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11. Oktober 2025

Ist es Zeit für die Sechste Französische Republik?

Frankreichs Fünfte Republik versinkt im Chaos. Das Modell eines quasi-monarchischen Präsidenten hat seine parlamentarische Grundlage verloren. Die Alternative zur ewigen Pattsituation wäre eine neue Verfassung, die Nationalversammlung und direkte Bürgerbeteiligung stärkt.

Emmanuel Macron wartet auf Staatsgäste während des Internationalen Gipfels für künstliche Intelligenz in Paris, 10. Februar 2025.

Emmanuel Macron wartet auf Staatsgäste während des Internationalen Gipfels für künstliche Intelligenz in Paris, 10. Februar 2025.

IMAGO / Andrea Savorani Neri

Seit mehr als einem Jahr ist die französische Politik von Problemen geplagt: Niemand hat eine absolute Mehrheit (oder auch nur eine komfortable relative Mehrheit) in der Nationalversammlung. Im Dezember 2024 stürzte zum ersten Mal seit den Gründungsjahren der Fünften Republik eine Regierung nach einem Misstrauensvotum der Parlamentsabgeordneten. Damals musste Premier Michel Barnier seinen Hut nehmen.

Barniers Nachfolger François Bayrou erlitt im September 2025 das gleiche Schicksal; und der Dritte im Bunde, Sébastien Lecornu, trat Anfang dieser Woche nach weniger als einem Monat im Präsidentenamt ebenfalls zurück. Die politische Krise in Frankreich trägt groteske Züge. Zum Zeitpunkt der Abfassung dieses Artikels versuchte der zurückgetretene Lecornu noch, in seiner Funktion als Interimspremier ein Regierungsprogramm auf die Beine zu stellen. Wie das Ergebnis bei Neu- oder regulären Wahlen im kommenden Sommer aussehen würde, ist unklar.

In Frankreich herrscht Krise. Es ist eine Krise des gesamten politischen Systems, der Fünften Republik, die in eine neue Phase ihrer Geschichte eintritt. Diese Phase folgt auf eine erste, die von der Rechten unter Charles de Gaulle und seinen Verbündeten dominiert wurde, und eine zweite, in der ein Abwechseln zwischen gemäßigt linken und rechten Regierungen die Norm war.

Die erste Phase

Um die Entwicklung zu verstehen, müssen wir zu den Anfängen des Regimes zurückkehren, das Charles de Gaulle zu etablieren versuchte: 1958 wurde de Gaulle damit beauftragt, eine Lösung für den Kolonialkrieg in Algerien zu finden, der vier Jahre zuvor begonnen hatte. Die Vierte Republik der Nachkriegszeit war von diesem Konflikt überfordert. Ihre Führer einigten sich darauf, das Schicksal des Landes (unter Androhung einer Militärrevolte) in die Hände des »berühmtesten Franzosen« zu legen.

De Gaulles Rückkehr an die Macht, faktisch durch einen legalisierten Staatsstreich, ermöglichte es ihm, die Grundlagen für ein neues Gleichgewicht zwischen den Institutionen des Landes, eine veränderte politische Ökonomie und eine bestimmte französische Rolle auf der Weltbühne zu schaffen. Diese drei wichtigsten Punkte lassen sich wie folgt zusammenfassen: Vorrang und Unabhängigkeit der Exekutive gegenüber der Legislative; das Versprechen einer wirtschaftlichen Modernisierung mit (relativ) gleichmäßiger Verteilung der Profite; und eine Politik der »französischen Größe« auf der internationalen Bühne – dem Ende der Kolonialzeit zum Trotz.

»Die latente Unzufriedenheit in der Bevölkerung zeigte sich schon allein daran, dass sich die Linke in Form der Sozialistischen Partei und die post-gaullistische Rechte bei jedem nationalen Wahlgang an der Macht abwechselten.«

Als Eckpfeiler dieses Regimes konnte der gestärkte Präsident der Republik auf einen starken Staat zählen, der ein Atomwaffenarsenal aufbaute, große Industrieprojekte startete, Frankreich urbanisierte und die Wirtschaft transformierte. Zwar verlief diese Transformation nicht immer ohne Kontroversen, doch der Lebensstandard der französischen Haushalte stieg im Allgemeinen. Darüber hinaus konnte mit der besonderen Stellung Frankreichs innerhalb der transatlantischen Allianz auch ein Sicherheitsgefühl, sozusagen eine »kollektive Beruhigung«, vermittelt werden.

Vor diesem Hintergrund waren die Präsidentschaften von de Gaulle (1958-69), Georges Pompidou (1969-74) und Valéry Giscard d’Estaing (1974-81) von einer gewissen Einigkeit geprägt. Im Laufe der Zeit wurde die Politik zwar zunehmend zweipolig: Gemäßigt linke und rechte Parteien schmiedeten Allianzen zu Lasten der zuvor für die Bildung von Mehrheiten unverzichtbaren Mitte-Kräfte. Dennoch war es während dieser gesamten Zeit die gemäßigte Rechte, die die Führungskontrolle behielt.

Die zweite Phase

Eine zweite Phase der Fünften Republik begann im Jahr 1981, als François Mitterrand und seine Sozialistische Partei an die Macht kamen. Obwohl diese neue Führung mehr Rechte und soziale Errungenschaften hervorbrachte, gelang es ihr nicht, einen dritten Weg zwischen dem kriselnden kapitalistischen Modell einerseits (das sich mit der neoliberalen Offensive auf Kosten der Arbeiterschaft gerade radikalisierte) und dem Scheitern autoritärer Bürokratien im Ostblock andererseits zu finden.

Im Laufe von drei Jahrzehnten begann sich die anfängliche Kohärenz des Systems aufzulösen. Die konsequente Fortführung der europäischen Integration in Form des europäischen Binnenmarkts und der Währungsunion trug (neben anderen Faktoren) zum Niedergang des interventionistischen Staates bei. Der vormals große Drang, gesellschaftliche Ungleichheiten zu beseitigen, verlangsamte sich. Den Preis zahlten vor allem Geringverdiener und die jüngere Generation. Auf der Weltbühne vollzog sich der relative Niedergang des einst großen Frankreichs und seine zunehmende Reduzierung auf den Status einer mittelgroßen Macht.

»Man könnte Macron als einen Neu- oder Sonderling im damaligen politischen System bezeichnen, wenngleich er eng mit den klassischen Eliten aus Verwaltung, Finanzwelt und Politik verbandelt war.«

Somit konnten die jüngeren Regierungen nicht mehr so viele greifbare Ergebnisse vorweisen, wie dies in der Vergangenheit noch der Fall gewesen war. Die latente Unzufriedenheit in der Bevölkerung zeigte sich schon allein daran, dass sich die Linke in Form der Sozialistischen Partei und die post-gaullistische Rechte bei jedem nationalen Wahlgang, sei es bei Präsidentschafts- oder Parlamentswahlen, an der Macht abwechselten. Dabei kam es nun mehrfach zu einer bis dahin ungewöhnlichen Situation – zur sogenannten Kohabitation, bei der der Regierungs- und der Staatschef unterschiedlichen Parteien angehören.

Dennoch war jedes Lager weiterhin in der Lage, eine jeweilige parlamentarische Mehrheit zu bilden, ohne die Macht teilen zu müssen. Im Jahr 2000 wurden sogar das Wahlrecht und die Verfassung geändert, um sicherzustellen, dass die Amtszeit des Präsidenten und die Legislaturperiode der Nationalversammlung künftig übereinstimmen. Damit wurde die Dominanz des Präsidenten auf Kosten der parlamentarischen Kompetenzen und der Bürgerbeteiligung ausgedehnt.

Die Folge war eine schleichende Schwächung der beiden großen Parteien – Les Républicains auf der rechten und Parti Socialiste auf der linken Seite. 2017 war es dann so weit, dass keine der beiden einstigen Volksparteien mehr genug Sitze innehatte, um die politische Führung zu übernehmen.

Der Macronismus

Die dritte Ära der Fünften Republik begann mit der Machtübernahme durch Emmanuel Macron. Man könnte ihn als einen Neu- oder Sonderling im damaligen politischen System bezeichnen, wenngleich er eng mit den klassischen Eliten aus Verwaltung, Finanzwelt und Politik verbandelt war.

Mit einer Kombination aus mit dem Neoliberalismus politisch zu vereinbarenden rechts- und linksgerichteten Ansätzen schuf Macron eine Art große Koalition, wie man sie bereits aus anderen europäischen Staaten kannte. Die »GroKo« nach französischer Art stand jedoch stets unter der Ägide eines fast schon monarchisch auftretenden Präsidenten.

Die fortgesetzte »Modernisierung« der französischen Gesellschaft gegen ihren Willen löste soziale Bewegungen aus, die in Bezug auf Umfang und Dauer beispiellos waren. Macron gelang es 2022 zwar, sich eine zweite Amtszeit zu sichern, nachdem er im Zuge der Pandemie und zu Beginn der Invasion Wladimir Putins in der Ukraine einen eher apathischen Wahlkampf geführt hatte. Bei den anschließenden Parlamentswahlen verfehlten seine Verbündeten jedoch die absolute Mehrheit in der Nationalversammlung. Es war das erste Mal seit der Synchronisierung der Wahlen Anfang der 2000er Jahre, dass das Lager des Siegers in der Präsidentschaftswahl gleichzeitig keine Mehrheit im Parlament hatte. Die Position der Macronschen Allianz verschlechterte sich nach der Auflösung der Nationalversammlung und den vorgezogenen Neuwahlen im Sommer 2024 weiter.

»Für republikanisch gesinnte Kräfte in Frankreich, sowohl auf der Linken als auch in den Überresten der konservativen Parteien, stellt sich eine enorme Herausforderung.« 

Der Macronismus hat sich seitdem zunehmend ideologisch nach rechts verschoben, um an der Macht zu bleiben. Doch die gesamte politische Szene Frankreichs wirkt konfus. Dies liegt nicht nur daran, dass sich die Akteure an eine Situation anpassen müssen, die es in den vergangenen sechs Jahrzehnten schlichtweg nicht gegeben hat. Vielmehr ist es problematisch, dass die derzeitigen verfassungsmäßigen Bestimmungen diesen Akteuren keine wirkliche Unterstützung bei der Suche nach stabilen und legitimen Regierungskoalitionen bieten.

Derzeit gibt es drei Kräfte, die den politischen Konkurrenzkampf in Frankreich prägen: die radikale Rechte, dominiert vom Rassemblement National (RN) von Marine Le Pen; das Lager des Präsidenten, das sich vor allem durch seine Liebe zum Neoliberalismus auszeichnet; und die Linke, die versucht, die Rettung des französischen Sozialstaats, die Einleitung eines echten ökologischen Wandels und eine Demokratisierung des französischen politischen Systems unter einen Hut zu bekommen. Es ist höchst unwahrscheinlich, dass eine dieser drei Kräfte bei kommenden Wahlen stark genug sein wird, um allein zu regieren (ob dies überhaupt wünschenswert ist, wäre eine andere Frage).

Darüber hinaus behindert das Fehlen einer proportionalen Repräsentation die Zusammenarbeit zwischen diesen drei Kräften im Parlament. Hinzu kommt, dass man stets auf einen »Winner-takes-all«-Sieg bei den nächsten Präsidentschaftswahlen hoffen kann. Das mindert den Willen zur Kooperation – und so ist die Pattsituation entstanden, die die französische Demokratie zu einem der derzeit instabilsten politischen Systeme in der EU macht.

Die Sechste Republik

Wie sich diese dritte Phase der Fünften Republik weiterentwickelt und welche Merkmale sie herausbildet, ist noch unklar. In jedem Fall ist aber das derzeit zu beobachtende kollektive Gefühl der Machtlosigkeit für einen großen EU-Mitgliedstaat wie Frankreich besorgniserregend, insbesondere angesichts einer sich rasch verändernden globalen Lage, in der revisionistische Mächte wie Russland und China agieren und Donald Trump mit seinem rücksichtslosen Kurs mit der etablierten internationalen Ordnung bricht. Tatsächlich scheint die amtierende US-Regierung Europa nicht einfach nur ignorieren oder »im Stich lassen« zu wollen; sondern sie tritt immer deutlicher als Gegner des klassisch-liberalen europäischen Politikmodells auf.

»Progressive Verfechter der Republik müssen angesichts der Herausforderungen heute den Aufbau sozialer und ökologischer Schutzmaßnahmen anstreben.« 

Für republikanisch gesinnte Kräfte in Frankreich, sowohl auf der Linken als auch in den Überresten der konservativen Parteien, stellt sich eine enorme Herausforderung. Der rechtsradikale RN und seine Verbündeten, die noch nicht mit dem Makel der Regierungserfahrung befleckt sind, bieten eine vermeintlich klare Lösung für die Systemkrise an. Alle Großmächte, die ein Interesse an der Destabilisierung Europas haben, werden eine solche Kraft in Frankreich gerne unterstützen. Die Lösungen des RN zielen darauf ab, die Nation auf einer ebenso eng gefassten wie ausgrenzenden Basis zu einen – auf Kosten aller Minderheiten, die sich nicht einer intoleranten Vorstellung einer »französischen Identität« unterwerfen wollen oder können. Natürlich dürfte sich der Kreis der Betroffenen erweitern, sobald deutlich wird, wie unwirksam dieses absolut unmoralische »Heilmittel« der Rechten offensichtlich ist. Entgegen dem eigenen Reden von nationaler Unabhängigkeit würden die autoritären Lösungen der radikalen Rechten in eine düstere Zukunft führen, in der Staaten wie Frankreich sich neoimperialen Großmächten unterwerfen, die globale Einflussbereiche untereinander aufteilen.

Die Alternative wäre eine Sechste Republik. Diese müsste aufbauen auf Prinzipien wie einer Einschränkung der Befugnisse des Präsidenten, eine im Sinne der proportionalen Repräsentanz gewählten und mit größeren Ressourcen ausgestatteten Nationalversammlung sowie erweiterten Möglichkeiten für die Beteiligung der Bürgerinnen und Bürger an Entscheidungsprozessen.

Eine rein institutionelle Lösung wird jedoch nicht ausreichen. Während die Fünfte Republik ursprünglich durch das Versprechen einer wirtschaftlichen Modernisierung einen gewissen Zusammenhalt und Kohärenz sichern konnte, müssen progressive Verfechter der Republik angesichts der Herausforderungen heute den Aufbau sozialer und ökologischer Schutzmaßnahmen anstreben. Sie müssen die Rolle Frankreichs bei der Verteidigung Europas und seiner universellen Werte neu definieren.

Fabien Escalona ist Journalist bei Mediapart und der Autor von La reconversion partisane de la social-démocratie européenne.