ABO
Das Online-Magazin von JACOBIN Deutschland

26. September 2025

Frankreichs Krise heißt Macron

Emmanuel Macron hat jetzt schon seinen fünften Premierminister in zwei Jahren ernannt. Doch auch dieser oberflächliche Wechsel ändert nichts am tiefen Unmut der Franzosen gegenüber der Kürzungspolitik, wie die anhaltenden Streiks und Proteste zeigen.

Tausende versammeln sich auf dem Place Guichard in Toulouse, um gegen die Regierung und die Politik von Emmanuel Macron zu protestieren, 10. September 2025.

Tausende versammeln sich auf dem Place Guichard in Toulouse, um gegen die Regierung und die Politik von Emmanuel Macron zu protestieren, 10. September 2025.

IMAGO / MAXPPP

Nach Angaben des Gewerkschaftsbundes CGT sind vergangene Woche Donnerstag rund eine Million Menschen in Frankreich auf die Straße gegangen, um gegen Präsident Emmanuel Macron und seine Austeritätspolitik zu demonstrieren. Es war die zweite große Mobilisierung in den vergangenen Wochen, nachdem die Bewegung »Bloquons tout!« (Wir blockieren alles!) am 10. September mit ihrem Aufruf zu Streiks und Blockaden einen recht beachtlichen Erfolg feiern konnte.

Der Aufruf zur Mobilisierung hatte sich spontan im Internet verbreitet, bevor die direkten Aktionen über sogenannte Volksversammlungen in vielen französischen Städten organisiert wurden. »Bloquons tout!« hatte insbesondere zur Blockade von Verkehrswegen aufgerufen, um gegen den von Ex-Premier François Bayrou vorgelegten Austeritätshaushalt zu protestieren.

Viele Blockaden wurden durch massive Polizeipräsenz (mit einer Rekordzahl von 80.000 eingesetzten Beamten) verhindert oder aufgelöst, aber mehr als 200.000 Menschen nahmen an den Aktionen teil – ein beachtlicher Erfolg für eine Bewegung, die es noch wenige Monate zuvor überhaupt nicht gegeben hatte. Der ursprüngliche Aufruf war von einer kleinen nationalistischen Gruppe gestartet worden, doch diese war nun nicht mehr an der Organisation der Proteste beteiligt. Stattdessen spielte die Linke die Hauptrolle.

Die kämpferischsten Gewerkschaftsblöcke (CGT und Solidaires) hatten den Aufruf vom 10. September unterstützt. Die Intersyndicale, in der alle großen Arbeiterorganisationen zusammengeschlossen sind, beschloss hingegen, ihr Augenmerk auf den 18. September zu legen. Zu diesem Zeitpunkt war Bayrous Haushalt bereits in der Nationalversammlung abgelehnt worden, er war zum Rücktritt gezwungen und Macron hatte schon einen neuen Premierminister, Sébastien Lecornu, ernannt.

»Der Streik vom Donnerstag brachte Teile der Pariser Metro zum Stillstand, beeinträchtigte den Nahverkehr, die S-Bahnen und einige Bereiche des öffentlichen Dienstes erheblich, beispielsweise blieben viele Schulen geschlossen. Im privaten Sektor gab es hingegen nur vereinzelte Aktionen.« 

Dennoch folgten die Französinnen und Franzosen dem Aufruf der Gewerkschaften und zeigten sich überzeugt, dass auch der neue Premier nichts an Macrons Politik ändern wird. Tatsächlich hat Lecornu begonnen, einen neuen Etat auf Grundlage des abgelehnten Haushalts von Bayrou auszuhandeln. Letzterer beinhaltete Kürzungen bei den Sozialausgaben in Höhe von 44 Milliarden Euro sowie gleichzeitig eine Aufstockung der Mittel für das Militär.

Der Erfolg der Demonstrationen vom 18. September, an denen auch die Aktivisten von »Bloquons tout!« teilnahmen, zeigt, wie groß die Unzufriedenheit mit Macrons Politik und die politische Krise, die in Frankreich seit 2022 herrscht, sind. Laut einer aktuellen Umfrage lehnen mehr als 70 Prozent der befragten Bürgerinnen und Bürger den Sparkurs ab. Mehr noch: 64 Prozent fordern Macrons Rücktritt – eine außergewöhnliche Situation in dieser stark präsidial geprägten Republik, in der die Legitimität des direkt gewählten Staatsoberhauptes normalerweise als geradezu unantastbar gilt.

Die Frage ist nun, was der aktuelle Protestzyklus erreicht und inwiefern er die politische Situation verändern könnte. Derzeit blockiert Macron jeglichen Fortschritt durch seine verbissene Entschlossenheit, an der Macht festzuhalten und seine gegen die Arbeiterklasse gerichtete Politik durchzudrücken.

Der Aufbau einer neuen Bewegung

Die Mobilisierung der Gewerkschaften am vergangenen Donnerstag ähnelte vielen französischen Protesttagen der Vergangenheit. Die Beteiligung war groß, aber nicht rekordverdächtig: Im Zuge der Proteste gegen die Rentenreform waren 2023 beispielsweise laut CGT-Schätzungen bis zu 3,5 Millionen Menschen an einem einzigen Tag auf die Straße gegangen – die größte Demonstration in der Geschichte Frankreichs.

Der Streik vom Donnerstag brachte Teile der Pariser Metro zum Stillstand, beeinträchtigte den Nahverkehr, die S-Bahnen und einige Bereiche des öffentlichen Dienstes erheblich, beispielsweise blieben viele Schulen geschlossen. Im privaten Sektor gab es hingegen nur vereinzelte Aktionen. Dies ist ein übliches Muster bei Streiks in Frankreich: Obwohl alle Arbeiterinnen und Arbeiter per Gesetz das Recht auf Streik haben, machen nur wenige in privatwirtschaftlichen Unternehmen davon Gebrauch, da sie unter dem Druck ihrer Arbeitgeber stehen, Gewerkschaften dort kaum vertreten sind und eine Arbeitskampfkultur bestenfalls schwach ausgeprägt ist.

Das Besondere an den Mobilisierungen am 18. September – gerade im Vergleich zur Protestbewegung gegen die Rentenreform vor zweieinhalb Jahren – liegt im gegenwärtigen politischen Kontext: Die Streiks 2023 fanden kurz nach Macrons Wiederwahl zum Präsidenten statt, als seine Unterstützer die größte Fraktion in der Nationalversammlung stellten. Das ermöglichte ihm, die Rentenkürzungen trotz breiter Ablehnung in der Bevölkerung durchzusetzen. Heute ist Macron so schwach, wie ein Präsident in Frankreich nur sein kann: Er baut auf eine fragile Minderheitsregierung, und seine Premierminister werden einer nach dem anderen von einem Parlament gestürzt, in dem die radikale Rechte und die verschiedenen Kräfte der Linken dominieren.

»Den jüngsten Protesten ist es gelungen, die politische Debatte auf Steuergerechtigkeit statt auf klassische Themen der Rechten zu verschieben. In Talkshows sind Migration und Sicherheit nicht mehr die Hauptthemen.«

Darüber hinaus entsteht eine interessante Dynamik zwischen »Bloquons tout!« und der Gewerkschaftsbewegung. Die Gewerkschaften – insbesondere die CGT, die nach Mitgliederzahlen zweitgrößte Gewerkschaft Frankreichs und eine einflussreiche Mobilisierungskraft – haben aus ihren Fehlern im Umgang mit den sogenannten Gelbwesten gelernt. Die 2018 ebenfalls spontan entstandenen Gilets Jaunes hatten monatelang Wochenende für Wochenende die Straßen Frankreichs blockiert sowie Großdemonstrationen vor dem Élysée-Palast und der Nationalversammlung auf die Beine gestellt. Die Gelbwesten wählten damit die direkte Konfrontation mit der politischen Macht, anstatt sich an die üblichen, eingespielten Abläufe von Gewerkschaftsdemonstrationen zu halten. Das mag ein Detail und in gewisser Weise Symbolik sein, hat in Frankreich aber Gewicht.

Die Gelbwestenbewegung schaffte es tatsächlich, Macron zu einigen Maßnahmen zu zwingen, mit denen die Kaufkraft der Arbeiter- und Mittelschicht erhöht wurde – sicherlich ein größerer Erfolg als die wenigen Zugeständnisse, die die Gewerkschaftsbewegung gegen die Rentenreformen 2023 erreichen konnte. Doch die Gewerkschaften unterstützten die Gelbwesten kaum, da sie sich über die Präsenz rechtsextremer Teilnehmer und die mangelnde gewerkschaftliche Kontrolle über die Mobilisierung sorgten. Dieses Jahr gaben CGT und Solidaires den Streikaktionen am 10. September derweil rechtliche Rückendeckung und lobten den Erfolg der »Bloquons-tout!«-Bewegung.

Bei der Gewerkschaftsdemonstration in Paris letzte Woche war die Präsenz der Aktivisten von »Bloquons tout!« deutlich zu spüren: Zusammen mit radikalen Gewerkschaftern forderten sie, dass die Gewerkschaftsführer zu einem unbefristeten Streik aufrufen, mit dem ernsthafter Druck auf die ökonomischen und politischen Machteliten ausgeübt werden könne, anstatt wie üblich eine Aneinanderreihung von vereinzelten Streiktagen und Demonstrationen zu organisieren. Mit letzterer Strategie sei man 2023 bekanntermaßen gescheitert. Andererseits gibt es nicht den kleinen roten Knopf, den Gewerkschaftsführer drücken könnten, um einen unbefristeten Generalstreik zu beschließen: Offensichtlich haben sie ja sogar Probleme, die Mehrheit der Arbeiterschaft zu einem eintägigen Streik zu bewegen.

Dennoch: Es ist denkbar, dass das Zusammenspiel aus radikalen Anhängern von »Bloquons tout!«, der Mobilisierungsfähigkeit der Gewerkschaften und ein politisches Umfeld mit einer krisengeplagten Staatsführung zu größeren und radikaleren Formen des Protests führt. Womöglich kann Macron wirklich einmal unter Druck gesetzt werden. So gab es am 18. September selbst in kleinen Städten beachtliche Demonstrationen. Allerdings ist bislang unklar, ob die neue Bewegung in der Lage ist, die Bevölkerung in den Vororten und ländlichen Gebieten zu integrieren, die vor einigen Jahren mit den Gelbwesten auf die Straße gegangen war, aber im aktuellen Mobilisierungszyklus unterrepräsentiert ist.

Nicht Regierungs-, sondern Systemkrise

Es ist zu erwarten, dass auch der neue Premier Sébastien Lecornu dabei scheitern wird, von den konservativen Republikanern und der sozialdemokratischen Parti Socialiste Zustimmung für einen neuen Haushalt zu erhalten. Sollte Lecornu ebenfalls von der Nationalversammlung abgewählt werden – wie seine drei von Macron handverlesenen Vorgänger –, könnte sich der Präsident gezwungen sehen, erneutvorgezogene Parlamentswahlen anzusetzen.

Umfragen zeigen eine ähnliche Situation wie bei den letzten Wahlen im Sommer 2024: Marine Le Pens rechtsradikaler Rassemblement National könnte gewinnen, es sei denn, die linken Parteien schlössen sich zusammen, was ihnen einen erneuten Sieg ermöglichen dürfte. Das Problem dabei ist, dass die Beziehungen zwischen der linken La France Insoumise (LFI) auf der einen Seite und den Sozialisten sowie Grünen auf der anderen an einem Tiefpunkt angelangt sind. Während LFI-Chef Jean-Luc Mélenchon Macrons Rücktritt als einzigen Ausweg aus der Krise fordert, sind die Sozialisten und Grünen weiterhin bestrebt, faktisch unmögliche Einigungen im Parlament zu erzielen. Die beiden letztgenannten Parteien sind in einer Logik festgefahren, deren Grenzen bereits im vergangenen Jahr deutlich geworden sind: Die Mehrheit der Bürgerinnen und Bürger sowie sogar der Abgeordneten in der Nationalversammlung will das eine, aber die Macron-Regierung hat die institutionelle Macht, das genaue Gegenteil zu tun.

Angesichts dieser Konstellation ist inzwischen immer öfter von einer »Regimekrise« oder »Systemkrise« die Rede: Die von Charles de Gaulle gegründete, stark auf den Präsidenten fokussierte Fünfte Republik scheint erschöpft. Macron hat die politischen Ansätze seiner beiden Vorgänger Nicolas Sarkozy und François Hollande auf die Spitze getrieben: Beide hatten mit Verweis auf die Staatsverschuldung unpopuläre neoliberale Reformen (Kürzungen bei Renten und öffentlichen Ausgaben, Liberalisierung des Arbeitsmarktes) durchgesetzt, begleitet von Steuergeschenken an Reiche und Großkonzerne. Beide haben es wie Macron geschafft, die meisten ihrer Reformen trotz der großen Ablehnung in der Bevölkerung – kein Wunder angesichts der massiven Zunahme der Ungleichheit in den letzten Jahrzehnten – durchzusetzen.

Allein während Macrons Regierungszeit haben die fünfhundert reichsten Franzosen ihr Vermögen verdoppeln können, nachdem diese Vermögen natürlich auch schon unter Hollande deutlich zugenommen hatten. So wächst in der Bevölkerung das Gefühl, dass das politische System zugunsten der Eliten verzerrt und der Wille der breiten Allgemeinheit ignoriert wird. In der Vergangenheit führte dies zu zunehmender Unterstützung für den rechten Rassemblement National, der am meisten von Proteststimmen profitierte.

»In jedem Fall dürfte die aktuelle Mobilisierung die Linke in eine günstigere Ausgangsposition für die Wahlen 2027 bringen.« 

Den jüngsten Protesten ist es nun aber gelungen, die politische Debatte auf Steuergerechtigkeit statt auf klassische Themen der Rechten zu verschieben. In Talkshows sind Migration und Sicherheit nicht mehr die Hauptthemen. Stattdessen gibt es Debatten über Vorschläge wie eine Abgabe von 2 Prozent auf das Vermögen von Superreichen. Davon wären lediglich 1.800 Menschen in ganz Frankreich betroffen, die Vermögenssteuer würde aber jährlich fünf Milliarden Euro einbringen. Sie ist ein sehr moderater Vorschlag, mit dem aber das skandalöse Ausmaß der Ungleichheit – das durch die Politik der letzten Präsidenten erreicht wurde – zumindest angesprochen wird.

Der Rassemblement National, der in der Nationalversammlung übrigens nicht für die Vermögenssteuer gestimmt hat, fühlt sich mit dieser aktuellen Situation sichtlich unwohl: Die klassische Behauptung, Migranten seien für alle Probleme des Landes verantwortlich, könnten zunehmend auf taube Ohren stoßen.

Die politischen und gewerkschaftlichen Organisationen der Linken stehen zusammen mit den aus »Bloquons tout!« hervorgegangenen Volksversammlungen jetzt vor der Herausforderung, die schweigende Mehrheit der französischen Gesellschaft von Resignation zu aktiver Rebellion zu bewegen. Es geht um den Teil der Bevölkerung, der Macron und seine Politik ablehnt, aber nicht an den Nutzen von Protesten glaubt – eine verständliche Einstellung angesichts der frustrierenden Bilanz der Protestbewegungen der vergangenen Jahrzehnte.

Eine Mobilisierungswelle, die über breitere Bevölkerungsschichten hinweg aufgebaut sowie durch disruptive Protestmethoden (Massen- und Langzeitstreiks, Straßen- und Schienenblockaden et cetera) verstärkt wird, würde den Druck auf Macron erheblich erhöhen. Sein Rücktritt mag aktuell unwahrscheinlich sein: Er scheint entschlossen, bis zu den Präsidentschaftswahlen 2027 an der Macht zu bleiben. Aber vielleicht hält die revolutionäre Tradition Frankreichs noch einige Überraschungen bereit.

In jedem Fall dürfte die aktuelle Mobilisierung die Linke in eine günstigere Ausgangsposition für die Wahlen 2027 bringen. Der Sieg eines Kandidaten links von der Parti Socialiste – sei es Mélenchon oder jemand anderes – würde wahrscheinlich das Ende der präsidialen Fünften Republik und die Einberufung einer verfassungsgebenden Versammlung bedeuten. Eine solche Perspektive könnte plötzlich alle politischen Möglichkeiten eröffnen, die durch Macrons Ein-Mann-Herrschaft bisher verschlossen blieben.

Bis dahin sind natürlich noch viele Schritte erforderlich. Zunächst muss die Mobilisierung intensiviert werden – und ein Wahlsieg des Rassemblement National verhindert. Denn diese Gefahr besteht nach wie vor.

Pablo Castaño ist freiberuflicher Journalist sowie Politikwissenschaftler. Er hat einen PhD in Politikwissenschaften von der Autonomen Universität Barcelona und schreibt unter anderem für Ctxt, Público, Regards und The Independent.