15. Mai 2025
In seiner ersten Erklärung als Bundeskanzler gibt sich Friedrich Merz erstaunlich diplomatisch. Das ist Kalkül, meint Ole Nymoen.
Friedrich Merz bei seiner Regierungserklärung im Bundestag, 14. Mai 2025.
Nach einem holprigen Start ist Friedrich Merz seit letzter Woche Bundeskanzler – und schlägt auf einmal ganz neue Töne an. Während der Mann aus dem Sauerland auf seinem Weg ins Kanzleramt jahrelang gezündelt und von »kleinen Paschas« sowie »grünen und linken Spinnern« gesprochen hatte, zeigt sich Merz kurz nach Amtsantritt versöhnlich. In seiner ersten Regierungserklärung im Bundestag stellte er sich am Mittwoch als Kanzler für alle dar: »Wir sind dem Gemeinwohl verpflichtet.«
Besonders auffällig war dieser neue Tonfall beim Thema Bürgergeld. Zwar erklärte Merz: »Wir werden das bisherige Bürgergeldsystem abschaffen und in eine neue Grundsicherung überführen.« Jedoch wetterte er mit keiner Silbe gegen die Ärmsten der Gesellschaft und sprach ausschließlich über neue Zuverdienstregelungen. Kein Wort über sogenannte Totalverweigerer, kein Hinweis auf neue Sanktionen – und das, nachdem die CDU den gesamten Wahlkampf lang auf den Erwerbsarmen und Arbeitslosen rumgehackt hatte.
Was ist da los? Hat Friedrich Merz auf einmal sein soziales Gewissen entdeckt? Wohl kaum. Vielmehr scheint es, als habe er in dieser Woche zwei Regierungserklärungen abgegeben. Denn am Dienstag, am Vorabend seiner Ansprache im Bundestag, war Merz noch beim Wirtschaftstag der CDU. Dort stellte er seine eigentliche Agenda klar: »Mit Vier-Tage-Woche und Work-Life-Balance werden wir den Wohlstand unseres Landes nicht erhalten können«, diese Botschaft drang aus dem Luxushotel Marriott in die breite Öffentlichkeit.
Wenn Merz vom »Wir« spricht, das »den Wohlstand unseres Landes« erhalten soll, meint er natürlich nicht den Wohlstand des gemeinen Bürgers: Der soll keine Verbesserungen seines Lebens herbei fantasieren, etwa in Form kürzerer Arbeitszeiten, sondern sich damit abfinden, dass er den Reichtum anderer erwirtschaftet. Die meisten Deutschen verfügen über kein nennenswertes Vermögen und leisten ihr Leben lang nur einen Dienst am Wohlstand der anderen – all das wird durch die Abstraktion des nationalen »Wir«, das seinen Wohlstand erhält, geschickt getarnt.
»Gegenüber seinen Freunden aus Industrie und Wirtschaftsverbänden macht er keinen Hehl aus seinen Absichten. Im Bundestag, wo seine sozialdemokratischen Koalitionspartner sitzen, gibt er sich hingegen moderat.«
Merz spricht also mit gespaltener Zunge: Gegenüber seinen Freunden aus Industrie und Wirtschaftsverbänden macht er keinen Hehl aus seinen Absichten. Im Bundestag, wo seine sozialdemokratischen Koalitionspartner sitzen, und wo er sich noch in der vergangenen Woche bis auf die Knochen blamiert hat, gibt er sich hingegen moderat und verzichtet auf große Paukenschläge. Stattdessen begnügt er sich vor allem damit, Phrasen abzuspulen: Neben Evergreens wie »Leistung muss sich wieder lohnen« bekannte sich Merz dazu, »unideologisch und technologieoffen« zu sein – und lobte immer und immer wieder den hohen Wert der Freiheit.
Wessen Freiheit dabei ganz oben auf seiner Liste steht, wurde trotz der blumigen Worte vom Allgemeinwohl deutlich: Es sind (wenig überraschend) die Reichen, die von Merz’ Politik am meisten profitieren werden – der Durchschnittsbürger hingegen geht leer aus. Während beispielsweise Unternehmen mit Senkungen der Körperschaftssteuer und neuen Abschreibungsmöglichkeiten bedacht werden sollen, gibt es voraussichtlich keine Steuersenkungen für Normalverdiener in dieser Legislaturperiode. Auch für Mieter wird sich wenig verbessern: Merz kündigte zwar eine große private Bauoffensive an – natürlich verbunden mit Steuervorteilen für Bauherren –, aber ein Rezept für die hohen Bestandsmieten hatte er nicht parat. Auch fiel kein einziges Wort zum staatlichen Bauen.
Das kommt wenig überraschend, die Prioritäten der Großen Koalition liegen bekanntlich ganz woanders. Einen Großteil seiner Rede widmete Merz der Außenpolitik und der Aufrüstung: »Die Bundesregierung wird zukünftig alle finanziellen Mittel zur Verfügung stellen, die die Bundeswehr braucht, um konventionell zur stärksten Armee Europas zu werden. Das ist dem bevölkerungsreichsten und wirtschaftsstärksten Land Europas nicht mehr als angemessen. Das erwarten auch unsere Freunde und unsere Partner von uns, mehr noch: Sie fordern es geradezu ein.«
Die ganze Welt bettelt förmlich um eine neue deutsche Machtpolitik, so erklärt es uns Friedrich Merz. Auch wenn der neue Kanzler sich ein wenig in Demut übt, ist die Agenda immer noch dieselbe: Geld ist nur für die Aufrüstung und die private Wirtschaft da. Ein Großteil der Bürger wird auf der Strecke bleiben – auch wenn Merz behauptet, sich in den »Dienst aller 84 Millionen Bürgerinnen und Bürger« zu stellen.
Ole Nymoen betreibt den Wirtschaftspodcast Wohlstand für Alle und ist Kolumnist bei JACOBIN. Sein neustes Buch Warum ich nicht für mein Land kämpfen würde ist kürzlich beim Rowohlt Verlag erschienen.