15. November 2024
Die italienische Regierung glaubt, die Identität ihres Landes sei durch Zuwanderung bedroht. Gleichzeitig braucht Italiens Wirtschaft billige Arbeitskräfte. Melonis Lösung? Sie schafft eine migrantische Arbeiterklasse ohne Bürgerrechte.
Premierministerin Giorgia Meloni spricht auf einer Pressekonferenz im Palazzo Chigi in Rom, 5. November 2024.
Vor zwölf Monaten hat die Regierung von Giorgia Meloni ein Abkommen mit der albanischen Führung unterzeichnet. Es sieht die Einrichtung von zwei italienischen »Asylzentren« auf albanischem Staatsgebiet vor. Das eine befindet sich im Hafen von Shëngjin und dient als Erstaufnahmestelle für Migrantinnen und Migranten, die von italienischen Schiffen gerettet wurden. Das zweite Zentrum in Gjadër soll in einem Zeitraum von 28 Tagen nach Anlandung die Asylersuchen von Menschen aus sogenannten »sicheren Ländern«bearbeiten. Menschen, deren Anträge abgelehnt werden, sollen bis zu ihrer Abschiebung vor Ort inhaftiert bleiben.
Dieses Experiment, Asylverfahren in ein Nicht-EU-Drittland auszulagern, hat das Interesse von führenden Politikern in ganz Europa geweckt. Deutschlands (Noch-) Kanzler Olaf Scholz, der britische Premier Keir Starmer und EU-Kommissionschefin Ursula von der Leyen beobachten das Geschehen genau und sind offenbar sehr gespannt, ob und wie sich diese italienische Initiative weiterentwickeln wird.
Es ist allerdings unklar, ob Melonis Vision, die beiden Orte in Albanien zu zentralen Anlaufstellen für die Bearbeitung tausender Anträge sogenannter »irregulärer Migranten« zu machen, Wirklichkeit wird. Denn die italienischen Gerichte haben sich bereits eingeschaltet und die Inhaftierung der ersten 16 Menschen aus Ägypten und Bangladesch, die in die neu eingerichteten Zentren gebracht wurden, für unzulässig erklärt. Diese gerichtliche Entscheidung verkompliziert Melonis Pläne und deutet bereits auf einen bevorstehenden Konflikt zwischen ihrer Regierung und der italienischen Justiz hin. Darüber hinaus wirft sie die Frage auf, ob derartige Maßnahmen vor dem EU-Rechtssystem bestehen könnten.
Doch worum geht es in diesem Konflikt wirklich? Um dies zu verstehen, müssen wir uns ansehen, wie die italienische Rechte Immigration versteht und interpretiert. Das italienisch-albanische Abkommen ist zunächst ein weiterer Versuch, abschreckende Maßnahmen gegen »irreguläre, maritime Einreisen« zu verschärfen. Im italienischen Fall hat das Wort »maritim« noch mehr Gewicht als »irregulär«: Denn der Kampf richtet sich nicht nur gegen irreguläre Migration an sich, sondern explizit darum, die Ankunft von Menschen auf dem Seeweg zu stoppen. Meloni fordert eine strikte Kontrolle der »maritimen« Grenzen Italiens und verspricht Maßnahmen gegen Schleuser auf See. Eher zweitrangig erscheinen da Strategien, mit denen die Kontrollen im Land verbessert werden könnten, beispielsweise mit Blick auf abgelaufene Visa. Ebenso unwichtig sind offenbar neue Maßnahmen gegen die brutale Behandlung von (irregulär eingereisten) Migrantinnen und Migranten in bestimmten Bereichen des italienischen Arbeitsmarktes.
Das große Problem für Meloni und ihre Mitstreiter ist die Frage, wie das zukünftige Italien aussehen und funktionieren soll. Denn es ist klar, dass das Land Einwanderung dringend braucht: 24,9 Prozent der Bevölkerung sind heute über 65 Jahre alt. Damit ist Italien nach Japan das zweitälteste Land der Welt. Diese demografische Situation, in der ein kleiner Teil der arbeitenden Bevölkerung eine stetig wachsende ältere Bevölkerung unterstützen und für deren Pflege und Renten aufkommen muss, wird zunehmend untragbar.
»Aus Sicht der radikalen Rechten und eines bedeutenden Teils der italienischen Wählerschaft sind afrikanische und asiatische Migranten kulturell und ethnisch einfach ›zu anders‹, um sich nahtlos in die italienische Gesellschaft zu integrieren.«
Meloni sieht sich einem enormen Arbeitskräftemangel gegenüber – und ist sich der beunruhigenden Demografie-Statistiken sicherlich bewusst. Daher wurden mit dem sogenannten Decreto flussi Einreisequoten festgelegt, laut denen zwischen 2023 und 2025 insgesamt 452.000 ausländische Staatsangehörige aus Nicht-EU-Ländern offiziell in Italien aufgenommen werden. Darüber hinaus begrüßte die italienische Führung die Ankunft ukrainischer Geflüchteter und verfolgt eine erstaunlich liberale Politik bei der Vergabe von Staatsbürgerschaften für Ausländer, die nachweisen können, dass einer ihrer Vorfahren nie die italienische Staatsbürgerschaft verloren hat. Davon profitieren vor allem Personen mit brasilianischen, argentinischen und venezolanischen Pässen.
Was aber unterscheidet diese erwünschte Einwanderung von der nicht gewollten »irregulären maritimen Einwanderung«? Letztere ist für Italiens Rechte offenbar derart furchteinflößend, dass es noch mehr Abschreckungsmaßnahmen und die Einschränkung des Asylrechts zu brauchen scheint.
Um diese Unterscheidung zwischen »guter« und »schlechter« Migration zu verstehen, muss man sich lediglich die Herkunftsländer derjenigen Menschen ansehen, die versuchen, per Boot über das Mittelmeer nach Italien zu gelangen. Diese stammen meist aus Ländern, die nicht auf der sogenannten »gemeinsamen Liste« stehen (der Liste mit Drittländern, deren Staatsangehörige beim Überschreiten der EU-Außengrenzen kein Visum benötigen). Sie kommen also hauptsächlich aus Subsahara-Afrika, der MENA-Region und Südasien. Nach Angaben der UN-Flüchtlingsagentur gehörten zu den am häufigsten vertretenen Nationalitäten unter Migranten, die 2023 über das Mittelmeer kamen, Menschen aus Guinea, Tunesien, der Elfenbeinküste, Bangladesch und Ägypten. Für sie sind die Möglichkeiten, auf regulärem Wege nach Europa einzureisen aufgrund der strengen Visabestimmungen stark eingeschränkt. Viele entscheiden sich daher für gefährliche – und oft tödliche – irreguläre Routen.
Das italienische Decreto flussi erlaubt die Einreise aus afrikanischen und asiatischen Staaten, die nicht auf der »gemeinsamen Liste« stehen, um den unmittelbaren Arbeitskräftebedarf zu decken. Nun könnte man daraus lesen, die Regierung Meloni setze lediglich Maßnahmen zur Eindämmung der irregulären Migration um und schaffe gleichzeitig Wege für reguläre/legale Einwanderung. Dabei würde man jedoch einen zentralen Punkt dieses Einwanderungsmodells außer Acht lassen: Das Dekret ist zielgenau auf den spezifischen Arbeitskräftemangel in Branchen zugeschnitten, in denen der Bedarf besonders dringend ist. Das Hauptaugenmerk des Decreto flussi liegt dementsprechend auf dem Arbeitsmarkt in den Bereichen Transport, Bauwesen, Gastgewerbe, Fischerei, Haushaltshilfen und Landwirtschaft. In Kombination mit den strengen Regelungen für den Erwerb der italienischen Staatsbürgerschaft für nichteuropäische Ausländer (ein Gesetz, das seit 32 Jahren nicht reformiert wurde) macht das Decreto flussi eingewanderten Menschen deutlich, dass sie die verfügbaren Arbeitsmöglichkeiten in bestimmten Branchen nutzen müssen, solange sie können – und gleichzeitig keine übermäßigen Erwartungen haben sollten, vollständig anerkannte Mitglieder der italienischen Gesellschaft zu werden.
»Angesichts der Geburtenentwicklung der einheimischen Bevölkerung ist Italien auf einen stetigen Zustrom von Einwanderern angewiesen. Nur so kann der existierende Wohlfahrtsstaat in seiner derzeitigen Form erhalten und eine Schrumpfung der (arbeitenden) Bevölkerung verhindert werden.«
Das Gesetz über den Erwerb der italienischen Staatsbürgerschaft schreibt vor, dass antragstellende Personen zehn Jahre lang ununterbrochen und legal in Italien gelebt haben müssen. Dabei muss für jedes Jahr eine Aufenthaltserlaubnis sowie eine Anstellung nachgewiesen werden. Für Arbeiterinnen und Arbeiter in Branchen wie der Landwirtschaft, die oft prekäre Arbeitsbedingungen erleiden und unzureichend bis gar keinen Arbeitsschutz genießen, dürfte dies schwierig sein. Selbst wenn die zeitlichen und genehmigungsrechtlichen Anforderungen erfüllt sind, liegt es darüber hinaus im Ermessen der italienischen Behörden, die finanzielle Unabhängigkeit der Antragsteller zu beurteilen. Mit einem solchen Rechtsrahmen wird eine unmissverständliche Botschaft vermittelt: Nicht-weiße Einwanderer werden nur insoweit akzeptiert, als sie den aktuellen Bedürfnissen und Anforderungen der italienischen Wirtschaft entsprechen und bereit sind, als Arbeitskräfte in untergeordneten Positionen zu schuften. Wenn sie in den Branchen, in denen sie aktuell dringend gebraucht werden, keine langfristigen Arbeitsverträge aushandeln können, wird von ihnen erwartet, dass sie das Land über kurz oder lang wieder verlassen.
Aus Sicht der radikalen Rechten und eines bedeutenden Teils der italienischen Wählerschaft – Melonis Beliebtheit hat seit ihrem Amtsantritt im Oktober 2022 nicht nachgelassen – sind afrikanische und asiatische Migranten kulturell und ethnisch einfach » zu anders«, um sich nahtlos in die italienische Gesellschaft zu integrieren, ohne dass dabei deren innerer Zusammenhalt gefährdet würde.
Dabei ist Italien in den vergangenen drei Jahrzehnten aufgrund von Migration tatsächlich eine ethnisch diverse Gesellschaft geworden. Es ist eine Situation, an die viele Italienerinnen und Italiener bisher nicht gewöhnt waren. Da Italien der zweitgrößte Produktionsstandort in der EU ist und seine Bevölkerung altert, ist diese ethnische Diversifizierung jedoch eine unvermeidliche Entwicklung. 1910 machten Italiener noch über zwei Prozent der Weltbevölkerung aus, heute sind es lediglich 0,7 Prozent.
Angesichts der Geburtenentwicklung der einheimischen Bevölkerung ist Italien auf einen stetigen Zustrom von Einwanderern angewiesen. Nur so kann der existierende Wohlfahrtsstaat in seiner derzeitigen Form erhalten und eine Schrumpfung der (arbeitenden) Bevölkerung verhindert werden. Das sehen auch viele in der radikalen Rechten so, die aber ihrerseits fordern, man müsse auf eine bestimmte Art der Einwanderung setzen, die mit einem Fortbestand der eigenen ethnischen und religiösen Homogenität vereinbar ist. Denn sonst entstünde für Italien eine tödliche Gefahr: der Verlust der ethno-religiösen »Kohäsion«. Entsprechend dieser Logik werden Ukrainerinnen oder Argentinier mit offenen Armen willkommen geheißen, um die italienische Gesellschaft zu stärken. Das gilt hingegen nicht für Nigerianer oder Senegalesinnen.
»Wenn Führungspersönlichkeiten wie Scholz, Starmer und von der Leyen die Experimente Italiens aufmerksam beobachten, spiegelt dies eine deutliche Verschiebung in der europäischen Politik nach rechts wider.«
Doch die Uhr lässt sich nicht zurückdrehen. Internationale Migrationsbewegungen haben die ethnische Zusammensetzung Italiens bereits verändert. Italiener zu sein ist heute nicht mehr gleichbedeutend damit, weiß und christlich zu sein. Da die Dominanz der Mehrheitsgesellschaft über die Minderheiten aber bewahrt werden soll, ist es von entscheidender Bedeutung, diejenigen, die diesem ethnisch-religiösen Standard nicht entsprechen, in prekären Positionen zu halten. Es sind daher ganz bewusst kalkulierte Schritte, wenn afrikanischen und asiatischen Menschen fast ausschließlich der Zugang zu »niederer« Arbeit ermöglicht wird und es gleichzeitig verschärfte Kontrollen auf den Mittelmeer-Migrationsrouten gibt. Die Message ist eindeutig. In einem Land, das seit Jahrzehnten ein Hotspot der internationalen Migrationsbewegungen ist, kann die (zumindest teilweise) Wiederherstellung einer homogenen nationalen Identität nur durch eine aggressive Abschreckungspolitik nach außen erreicht werden. Dazu zählen auch Melonis Versuche, das Thema Migration nach Albanien zu externalisieren. Konsequent wird ein feindliches Umfeld für bestimmte ethnische Gruppen aufgebaut, die als nicht assimilierbar angesehen werden.
Doch was ist mit den italienischen Branchen und Regionen, in denen die Anwesenheit ethnischer und religiöser Minderheiten unvermeidlich ist? Diesbezüglich ist die radikale Rechte der Ansicht, die nationale Einheit lasse sich nur sichern, wenn diese Gruppen in soziale Ghettos abgeschoben und isoliert werden. Sie müssen möglichst weit entfernt von demokratischen Einrichtungen und Orten untergebracht werden, wo sie möglichst nicht für ihre Rechte eintreten und ihre Stimme erheben können.
In einem Land mit etwa 59 Millionen Einwohnern, von denen aber mehr als fünf Millionen Ausländer und 1,62 Millionen italienische Staatsbürger nicht-europäischer Herkunft sind, birgt der Versuch, Migranten in eine dauerhafte gesellschaftliche Unterschicht zu verwandeln, jedoch die Gefahr, dass soziale Konflikte geschürt statt verhindert werden.
Wenn Führungspersönlichkeiten wie Scholz, Starmer und von der Leyen die Experimente Italiens aufmerksam beobachten, spiegelt dies eine deutliche Verschiebung in der europäischen Politik nach rechts wider. Beim italienischen Modell geht es um mehr als »nur« eine Verschärfung der Grenzkontrollen: Es geht um die Sicherung einer homogenen Gemeinschaft, die sich aggressiv einer ethnischen Vielfalt widersetzt, gleichzeitig aber die Mechanismen und Prinzipien der repräsentativen Demokratie für die Mehrheitsgesellschaft aufrechterhält. Es ist nichts anderes als ein Rückzug hin zu einem ethnisch und kulturell möglichst homogenen und einheitlichen Nationalstaat. Dieses Ziel mag anachronistisch erscheinen, doch für viele Menschen ist es heute offenbar erstaunlich verlockend.
Ein solches Ziel zu verfolgen, wird jedoch unweigerlich einen hohen menschlichen Preis mit sich bringen. Denn es steht auch für die Einschränkung demokratischer Grundsätze: Diese werden auf die Dominanz der Mehrheitsgesellschaft über Minderheiten und deren Rechte reduziert.
Giuliano Fleri ist Historiker mit Fokus auf Migration und Flucht an der Columbia University in New York City.