13. September 2024
Der größte Gewerkschaftsbund Israels rief zu einem Generalstreik für Gefangenenaustausch und Waffenstillstand auf. Doch er scheiterte am Widerstand der Institutionen – und vieler Gewerkschaftsmitglieder. Die israelische Gesellschaft bleibt tief gespalten.
Eine Frau hält ein Schild mit der Forderung nach Beendigung des Krieges in Gaza während einer Demonstration in Tel Aviv, 31. August 2024.
Die Histadrut, der Dachverband der israelischen Gewerkschaften, hat vergangene Woche zum Generalstreik aufgerufen. Diese ungewöhnliche Ankündigung war eine Reaktion auf den wachsenden Druck auf den mächtigen Gewerkschaftsdachverband, die Proteste gegen die Regierung von Benjamin Netanjahu zu unterstützen und ein Abkommen zu fordern, mit dem die von der Hamas im Gazastreifen festgehaltenen israelischen Geiseln nach Hause gebracht werden können. Da die wichtigste Machtbasis der Histadrut die sogenannten Arbeiterausschüsse sind (gewerkschaftsnahe, aber nicht unbedingt gewerkschaftlich organisierte Vertreter, die von den Arbeiterinnen und Arbeitern direkt gewählt werden), von denen viele Netanjahus Likud-Partei unterstützen, ist die Entscheidung, sich der Protestbewegung anzuschließen, relativ überraschend.
Im Gegensatz zur Antikriegsstimmung im Ausland ist die Mehrheit der israelischen Kriegsgegner nicht primär über die immer weiter steigende Zahl der Toten in Gaza bestürzt. Ihre Sorge gilt vor allem den 101 Geiseln, für deren Rettung die Regierung Netanjahu ihrer Ansicht nach keinerlei Plan hat.
Der Widerstand gegen Netanjahus strategische Ziele könnten tatsächlich die Basis für eine aufkeimende Antikriegsbewegung im Land sowie eine tiefgreifendere politische Neuausrichtung liefern. Der Charakter und die Dauer des Generalstreiks – er hielt insgesamt etwa acht Stunden – deuten jedoch darauf hin, dass es sehr große (aber nicht unüberwindbare) Hindernisse für die Entwicklung einer starken Opposition in Israel gibt, die in der Lage wäre, tatsächlich zum Ende des aktuellen Krieges beizutragen.
Das letzte Mal, dass die Histadrut einen derartig weitreichenden Streik ausgerufen hat, war im März 2023, als sie sich gegen die von der Regierung Netanjahu vorangetriebene Justizreform wehrte. Der Streik – in Kombination mit Massenprotesten und erheblicher Unterstützung seitens der Wirtschaft – veranlasste Netanjahu, die entsprechenden Gesetze auszusetzen. Der jüngste Streik baut nun auf die weitverbreitete Verärgerung über die unzureichenden Verhandlungen der Regierung auf. Erst am vorvergangenen Wochenende hatte das israelische Militär die Leichen von sechs weiteren Geiseln in Gaza geborgen.
Die Streikankündigung des Histadrut-Vorsitzenden Arnon Bar-David zeigte zunächst Wirkung: Am selben Tag marschierten schätzungsweise eine halbe Million Israelis (fünf bis sechs Prozent der Gesamtbevölkerung) durch Tel Aviv, Jerusalem und andere Großstädte. Sie forderten die Regierung auf, einem Waffenstillstandsabkommen zuzustimmen, das die sichere Rückkehr der verbleibenden Geiseln ermöglichen würde. Welche Auswirkungen dieser Streik auf die laufenden, von den USA vermittelten Verhandlungen haben wird (beziehungsweise: ob überhaupt), ist jedoch noch unklar.
»In den vergangenen Wochen und Monaten gingen immer mehr Menschen auf die Straße.«
Der Kontext – namentlich das langsame, aber stetige Anwachsen des Widerstands gegen den Krieg – ist wichtig, um die ungewöhnliche Histadrut-Entscheidung zum Generalstreik zu verstehen. Nach dem Angriff der Hamas vom 7. Oktober 2023 wurde die israelische Gesellschaft fast vollständig mobilisiert und unterstützte Militäraktionen in Gaza. Die Regierung behauptete, der Krieg sei die notwendige und unvermeidliche Reaktion auf eine existenzielle Bedrohung allen jüdischen Lebens sowie die einzige Möglichkeit, die zahlreichen israelischen Geiseln zurückzubringen. Jede Opposition gegen den Krieg wurde als illegitim oder sogar als Hochverrat dargestellt. Kritische Stimmen wurden unterdrückt und mussten mit Gewalt, Verhaftungen und – im Falle von Arbeiterinnen und Arbeitern – mit zeitweiligen Arbeitsverboten oder sogar dem direkten Rausschmiss rechnen.
Als sich der Krieg jedoch hinzog, ohne dass ein Ende oder das Erreichen irgendwelcher strategischer Ziele in Sicht war, wurde die Opposition sichtbarer. Forderungen nach einem Waffenstillstand, der die Freilassung der verbleibenden Geiseln gewährleisten würde, wurden laut. Das Leben der Geiseln war eindeutig in höchster Gefahr, nicht nur durch ihre Entführer, sondern auch durch die Angriffe der israelischen Verteidigungskräfte (IDF), die in ihrem Ausmaß beispiellos waren und sind. Angewidert von den scheinbar willkürlichen Bombardierungen und den wiederholten Behauptungen der Regierung und der Armee, dass nur verstärkter militärischer Druck zur Befreiung der Geiseln führen werde, begann sich eine Oppositionsbewegung zu formieren.
An der Spitze dieser Bewegung standen zunächst vor allem Familien und Verwandte der Geiseln, die im sogenannten Hostages and Missing Families Forum organisiert sind. Sie wiesen schon früh darauf hin, dass der Krieg das Leben der noch im Gazastreifen befindlichen Entführten bedroht und einige bereits unbeabsichtigte Opfer der IDF-Scharfschützen und von Luftangriffen geworden sind. Die immer lauter werdende Opposition veranstaltete ebenso größer werdende Protestaktionen wie die wöchentliche Samstagsdemonstration im Zentrum von Tel Aviv, in der Nähe des Regierungssitzes und des Zentralkommandos der IDF. In den vergangenen Wochen und Monaten gingen immer mehr Menschen auf die Straße.
Zusätzliche Unterstützung für einen Waffenstillstand und ein Geiselabkommen kam von eher unerwarteter Seite: den IDF und dem militärischen Establishment selbst. Während der ersten Kriegsmonate hatte das Militär noch behauptet, es sei möglich, die beiden wichtigsten Kriegsziele der Regierung – ein vernichtender Sieg über die Hamas und die Befreiung der Geiseln – gemeinsam zu erreichen. Dabei hatten sich schon früh die Anzeichen gehäuft, dass diese Ziele eher im Widerspruch zueinander stehen.
Anfang Juli kam das militärische Oberkommando, darunter hochrangige Generäle, Generalstabschef Herzi Halevi und der Leiter des militärischen Nachrichtendienstes, zu dem Schluss, dass die beiden Ziele »miteinander unvereinbar« seien und der Befreiung der Geiseln Vorrang eingeräumt werden solle. Diese Position wurde später sogar von Netanjahus Verteidigungsminister Yoav Gallant übernommen, der damit zum einzigen Befürworter eines sofortigen Geiselabkommens in Netanjahus Kabinett avancierte.
Die wachsende Protestbewegung in Kombination mit der revidierten Position des Militärs führte zu einem drastischen Meinungsumschwung in der Öffentlichkeit. In den ersten Monaten nach Oktober 2023 hatte eine überwältigende Mehrheit der jüdisch-israelischen Bevölkerung den Krieg in Gaza befürwortet. Im Mai 2024 zeigte eine vom öffentlich-rechtlichen Rundfunk veröffentlichte Umfrage hingegen, dass 47 Prozent der Befragten ein Ende des Krieges im Gegenzug für die Freilassung der israelischen Geiseln befürworteten, während »nur« 32 Prozent dagegen waren.
»Organisationen aus dem Umkreis der Familien der Geiseln und Antikriegsgruppen hofften, die politische und ökonomische Macht der Histadrut für ihre Sache nutzen zu können, und übten Druck auf führende Gewerkschaftsfunktionäre aus.«
Anfang Juli dieses Jahres ergab eine von Channel 12 News publizierte Umfrage, dass inzwischen sogar zwei Drittel der israelischen Öffentlichkeit der Meinung seien, die Freilassung der Geiseln sei »wichtiger« als die Fortsetzung des Krieges. Nur etwas mehr als ein Viertel hielt einen »Sieg« in Gaza für das wichtigere Ziel. Eine Forderung, die anfangs geradezu tabu war, hatte sich im Laufe weniger Monate zur Mehrheitsmeinung entwickelt. Trotz der veränderten Haltung des Militärs und des zunehmenden internationalen Drucks – sogar seitens der USA und anderer Verbündeter – konnte die wachsende Opposition in der israelischen Gesellschaft bisher aber nicht erwirken, dass die rechtsradikale Regierung weniger entschlossen wäre, den Krieg auf unbegrenzte Zeit fortzusetzen.
Damit dürfte klar sein, was viele ohnehin schon wussten: Das größte Hindernis für einen Waffenstillstand ist Netanjahu selbst. Einige Beobachter bringen die Unnachgiebigkeit des Premiers mit der Abhängigkeit seiner Likud-Partei von der Unterstützung rechtsextremer Kräfte in Verbindung. Für diese Gruppen gilt der Krieg tatsächlich als Top-Gelegenheit, die Besatzung zu festigen und die Enteignung palästinensischer Gebiete, sowohl im Gazastreifen als auch im Westjordanland, auszuweiten. Andere hingegen vermuten, dass Netanjahus radikale Haltung schlichtweg Produkt seiner eigenen Ideologie und strategischen Vision für das Land ist. Wie dem auch sei: Israels Ministerpräsident hält weiter eisern an seiner Maxime fest, dass es keine Kriegspause geben dürfe.
Derweil suchten Teile der Protestbewegung nach einem zusätzlichen Gegengewicht zur harten Position der Regierung – und wandten sich an die Histadrut, den bei weitem wichtigsten Gewerkschaftsverband. Organisationen aus dem Umkreis der Familien der Geiseln und Antikriegsgruppen hofften, die politische und ökonomische Macht der Histadrut für ihre Sache nutzen zu können, und übten Druck auf führende Gewerkschaftsfunktionäre aus. Mehrere Monate lang fanden am Eingang des Hauptsitzes der Histadrut in Tel Aviv Massendemonstrationen statt, bei denen der Gewerkschaftsverband aufgefordert wurde, sich für ein Geiselabkommen einzusetzen. Angehörige von Geiseln trafen in den letzten Wochen mehrmals mit dem Vorsitzenden des Verbandes zusammen und baten ihn ebenfalls, sich mit aller Kraft für die Freilassung der Geiseln einzusetzen.
Sich an einen etablierten Gewerkschaftsdachverband zu wenden, scheint nicht gerade die naheliegendste Wahl für eine Basisbewegung zu sein. Allerdings war die Histadrut bis in die 1980er Jahre nicht nur ein Gremium für Tarifverhandlungen, sondern ein führender sozio-ökonomischer Akteur in der korporatistischen Wirtschaft Israels. Als solcher spielte sie nicht nur eine unmittelbare Rolle bei Lohnverhandlungen, Preisfestsetzung und Steuerpolitik, sondern kontrollierte und betrieb auch die größte Bank des Landes, Krankenversicherungen, Pensionsfonds und Industriekonglomerate und war damit nach dem Staat der zweitgrößte Arbeitgeber in Israel.
Angesichts ihrer engen Partnerschaft mit dem israelischen Staat ist die Histadrut also nicht nur eine »normale« Gewerkschaftsorganisation, die die Klasseninteressen ihrer Mitglieder vertritt, sondern ebenso ein wichtiger sozialpolitischer Akteur, der sowohl für die Schaffung von Arbeitsplätzen als auch für die Bereitstellung von Sozialleistungen mitverantwortlich ist. In diesem Sinne appellierte die Protestbewegung an die Histadrut, ihre historische Position als eine zentrale Säule des israelischen Staates zu überdenken: Schließlich scheint sie wirklich in der Lage, sowohl auf politischer als auch auf ökonomischer Ebene Macht auszuüben und Druck zu machen.
Als am 1. September die Nachricht eintraf, dass sechs weitere Geiseln offenbar ermordet worden waren, erklärte der Histadrut-Vorsitzende Arnon Bar-David schließlich, man könne nicht länger untätig bleiben. Er kündigte deswegen nicht nur einen Generalstreik an, der am nächsten Tag um 6 Uhr morgens beginnen sollte, sondern versuchte auch, die gesamte israelische Gesellschaft gegen die Regierung zu mobilisieren: »Ich rufe die Öffentlichkeit auf, nicht gleichgültig zu bleiben und stattdessen morgen auf die Straße zu gehen. Dieser Streiktag ist nicht dazu da, um zu Hause zu sitzen, sondern um auf die Straße zu gehen, um zu protestieren und für unser Volk zu demonstrieren. Wehren Sie sich gegen Hetze und Spaltung und helfen Sie, Leben zu retten.«
Die Histadrut veröffentlichte eine Liste mit Betrieben, die bestreikt werden sollten, woraufhin zahlreiche andere Organisationen ankündigten, sich ebenfalls der Arbeitsniederlegung anzuschließen. Dazu gehörten die israelische Ärztekammer, die Lehrergewerkschaft und die Anwaltskammer. Es kam zur Kettenreaktion, die letztlich zu einer der größten Demonstrationen in der Geschichte Israels führte. Einige Kommentatoren, auch auf der Linken, sahen schon einen »Wendepunkt« gekommen, der nun endlich einen Waffenstillstand herbeiführen könne.
Tatsächlich schien es zumindest für einen Moment so, als ob das ganze Land auf einen vollständigen und möglicherweise dauerhaften Stillstand zusteuern würde. Die Streiks führten zur Schließung von Regierungsbüros und brachten einen Großteil des öffentlichen Nahverkehrs zum Erliegen. Auch die Gemeindeverwaltungen im dicht besiedelten Zentrum Israels, darunter die der Großstadt Tel Aviv, beteiligten sich an den Streiks, was zu Unterrichtsausfall in den Schulen und zur Schließung von Kindertagesstätten und Kindergärten führte. Die meisten Krankenhäuser boten nur Notdienste an, Arbeiter legten den Hafen von Haifa lahm, und der Flugverkehr auf Israels internationalem Flughafen wurde für mehrere Stunden unterbrochen. Sogar viele private Arbeitgeber, deren Beschäftigte nicht gewerkschaftlich organisiert sind, darunter Restaurants, Einkaufszentren, Einzelhändler und viele High-Tech-Unternehmen, folgten dem Aufruf der Histadrut und beteiligten sich am Streik.
»Das Versagen der Histadrut, die Forderungen nach einem Waffenstillstand und einem Geiselaustausch ernsthaft voranzutreiben, offenbart die internen Schwächen der Gewerkschaften ebenso wie die gesetzlichen und rechtlichen Einschränkungen des Streikrechts in Israel.«
Doch schon nach wenigen Stunden wurde klar, wie schwer es ist, in Israel tatsächlich einen Generalstreik durchzusetzen. Viele gewerkschaftlich organisierte Arbeiterinnen und Arbeiter ignorierten den Streikaufruf und setzten ihre normale Arbeit fort. Kurz nach Beginn des Streiks traten gewerkschaftsinterne Spannungen zwischen der rechtskonservativen Basis, die tendenziell auf der Seite der Regierung steht, und der liberaleren Führung, die Netanjahu häufig kritisch gegenübersteht, zutage. Ähnliche Konflikte gab es auch in kleineren, demokratischeren und radikaleren Gewerkschaften wie Koach LaOvdim, die ihren Mitgliedern die Wahl ließen, ob sie sich dem Streik anschließen wollen oder nicht.
Die Schwäche der Gewerkschaftsführung und die Grenzen ihrer Möglichkeiten, sich entschieden gegen die Regierung zu stellen, wurden schnell deutlich. Sowohl in vielen regierungstreuen Mainstream-Medien als auch auf Social Media wurde Kritik (vor allem von rechts) an der Gewerkschaft laut. Der Premierminister kritisierte den Generalstreik als eine »Unterstützungsaktion« für Hamas-Führer Jahja Sinwar und die Hamas im Allgemeinen. Die Regierung spottete nicht nur über die Gewerkschaften, sondern wandte sich auch an das Arbeitsgericht und beantragte eine sofortige Verfügung gegen die Streiks – mit der Begründung, diese seien »politisch« und daher nach israelischem Recht illegal [deutschen Leserinnen und Lesern mag dies bekannt vorkommen]. Das Gericht gab dem Antrag statt und entschied, dass der Streik weder mit Arbeitsfragen zusammenhänge noch rechtmäßig erklärt worden sei, und verlangte, dass die Beschäftigten am selben Tag bis 14.30 Uhr zur Arbeit zurückkehren. Es war ein schwerer Rückschlag für die Gewerkschaft, die dem Urteil Folge leistete.
Das Versagen der Histadrut, die Forderungen nach einem Waffenstillstand und einem Geiselaustausch ernsthaft voranzutreiben, offenbart die internen Schwächen der Gewerkschaften ebenso wie die gesetzlichen und rechtlichen Einschränkungen des Streikrechts in Israel. Diese Probleme betreffen allerdings nicht nur den Gewerkschaftsbund an sich. Vielmehr spiegeln sie tiefergehende Konflikte innerhalb der gesamten israelischen Gesellschaft wider.
Ähnlich wie in den Vereinigten Staaten, Europa und anderswo haben sich viele Israelis aus der Arbeiterklasse in den vergangenen Jahren zunehmend in Richtung der politischen Rechten orientiert. Auch in Israel ist die Liberalisierung und Privatisierung der Wirtschaft seit den 1980er Jahren die Hauptursache für diesen Prozess. Diese Entwicklung, die sowohl von rechten als auch von linken Regierungen – oft in Zusammenarbeit – vorangetrieben wurde, hat der Histadrut schwer geschadet. Sie verlor nach und nach ihre wichtigsten Machtmittel. Infolgedessen sank der gewerkschaftliche Organisationsgrad von 79 Prozent 1981 auf 34 Prozent im Jahr 2006 (derzeit liegt er nur noch bei knapp über 25 Prozent). Der einst solide israelische Wohlfahrtsstaat, der von der Histadrut mitgetragen wurde, wurde fast vollständig aufgerieben.
Sowohl der rechtsradikale Likud als auch die sozialdemokratische Arbeitspartei haben dazu beigetragen, diese neoliberale Agenda durchzusetzen. Dabei hat die Arbeitspartei ihre frühere Zusammenarbeit mit den Gewerkschaften sowie ihre einstigen Ziele Vollbeschäftigung und solider Wohlfahrtsstaat weitgehend aufgegeben. Die politische Rechte hingegen hat geschickt jüdische Wählerinnen und Wähler aus der Arbeiterklasse angesprochen, indem sie ihnen diverse »Treueprämien« anbot. Diese nahmen die Form von erschwinglichen Wohnungen, Sozialleistungen oder Arbeitsplätzen im öffentlichen Sektor in den besetzten palästinensischen Gebieten an, ebenso wie ähnliche sogenannte »Koloniallöhne«, die über den Parteiapparat des Likud und seiner politischen Verbündeten verteilt wurden. Andere Zuwendungen wurden auch durch einen zunehmenden »politischen Austausch« zwischen der Histadrut und dem Likud verteilt. Im Gegenzug warb die rechte Regierungspartei für diverse arbeiterfreundliche Zugeständnisse wie Lohnerhöhungen, mehrstufige Tarifverträge und ähnliches.
»Seit dem Streik haben im ganzen Land weitere Protestaktionen stattgefunden, die vielleicht doch noch die ersehnte und dringend benötigte Waffenruhe herbeiführen können.«
Dank dieser Verschiebung hat die Rechte inzwischen eine fest verankerte Basis in der israelischen Arbeiterklasse, die sich nicht so leicht revidieren lassen wird. Die Histadrut zu einem Bollwerk gegen die Politik der radikalen Rechten zu machen – sei es in der Wirtschaftspolitik, bei antidemokratischen oder rassistischen Gesetzen oder bei der Unterstützung des Krieges und der Besatzung – ist daher ein schwerer Kampf, der sowohl innerhalb der Gewerkschaft als auch ganz allgemein in der Linken immense Anstrengungen erfordert.
Trotz allem war der Streikaufruf der Histadrut und die Unterstützung durch die Linke und mehreren Parteien der Mitte ein Vorbote einer möglichen politischen Neuausrichtung. Dabei könnte die organisierte Arbeiterschaft der zentrale Bestandteil sein, der eine gewisse Opposition gegen den laufenden Krieg und für den Wiederaufbau des Wohlfahrtsstaates bildet. Es bleibt abzuwarten, ob tatsächlich eine linke Agenda als Teil eines umfassenderen (wenn auch schrittweisen) Wandels in der israelischen Gewerkschaftspolitik unternommen werden kann.
Das größte Hindernis ist wohl das israelische Recht, das die Möglichkeiten der organisierten Gewerkschaften zum politischen statt rein ökonomischen Streik einschränkt. Diese Einschränkung müsste beseitigt werden, damit die organisierten Gewerkschaften eine gewichtigere Rolle in der israelischen Politik spielen können. Dies ist vermutlich eine Lehre, die Israels liberale Eliten noch nicht ganz verstanden haben: In den vergangenen zwei Jahren haben sie die Histadrut wiederholt aufgerufen, eine härtere Haltung gegenüber der rechtsradikalen Regierung einzunehmen – obwohl es ihre eigene Agenda der Liberalisierung und Privatisierung der Wirtschaft seit den 1980er Jahren war, die die organisierte Arbeiterschaft unterminiert sowie die Entscheidung unterfüttert hat, den Raum für politische Streiks scharf einzugrenzen.
Dennoch können die jüngsten Ereignisse – insbesondere die Annäherung der Histadrut an das Lager der Waffenstillstandsbefürworter in Israel – vorsichtig als eine begrüßenswerte Entwicklung betrachtet werden. Erstens markiert dies die Rückkehr der Histadrut als größter kollektiver Akteur innerhalb der israelischen Gesellschaft, der in jedem bedeutenden politischen Kampf eine Position beziehen und sich einbringen muss. Zweitens hat der Generalstreik, so kurz er auch war, die wachsende Protestbewegung gestärkt. Seit dem Streik haben im ganzen Land weitere Protestaktionen stattgefunden, darunter auch die riesige Kundgebung am vergangenen Samstag, die vielleicht doch noch die ersehnte und dringend benötigte Waffenruhe herbeiführen können.
Wie wird es nun mit der Histadrut weitergehen? Der mutige Schritt der Führung ist in gewisser Weise radikal: Er widerspricht einerseits der Tendenz der Organisation, mit der Regierung zusammenzuarbeiten, um die Arbeitsbedingungen ihrer Mitglieder zu sichern, sowie andererseits der politischen Ausrichtung vieler Mitglieder an der Basis. Gleichzeitig hat der Streik aber auch die Schwächen der Organisation aufgedeckt, die erklären, warum sie ihr Hauptziel, die Regierung zu einer Einigung über die Rückführung der Geiseln und zur Beendigung des Krieges zu bewegen, nicht erreichen konnte.
»Die Realität ist, dass innerhalb Israels leider ein gewichtiger Teil der Macht, den Krieg zu beenden, in den Händen von Gruppen liegt, die kein unmittelbares Interesse am Leben von Palästinenserinnen und Palästinensern haben.«
Die Führung der Histadrut kann unabhängig von der Basis handeln; ihre stark zentralisierte Machtstruktur ermöglichte es dem derzeitigen Vorsitzenden immerhin, nicht weniger als einen Generalstreik auszurufen. Wenn es jedoch an Unterstützung durch die Mitglieder und die Basis mangelt, wird die Fähigkeit, einen solchen Streik tatsächlich durchzusetzen, schnell untergraben. Die politischen Konstellationen und Loyalitäten sind komplex und man kann wohl mit Fug und Recht behaupten, dass die internen Spannungen innerhalb der Histadrut ohne ernsthafte politische Arbeit kaum zu lösen sein werden.
Ein tiefgehender Wandel kann jedoch nicht von der Histadrut allein erreicht werden. Dazu bedarf es einer grundlegenden politischen Neuausrichtung und einer engeren Zusammenarbeit zwischen der Gewerkschaft und politischen Kräften, die sich nicht nur für die Ablösung Netanjahus, seiner Regierung und deren rechtsradikaler Agenda einsetzen, sondern auch für den Wiederaufbau des Wohlfahrtsstaates, die Stärkung der Gewerkschaften und der Schaffung einer progressiveren Alternative zum Neoliberalismus, der Besatzung und Krieg nur noch mehr begünstigt.
Die Realität ist, dass innerhalb Israels leider ein gewichtiger Teil der Macht, den Krieg zu beenden, in den Händen von Gruppen liegt, die kein unmittelbares Interesse am Leben von Palästinenserinnen und Palästinensern haben. Doch die Sorge um die israelischen Geiseln in Gaza hat tiefe Gräben in der israelischen Gesellschaft sichtbar gemacht. Fraktionen, die sich für einen unbegrenzten Krieg ohne Rücksicht auf die humanen Kosten einsetzen, stehen nun einer erstarkenden Bewegung gegenüber, die eine solche Vorgehensweise als untragbar ansieht.
Es ist sehr wahrscheinlich, dass angesichts des weiterhin tobenden Krieges – der sowohl im Gazastreifen als auch im Westjordanland Menschenleben fordert und die Aussicht auf Frieden oder ein Geiselabkommen tagtäglich gefährdet – letztere Bewegung noch stärker wird. In diesem Sinne können Friedensbefürworter vor allem in Israel selbst einflussreiche Verbündete finden. Allein deshalb lohnt es sich, die Entwicklungen im Land zu beobachten und sich der Grenzen und Möglichkeiten dieser Bewegung bewusst zu sein.
Assaf S. Bondy ist Dozent an der Business School der Universität Bristol. Seine Forschung umfasst die Themenfelder vergleichende Arbeitsbeziehungen, vergleichende politische Ökonomie und Soziologie der Arbeit.
Erez Maggor ist Dozent an der Fakultät für Soziologie und Anthropologie der Ben-Gurion-Universität. Zu seinen Forschungsinteressen gehören die politische Ökonomie von Industriepolitik und Innovation, die Politik von Wachstumsmodellen und die politischen Grundlagen des Neoliberalismus.
Jonathan Preminger ist Dozent an der Business School der Universität Cardiff sowie Autor des Buchs Labor in Israel: Beyond Nationalism and Neoliberalism (2018). Er forscht zu Beschäftigungs- und Arbeitsbeziehungen, Arbeitssoziologie und alternativen Organisationsformen.