Junta-Gürtel Afrikas haben in letzter Zeit viel Aufmerksamkeit erregt. Während Kommentatoren in Zeitschriften wie Foreign Policy und Time altbackene Thesen aus der Ära des Kalten Krieges bemühen, haben sich andere auf die Missstände konzentriert, die die Bürgerinnen und Bürger in Ländern wie Burkina Faso, Mali, Guinea und Niger zu Aufständen getrieben haben. Mbaye Bashir Lo, Professor an der Duke University, fasste prägnant zusammen, bei vielen afrikanischen Menschen habe sich die Sichtweise verfestigt: »Aus Frankreich kommt nichts Gutes«.
Diese Diskussionen fokussieren sich jedoch sehr auf einzelne Länder. Dabei wird ein internationaler, interkontinentaler Aspekt übersehen: Französische Politiker, Wirtschaftsführer und Generäle haben nicht nur lange Zeit kleptokratische und antidemokratische Regierungen in Afrika unterstützt – sie haben entsprechende Entwicklungen auch in Frankreich selbst vorangetrieben.
Um dies zu verdeutlichen, kann man sich andere Schlagzeilen ansehen: Die französischen Nachrichtenkonsumenten haben sich an den Namen Vincent Bolloré gewöhnt. Der ultrakonservative Milliardär, Chef der Bolloré Group, ist als großer Unterstützer der französischen radikalen Rechten bekannt. Bollorés Medienimperium, zu dem auch CNews gehört (das oft als »Frankreichs Fox News« bezeichnet wird), unterstützt seit Jahren reaktionäre Politik und versucht, sie salonfähig zu machen. Im vergangenen Jahr war gerade CNews eine wichtige Darstellungsplattform für die Präsidentschaftskandidatur von Éric Zemmour. Was in Kommentaren zur Bolloré Group oft übersehen wird, ist die Tatsache, dass Bolloré dieses rechtsradikale Medien-Ökosystem nur finanzieren kann, weil er in den vergangenen Jahren lukrative Geschäfte in West- und Zentralafrika gemacht hat.
Am selben Tag, an dem die französischen Soldaten den Niger verließen, verurteilte ein Gericht in der französischen Stadt Nanterre die Bolloré Group zur Zahlung von 145.000 Euro an 145 Anwohner, die in der Nähe der riesigen Palmölplantagen des Unternehmens in Kamerun leben. Die Richterin verurteilte den Konzern dafür, dass er seit Jahren rücksichtslos Flüsse im Land verschmutzt. Wie andere Mitglieder der französischen Wirtschaftselite hat Bolloré mit neokolonialen und umweltzerstörenden Industrien in ganz Afrika Milliardengewinne eingefahren.
Seit den 1980er Jahren hat Bolloré das einst angeschlagene Papierunternehmen seines Vaters umgestaltet. Vor allem senkte er die Löhne der Beschäftigten drastisch und diversifizierte das Unternehmensportfolio: So kaufte er Transportinfrastruktur überall an der afrikanischen Westküste. Zwar hat Bollorés Unternehmen in den vergangenen Jahren mehrere seiner Beteiligungen in Afrika verkauft, doch mit deren Gewinnen konnte er diverse Medienunternehmen in ganz Frankreich aufkaufen – und nach rechts radikalisieren. Wenn man also über das Ende der französischen Präsenz in Afrika redet, sollte man im Hinterkopf behalten, wessen Macht jahrzehntelang gestärkt wurde (und immer noch wird) – und wessen Träume vor Ort zerstört.
Zu Beginn des 20. Jahrhunderts herrschte Frankreich über ein riesiges Imperium in Afrika. Es beanspruchte fast das gesamte nordwestliche Viertel des Kontinents, weite Teile Zentralafrikas sowie Inseln im Indischen Ozean. Um dieses riesige Reich unter Kontrolle zu halten, massakrierten französische Truppen Zivilisten in Nordafrika, zwangen hunderttausende west- und zentralafrikanische Männer zur Zwangsarbeit und erschossen Befreiungskämpfer auf Madagaskar. In den 1950er Jahren schien Frankreichs Imperium jedoch auszufransen: 1958 hatte Paris seine Gebiete in Südostasien verloren und kämpfte gegen eine starke Befreiungsbewegung in seiner wertvollsten Kolonie, Algerien. Vor diesem Hintergrund trat General Charles de Gaulle auf den Plan, um die Republik zu »retten«.
De Gaulle hatte im Zweiten Weltkrieg die Freien Französischen Truppen gegen das nationalsozialistische Deutschland angeführt, offensichtlich aber eine recht spezielle Vorstellung davon, was »Freiheit« bedeutet. Nach der Befreiung Frankreichs setzte sich de Gaulle jedenfalls für eine neue Verfassung ein, die der Exekutive weitreichende Befugnisse einräumte. Aus Angst, eine weitere Diktatur in Europa zu schaffen, lehnten die Politik ebenso wie die Wählerinnen und Wähler die Vision des Generals ab. Als Reaktion darauf verschwand de Gaulle 1946 von der politischen Bühne Frankreichs.
Doch zwölf Jahre später kehrte er zurück: Vor dem Hintergrund des eskalierenden Algerienkriegs brachte eine Militärrevolte im Mai 1958 de Gaulle erneut an die Macht. Viele führende Vertreter des französischen Militärs waren frustriert über die gewählte Regierung. Sie hatten das Gefühl, die Politikerinnen und Politiker würden Französisch-Algerien nicht ausreichend sichern und verteidigen. Um dieses Problem zu lösen, übernahm das Militär selbst die Macht und setzte den immer noch äußerst einflussreichen und beliebten de Gaulle an die Spitze des Landes. Dies ist übrigens eine Mahnung und Erinnerung daran, dass militärische Machtkämpfe und Coups keineswegs ein rein afrikanisches politisches Phänomen sind. Um Frankreichs parlamentarische Regierung zu stürzen, setzte sich de Gaulle erfolgreich für eine neue Fünfte Republik ein, in der die größte Macht beim Präsidenten und nicht bei der Nationalversammlung lag. Sinnbildlich für diese Reform war Artikel 49.3, der es dem Präsidenten ermöglicht, Gesetze ohne Abstimmung in der Nationalversammlung durchzusetzen. Besonders gerne benutzt wird dieser Artikel auch vom aktuellen Präsidenten Emmanuel Macron, der ihn einsetzt, um neoliberale Reformen gegen den breiten Widerstand der Mehrheit der Bevölkerung durchzusetzen. De Gaulles Traum von einem quasi-monarchischen Präsidenten ist heute so vital wie eh und je.
»Die Währung ist ein mächtiges Instrument und Symbol der neokolonialen französischen Ausbeutung.«
De Gaulle und seine Verbündeten drückten dieses fast schon autoritäre Regime in einem Frankreich durch, dessen Imperium langsam, aber sicher in sich zusammenfiel: 1960 hatten die meisten französischen Kolonien in Afrika südlich der Sahara ihre Unabhängigkeit erlangt. Das bedeutete allerdings nicht, dass Frankreich den Kontinent wirklich »verlassen« hatte. De Gaulle (und seine Nachfolger) unterstützten konservative und kapitalistenfreundliche Verbündete wie die Präsidenten Léopold Senghor (Senegal) und Félix Houphouët-Boigny (Elfenbeinküste). Gleichzeitig straften sie Feinde wie den Sozialisten Sékou Touré aus Guinea ab. »Abstrafen« bedeutete nicht selten, gewaltsame Coups zu unterstützen. In den 1960er Jahren leistete Frankreich Hilfe bei Militärputschen gegen gewählte Führer in Gabun, Mali und der Republik Kongo, um nur einige zu nennen. Die französischen Flaggen waren verschwunden, aber die Militärs, die sie einst gehisst hatten, blieben.
Das Militär war nur ein Teil dieser neokolonialen Beziehung. In den 1960er Jahren wurde aus der ehemaligen Kolonisierung nun eine vermeintliche »Zusammenarbeit« in der Entwicklungspolitik. Unter diesem irreführenden Titel wurden diverse wirtschaftliche, politische und kulturelle Programme durchgeführt, die den französischen Einfluss in den ehemaligen Kolonien untermauerten. Schulen, Häfen und Banken dienten weiterhin den französischen politischen und wirtschaftlichen Interessen. Am deutlichsten wurde dies beim CFA-Franc, einer Währung aus der Kolonialzeit, die an den französischen Franc und heute an den Euro gekoppelt ist und in den ehemaligen französischen Kolonien in West- und Zentralafrika nach wie vor verwendet wird. Wie der Wirtschaftswissenschaftler Ndongo Samba Sylla und die Journalistin Fanny Pigeaud erklären, müssen die Länder, die diese Währung verwenden, einen großen Teil ihrer Devisenreserven auf ein spezielles französisches Staatskonto einzahlen. Dadurch kann die französische Regierung erheblichen Einfluss auf die Staatsfinanzen dieser Länder nehmen. Wie Aktivistinnen und Aktivisten im frankophonen Afrika in letzter Zeit immer wieder betonten, ist die Währung ein mächtiges Instrument und Symbol der neokolonialen französischen Ausbeutung.
Dass sich die Währung und der französische Einfluss halten, war und ist jedoch nicht allein auf die französische Seite zurückzuführen. Von den Managern der Goldminen im Senegal bis zu den Generälen der tschadischen Armee haben afrikanische Eliten stets mit ihren französischen Verbündeten und Geschäftspartnern zusammengearbeitet, um die gemeinsamen Interessen zu schützen. Antidemokratische Behörden sowie Wirtschaftsführer in Frankreich und im frankophonen Afrika haben sich erfolgreich verbündet und verteidigen ein »Imperium, das nicht sterben will«. Dieses Zombie-Imperium hat sogar einen eigenen Namen: Françafrique.
Bald gerieten diese Regierungen dies- und jenseits des Mittelmeers in Bedrängnis. Im Jahr 1968 erhoben sich Millionen Studierende und Arbeiter in ganz Frankreich gegen de Gaulles Regierung. Sie verglichen den General mit eben jenen faschistischen Kräften, die er Jahrzehnte zuvor bekämpft hatte. Viele Protestierende kritisierten außerdem die zunehmende Ausbeutung von Wanderarbeitern aus ehemaligen Kolonien. Im selben Jahr kam es im Senegal zu Streiks gegen den autokratischen Staat von Präsident Senghor. In den späten 1960er und frühen 1970er Jahren kam es zu ähnlichen Aufständen in der Republik Kongo, Tunesien, Madagaskar und anderswo. Überall in den Überbleibseln des französischen Imperiums erhoben sich Studentinnen und Studenten, Arbeiterinnen und Arbeiter sowie radikale Aktivistinnen und Aktivisten gegen die Eliten, die ihre Träume von Befreiung und Entkolonialisierung zerstört hatten.
Doch Françafrique überlebte: Französische Konzerne übernahmen Uranminen in Niger, Plantagen in Kamerun und Ölraffinerien in Gabun. Zwischen 1960 und 1991 intervenierte das französische Militär in mindestens 16 verschiedenen afrikanischen Ländern, um Verbündete zu schützen und strategische Interessen zu wahren. Seit einigen Jahren ist es für neue französische Präsidenten zum Ritual geworden, das »Ende von Françafrique« zu verkünden. Doch sobald diese Erklärungen abgegeben worden sind, nutzen dieselben Präsidenten jedes Mittel, um die politische und wirtschaftliche Macht Frankreichs in der Region zu wahren.
Viele französische Bürgerinnen und Bürger sind sich nicht bewusst, wie abhängig sie von der neokolonialen Produktion in den Ex-Kolonien sind. So sind die nigrischen Uranminen essenziell wichtig für Frankreichs zahlreiche Atomkraftwerke – während die Minenarbeiter und die lokalen Gemeinden mit den tödlichen Folgen des Uranabbaus allein gelassen werden. Tankstellen in ganz Frankreich pumpen gabunisches Öl in die Autos, wodurch französische Manager und – bis zu einem kürzlichen Putsch – die lange Jahre regierende Familie Bongo reich wurden/werden. Ähnliche Dynamiken spielen sich in allen ehemaligen Kolonien Frankreichs ab. Die Rohstoffindustrie zerstört ganze Landschaften sowie die allgemeinen Lebensgrundlagen.
Gleichzeitig unterstützen diese Wirtschaftszweige eine reaktionäre Politik in Frankreich selbst. Während einer Reise in den Senegal im Jahr 2022 besuchte Marine Le Pen die größte Reismühle Westafrikas und ein Zuckerunternehmen (beide in französischem Besitz), das der wichtigste privatwirtschaftliche Arbeitgeber im Senegal ist. Dort freute die Rechtsradikale sich über eine »wirklich europäisch-afrikanische Ko-Entwicklung«. Figuren wie Le Pen nutzen die multinationalen Konzerne und die vermeintliche »gemeinsame Entwicklung«, die sie versprechen, um den globalen Einfluss Frankreichs zu unterstreichen. Dabei legen sie eine neokoloniale Besessenheit an den Tag, wollen Frankreichs »Grandeur« bewahren und stellen gleichzeitig die Profite der Industrie über die alltäglichen Bedürfnisse der eigenen Bürgerinnen und Bürger in Frankreich. Die in Afrika tätigen französischen Konzerne dienen der Rechten daheim oft als Symbolbild für die eigene nationale Macht.
»Viele Menschen in Afrika haben deutlich gemacht, dass sie ihre Probleme ohne Frankreichs Soldaten und ohne seine Konzerne bewältigen wollen.«
Gleichzeitig verursachen diese Unternehmen vor Ort Wirtschafts- und Umweltkrisen, die hunderttausende flüchtende Menschen in Richtung Europa treiben. Als Reaktion darauf fällt der französischen Regierung nichts weiter ein, als mit den europäischen Partnern gemeinsam die Schotten dicht zu machen und die Festung Europa auszubauen. Zeitgleich hetzen rechte »Experten« auf Sendern wie CNews die französischen Bevölkerung gegen Migrantinnen und Migranten auf. Es ist bittere Ironie, dass diese Medien mit Geldern aus den neokolonialen Industrien finanziert werden, die für viele der sogenannten Migrationskrisen mitverantwortlich sind. So befeuert der französische Neokolonialismus einen Teufelskreis aus sozialer, politischer und wirtschaftlicher Erosion – auf beiden Seiten des Mittelmeers.
Freilich nehmen die Menschen dies nicht stillschweigend hin. In Frankreich und im frankophonen Afrika erheben sich Aktivistinnen und Aktivisten gegen unfähige Regierungen und die destruktiven multinationalen Unternehmen, die sie unterstützen. 2018 warfen Demonstrierende in der senegalesischen Hauptstadt Dakar die Scheiben von Lebensmittelgeschäften ein, die zum französischen Konzern Auchan gehören. Kritisiert wurde vor allem die anhaltende wirtschaftliche Dominanz Frankreichs in der senegalesischen Lebensmittelproduktion und im Lebensmittelhandel. Ein paar Jahre später starteten französische Aktivisten in Zentralfrankreich einen ähnlich militanten Protest gegen die französische Agrarindustrie. Hunderte Umweltschützer gerieten mit der Polizei aneinander, als sie den Bau eines Wasserreservoirs in der zunehmend dürregeplagte Region verhindern wollten. Das Wasser sollte für die lokal ansässige Agrarindustrie bereitstehen.
Diese Menschen kämpfen an unterschiedlichen Orten gegen unterschiedliche Probleme, teilen aber den Hauptfeind: die umweltzerstörenden französische Unternehmen, die Millionen Menschen in Afrika und Europa ausbeuten.
Einige Bewegungen haben bereits auf die wichtigen Verknüpfungen zwischen Umwelt- und Sozialkämpfen hingewiesen. So arbeiten französische Aktivistinnen und Aktivisten seit Jahren gemeinsam mit Arbeitsmigrantinnen und -migranten für die Verbesserung derer Arbeitsbedingungen sowie für nachhaltige Produktion. Der Landwirt und Aktivist Nicolas Duntze kommentierte dazu, man wolle verhindern, »dass Frankreichs Äcker zum Experimentierfeld für soziale Ausbeutung werden«.
Diese zusammenlaufenden Proteste sind ebenfalls Teil der verwobenen Geschichte Frankreichs und Afrikas. Bei allem, was die Menschen in Frankreich und seinen ehemaligen afrikanischen Kolonien trennt, haben sie doch ein geteiltes Recht auf eine Wirtschaft und eine Regierung, die öffentliche Güter nicht in private Hände umverteilen. Seit Jahrzehnten stehen diesem Ideal aber zerstörerische Industriezweige und die Politiker, die sie decken, im Weg.
Es ist überaus fraglich, ob die neuen Militärregierungen in der Sahelzone die Mittel oder den Willen haben, diese bisherigen Dynamiken zu ändern. Die wirtschaftlichen, politischen und ökologischen Krisen, mit denen sie konfrontiert sind, sind in jedem Fall immens. Viele Menschen in Afrika haben aber deutlich gemacht, dass sie diese Probleme ohne Frankreichs Soldaten und ohne seine Konzerne bewältigen wollen.
Da die französischen Truppen nun den Niger verlassen haben, aber gleichzeitig neokoloniale Konzerne Frankreichs Rechtsruck finanzieren, könnten wir von einer neuen Ära sprechen. Diese sollten wir nicht als eine betrachten, in der Franzosen gegen Afrikaner stehen, sondern als einen Kampf der normalen Bürgerinnen und Bürger gegen die Milliardäre. Wenn der Kampf so verstanden wird, bietet sich die Chance, ein jahrzehntealtes System in Frage zu stellen, das Autokraten und Großindustrielle unter besonderen Schutz stellt. Wahre Demokratie erfordert internationale Solidarität und den Kampf für eine egalitäre Welt, wie sie sich die Menschen schon vorstellten, als Frankreichs afrikanisches Imperium zum ersten Mal zu zerbröckeln schien.
Gregory Valdespino ist Postdoctoral Fellow an der Princeton University und Experte für westafrikanische und französische Geschichte.