16. Mai 2025
Die Annahme der Jerusalemer Erklärung auf dem vergangenen Linke-Parteitag ist ein Fortschritt. Dass der Vorwurf des Antisemitismus auch aus den eigenen Reihen ertönt, zeigt jedoch, dass Formelkompromisse nicht halten. Der bevorstehende Landesparteitag in Berlin wird zur Nagelprobe.
Delegierte heben ihre Stimmkarten beim Parteitag der Linken in Chemnitz, 9. Mai 2025.
Eines ist in Chemnitz am vergangenen Wochenende klar geworden: In der Diskussion um Israel und Palästina haben sich die Mehrheitsverhältnisse in der Linkspartei verschoben. Das hat der Bundesparteitag deutlich gezeigt. Eine knappe Mehrheit stimmte für einen Antrag, von nun an die Jerusalem Decleration on Antisemitism (JDA) zu benutzen, statt die der International Holocaust Remembrance Alliance (IHRA). 213 Delegierte stimmten dafür, 181 dagegen. Dass es so gekommen ist, liegt sicherlich auch an den zahlreichen Neumitgliedern. Gerade junge Menschen hat Israels Krieg gegen Gaza politisiert und viele von ihnen sind von der deutschen Politik, die nur zaghafte Kritik an der israelischen Regierung übt, abgestoßen.
Naisan Raji, Mitglied des Parteivorstandes, begrüßt die Annahme des Antrages. Der Chemnitzer Parteitag habe gezeigt, »wie stark das Bedürfnis der Mitglieder unserer Partei ist, sich angesichts des genozidalen Vorgehens der israelischen Regierung im Gazastreifen mit den Palästinensern zu solidarisieren«, sagte sie gegenüber Jacobin.
Erwartungsgemäß sorgte das Abstimmungsergebnis schnell für Kritik, sowohl innerhalb der Partei, als auch darüber hinaus. Der ehemalige Linken-Ministerpräsident Thüringens und nun Vizepräsident des Bundestags Bodo Ramelow twitterte: »Wie kann man etwas beschließen, was eine Angelegenheit von Wissenschaft & Analyse ist? Wie kann man durch Mehrheit versuchen etwas zu bestimmen, was Angelegenheit von Haltung ist? Wer Israel auslöschen und Juden vernichten oder vertreiben will, der ist Antisemit!«
Dass die JDA von Jüdinnen und Juden mitverfasst sowie wissenschaftlich erarbeitet wurde, ließ Ramelow unerwähnt, genauso wie die Tatsache, dass die parteinahe Rosa-Luxemburg-Stiftung in einem Gutachten von 2019 zu dem Schluss kam, dass die IHRA-Definition nicht zum Einsatz in staatlichem und zivilgesellschaftlichem Kontext geeignet sei – sie könne zu reduktionistischen Deutungen führen, so die Einschätzung. Der Zentralrat der Juden wirft der Linkspartei dennoch vor, »nicht an der Seite der Jüdinnen und Juden in Deutschland« zu stehen. Auch das Jüdische Forum für Demokratie und gegen Antisemitismus wirft der Partei vor, im Kampf gegen Antisemitismus zu »irrlichtern«.
»Parteiinterne Stimmen, die an der Politik Israels, an Deutschlands Kritiklosigkeit, an der autoritären Repression der Palästina-Solidarität und an der verhaltenen Positionierung der Linken Kritik üben, werden schon seit einiger Zeit lauter.«
Die IHRA-Definition ist umstritten, da sie leicht missbraucht werden kann, um Kritik an Israel als antisemitisch zu deklarieren und dadurch zu delegitimieren. Sie wird nicht nur von sogenannten Antideutschen verwendet, sondern vor allem auch von Konservativen und Rechten. Sie war 2019 auch die Grundlage für den Beschluss des Bundestags, die BDS-Bewegung als antisemitisch einzuordnen. Als die Ampel-Parteien Ende vergangenen Jahres zusammen mit Union und AfD die sogenannte Antisemitismusresolution verabschiedeten, deren Grundlage die IHRA-Definition ist, stieß dies ebenso auf breite Kritik. Die Resolution ist zwar nicht rechtlich bindend, soll aber als Leitfaden für Behörden dienen. Das BSW stimmte damals dagegen, während sich die Linkspartei lediglich enthielt – wofür sie sowohl von links als auch von rechts angegriffen wurde.
Die JDA-Definition wird als Gegenentwurf zur IHRA-Definition gesehen, da sie zwischen Israel und Jüdinnen und Juden klarer unterscheidet. Dadurch lässt sie sich nicht so leicht instrumentalisieren, um Kritik an Israel zu delegitimieren, so der Gedanke hinter der Definition. Für die Entscheidung, die JDA-Definition zu verwenden, erhielt die Linkspartei auch Rückendeckung aus der israelischen Linken: Die sozialistische und antizionistische Hadash-Partei im israelischen Knesset, die sowohl jüdische als auch palästinensische Israelis vertritt, begrüßte den Beschluss.
Parteiinterne Stimmen, die an der Politik Israels, an Deutschlands Kritiklosigkeit, an der autoritären Repression der Palästina-Solidarität und an der verhaltenen Positionierung der Linken Kritik üben, werden schon seit einiger Zeit lauter. Dem Parteitag war die Diskussion um einen Tweet von Ulrike Eifler, die Teil des Parteivorstandes ist, vorausgegangen. Sie teilte ein Bild vom historischen Palästina, dem heutigen Israel und Palästina. Abgebildet sind darauf Handflächen in den Farben der Flagge Palästinas, Grenzen sind nicht eingezeichnet. Daneben ist zu lesen: »All united for free Palestine«. Eifler wurde daraufhin vorgeworfen, sie würde aufgrund der fehlenden Landesgrenzen »das Existenzrecht Israels«infrage stellen.
Der Parteivorstand veröffentlichte kurz darauf einen Beschluss, in der er sich indirekt von Eifler distanziert: »Der Parteivorstand distanziert sich von jedem Aufruf, jedem Statement und jedweder bildlichen Darstellung, die unter dem Deckmantel der Solidarität mit der palästinensischen Bevölkerung die Existenz Israels negiert oder die Auslöschung Israels propagiert.« Und weiter: »Wir fordern die Mitglieder unserer Partei auf, derartige Darstellungen nicht zu veröffentlichen und bereits veröffentlichte umgehend zurückzuziehen.« Derweil will der Youtuber und mehrfach verurteilte Steuerhinterzieher Tobias Huch einen Offenen Brief einiger Mitglieder, Sympathisanten sowie Wählern der Linkspartei »enttarnt« haben. Darin wurde der Parteivorstand aufgefordert, den Beschluss zurückzuziehen. Das Papier wurde inzwischen offline genommen, doch es verdeutlicht, dass es an der Basis brodelt.
Später behauptete Eifler in einem Interview, die Parteivorsitzende Ines Schwerdtner habe Eifler wohl zuvor aufgefordert, den Tweet zu löschen, nachdem die Bild-Zeitung bei ihr anrief. Gegenüber Jacobin erklärt Schwerdtner: »Ich habe Ulrike gebeten, den Tweet zu löschen, weil er sich gegen unseren Beschluss einer Zwei-Staaten-Lösung wendet und weil ich sie sowohl vor der Springerpresse wie vor Anzeigen schützen wollte.«
Das ist die Krux an der Geschichte: Auch wenn Eifler sich mit ihrem Tweet für eine Ein-Staat-Lösung, also einen gemeinsamen Staat für Israelis und Palästinenserinnen und Palästinenser ausgesprochen haben sollte, sieht der Beschluss bisher noch die Zwei-Staaten-Lösung vor. Doch diese Position scheint unter vielen Mitgliedern nicht mehr Konsens zu sein. Auslöser dürfte der anhaltende Krieg in Gaza sein und die von nicht wenigen Beobachtern empfundenen Doppelstandards der Partei im Umgang mit Palästina- und Israel-solidarischen Mitgliedern.
»Eine Veränderung zu einem selbstbewussteren Umgang mit der Nahost-Debatte ist bei der Linkspartei durchaus zu beobachten. Genauso wie ein Erstarken der Palästina-solidarischen Stimmen.«
Zum Beschluss des Parteivorstandes hat sich Naisan Raji im Gespräch mit Jacobin nicht geäußert, stellt aber klar, dass sie die Diffamierungen gegenüber Eifler zurückweist. »Ulrike Eifler ist seit Jahrzehnten antifaschistisch engagiert und wollte mit ihrem Post auf das Leid der Palästinenser in Gaza sowie allen besetzten Gebieten und in Israel selbst hinweisen«, sagt sie. Eifler dafür Antisemitismus zu unterstellen, sei infam.
Dass etwas Bewegung in die Nahost-Debatte kommt, zeigt sich allerdings bereits seit Monaten. Für Aufsehen sorgte etwa ein Gastbeitrag von fünf Bundestagsabgeordneten der Linkspartei. In der Frankfurter Rundschau verurteilten Nicole Gohlke, Janine Wissler, Cansin Köktürk, Lea Reisner und Cem Ince vor wenigen Wochen Deutschlands Unterstützung für Israels Krieg und die Berichterstattung hierzulande darüber.
Auch beantragten kurz vor dem Bundesparteitag neun Mitglieder der Linkspartei ein Parteiausschlussverfahren gegen Andreas Büttner. Büttner ist, nach Stationen bei der CDU und der FDP, seit 2015 Mitglied der Linkspartei und seit 2024 Antisemitismusbeauftragter von Brandenburg. Der ehemalige Polizist ist durch seine »pro-israelische« Haltung vor allem in den Sozialen Medien regelmäßig Gegenstand von Diskussionen. Autorinnen und Autoren des Ausschlussverfahrens werfen Büttner vor, sich mit seiner Haltung ständig über Parteibeschlüsse hinwegzusetzen.
Am kommenden Wochenende findet der Parteitag der Berliner Linkspartei statt, auf dem die Debatte in die nächste Runde gehen dürfte. Bezirksgruppen wie Wedding oder Neukölln – der Wahlkreis des als Palästina-solidarisch geltenden neuen Bundestagsabgeordneten Ferat Koçak – fielen in jüngster Zeit auch mithilfe von Neumitgliedern mit einer deutlichen pro-palästinensischen Ausrichtung auf.
Im Landesverband sorgte dies bereits Ende vergangenen Jahres für Streit. Die ehemaligen Senatorinnen und Senatoren Elke Breitenbach, Klaus Lederer und Sebastian Scheel gaben ihren Austritt aus der Linkspartei bekannt, genauso wie Ex-Fraktionschef Carsten Schatz und der Haushalts-Experte Sebastian Schlüsselburg sowie Ex-Bezirksbürgermeister Sören Benn und Stadtrat Oliver Nöll. Auslöser war ein Antrag von Lederer und anderen zur Positionierung zu Israels Krieg. Nachdem als Kompromissvorschläge zahlreiche Änderungsanträge eingegangen waren, zogen sie ihren Antrag zurück und verließen den Saal.
Für das kommende Wochenende ist explizit ein Antrag zum Themenkomplex Nahost angekündigt, der sich mit vier ausländischen pro-palästinensischen Aktivistinnen und Aktivisten solidarisiert, die Berlin abschieben wollte. Es ist unwahrscheinlich, dass es in der Generaldebatte keine Wortmeldungen zur Nahost-Debatte geben wird. Wie kontrovers diese Diskussion verläuft oder ob es schnelle Einigkeit geben wird, bleibt die spannende Frage.
Auch der Parteivorstand will die Debatte fortführen. Bereits im März habe man beschlossen, »ein Fachgespräch zu den Fragen zu organisieren, wie wir den Kampf gegen antipalästinensischen, antimuslimischen Rassismus und Antisemitismus führen und wie wir diesbezügliche unterschiedliche Positionen im Sinne der Menschenrechte zusammen bringen«, so Raji.
Eine Veränderung zu einem selbstbewussteren Umgang mit der Nahost-Debatte ist bei der Linkspartei also durchaus zu beobachten. Genauso wie ein Erstarken der Palästina-solidarischen Stimmen. Inwiefern das langsam schwindende Israel-solidarische Lager darauf reagieren kann und wird, muss sich erst einmal zeigen. Offen bleibt auch, ob diese Entwicklung die Partei nachhaltig prägen wird. Für den Moment wirkt es zumindest so.
Baha Kirlidokme ist Redakteur bei der Frankfurter Rundschau.