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03. September 2025

Linksliberale verstehen nicht, was die neue »NATO-Norm« bedeutet

Die meisten europäischen NATO-Länder haben Trumps Forderung nach einem 5-Prozent-Ziel freudig begrüßt. Linksliberale Kräfte kritisieren zwar mögliche Sozialkürzungen, stellen sich dem Aufrüstungskurs an sich aber nicht entgegen.

Die sozialdemokratische Partei von Frans Timmermans hat ein Wahlprogramm vorgelegt, das die haushaltspolitischen Auswirkungen ihrer eigenen Rüstungspolitik völlig außer Acht lässt.

Die sozialdemokratische Partei von Frans Timmermans hat ein Wahlprogramm vorgelegt, das die haushaltspolitischen Auswirkungen ihrer eigenen Rüstungspolitik völlig außer Acht lässt.

IMAGO / ANP

Die vergangenen Monate dürften als der »Sommer der Demütigung« in die europäische Geschichte eingehen. Im August wurden die europäischen Staats- und Regierungschefs zunächst ignoriert und dann doch noch zu einem Gespräch mit Donald Trump vorgelassen, wo sie wie »Schüler, die vor den Schulleiter zitiert werden«, standen und über die untergeordnete Rolle informiert wurden, die sie in den Friedensverhandlungen des US-amerikanischen Oberbefehlshabers in Sachen Ukraine spielen sollen.

Im Juli kam es zu demütigenden Handelsverhandlungen, in denen die selbsternannte Anführerin Europas, Ursula von der Leyen, das Scheitern des Vorzeigeprojekts eines halben Jahrhunderts europäischer Integration – des EU-Binnenmarktes – hinnehmen musste, um die USA dazu zu bewegen, sie als irgendwie gleichberechtigt zu betrachten. Zusätzlich zu den Zöllen für deutsche Automobilhersteller versprach sie Trump »Tributzahlungen« in Höhe von 750 Milliarden Dollar für Energiekäufe, 600 Milliarden Dollar für europäische Investitionen in den Vereinigten Staaten und eine noch nicht genau abzusehende Summe für amerikanische Militärgüter.

Kurz zuvor hatte es die wohl folgenschwerste Demütigung gegeben: Nach zwei Tagen voller peinlicher Unterwürfigkeit gratulierte der niederländische NATO-Generalsekretär Mark Rutte Trump per SMS dazu, dass letzterer den europäischen NATO-Mitgliedstaaten die Verpflichtung auferlegt hatte, mindestens 5 Prozent ihres BIP für Verteidigung auszugeben. Es ist eine Forderung, von der die Vereinigten Staaten selbst ausgenommen sind, ebenso wie der einzige europäische Abweichler Spanien.

Zuvor war von US-Seite jahrzehntelang versucht worden, die Europäer zur Verpflichtung zu bewegen, 2 Prozent ihres BIP für Waffen auszugeben. Man kann also von einer Revolution im Rüstungsbereich sprechen: »Sie werden etwas erreichen, was kein amerikanischer Präsident zuvor geschafft hat«, schrieb Rutte dementsprechend an Trump. »Europa wird in großem Stil zahlen, wie es sein sollte, und das wird Ihr Sieg sein.« Es war ein neuer Tiefpunkt in den asymmetrischen Beziehungen zwischen den USA und der EU. Gilles Gressani beschrieb die Situation treffend als Europas »willige Unterwerfung« unter seinen amerikanischen Herrn.

Diese Art von »Schutz« hat für die EU einen hohen Preis: Ihr nominales BIP beträgt rund 20 Billionen Dollar – jeder Prozentpunkt mehr bei den Verteidigungsausgaben bedeutet somit zusätzliche 200 Milliarden. Angesichts der Tatsache, dass die EU im Jahr 2024 bereits 382 Milliarden Dollar für Waffen ausgegeben hat (1,9 Prozent des BIP), würde das neue 5-Prozent-Ziel Gesamtkosten in Höhe von 1 Billion Dollar verursachen. Für Bildung werden EU-weit aktuell lediglich 806 Milliarden Euro (beziehungsweise 944 Milliarden Dollar oder 4,7 Prozent des BIP) ausgegeben.

Die neuen NATO-Forderungen lassen ein wenig Spielraum. So können 1,5 Prozentpunkte für verteidigungsrelevante Infrastruktur verwendet werden. Italiens Ministerpräsidentin Giorgia Meloni hat daher bereits angekündigt, sie wolle aus diesen Mitteln rund 15 Milliarden Dollar für eine Brücke nach Sizilien einsetzen. Kommentatoren weisen auch darauf hin, dass Produktion und Beschaffung von Rüstungsgütern in Europa bekanntermaßen sehr aufwendig sind. Angesichts der bereits bestehenden Kapazitätsengpässe sei es daher ohnehin unmöglich, in absehbarer Zukunft derartige Mittel auszugeben.

Dennoch: Die Zusagen sind keine Luftnummer, sie haben Gewicht. Der EU-Korrespondent der Financial Times Martin Sandbu drückt es so aus: »Es gibt kein ›leeres Gerede‹ […] Auf diese Weise werden Erwartungen geschürt und Machtgefüge gestaltet.«

Das Mantra der Austerität

Normalerweise wären die nun erwarteten Verteidigungsausgaben schwer mit den Haushaltszwängen zu vereinbaren, für die die Europäische Union ursprünglich gegründet wurde. Tatsächlich ging es bei der Schaffung der EU vor allem darum, den Sozialstaat einzudämmen, indem öffentliche Ausgaben und Schulden begrenzt werden. Dies wird besonders deutlich beim sogenannten Europäischen Semester, einem Prozess, der der nicht gewählten Europäischen Kommission weitreichende Kontroll- und Sanktionsrechte über die nationalen Haushalte einräumt. Die Mitgliedstaaten müssen dabei sicherstellen, dass ihre Haushaltsdefizite unter 3 Prozent des BIP bleiben und die Staatsverschuldung eine Obergrenze von 60 Prozent des BIP nicht überschreitet. Andernfalls droht ein sogenanntes »Verfahren bei einem übermäßigen Defizit«. Damit verfügt Brüssel über ein massives Druckmittel gegenüber den nationalen Regierungen.

All dies wurde 1992 mit dem Vertrag von Maastricht formalisiert. Inmitten des überschwänglichen neoliberalen Triumphgeheuls vom »Ende der Geschichte« schenkten zunächst jedoch nur wenige Mitgliedstaaten den neuen Regelungen Beachtung. Frankreich, Italien, Griechenland, Belgien, Spanien, Portugal und sogar Deutschland überschritten die Haushaltsvorgaben ungestraft. Das änderte sich 2010 mit der Eurokrise. Die lange Rezession in Europa (2010–2016) im Nachgang der globalen Finanzkrise war das direkte Ergebnis der Austeritätspolitik des europäischen Nordens. Die dortigen Staaten begannen – angestachelt von angloamerikanischen Anleiheinvestoren und mit nicht unerheblicher Unterstützung der Europäischen Zentralbank (EZB) – nun plötzlich, den Maastrichter Vertragstext ernst zu nehmen. Insbesondere Deutschland, die Niederlande und Österreich opferten das Wohlergehen ihrer eigenen Bürgerinnen und Bürger auf dem Altar der »Haushaltsdisziplin« – und erteilten Südeuropa eine ordoliberale Lektion.

Die meisten Mitgliedstaaten kamen mit ausgeglichenen öffentlichen Finanzen aus der Eurokrise heraus. Als jedoch Anfang 2020 Corona ausbrach, waren konzertierte und umfassende Haushaltsmaßnahmen erforderlich, um die makroökonomischen Auswirkungen der Pandemie abzufedern. In einer Notsituation wird offensichtlich alles verhandelbar, auch jahrzehntealte Verträge. Diesmal richtete die Europäische Kommission groß angelegte Notfallfonds ein und hob – freilich nur bedingt und vorübergehend – die Defizit- und Schuldenobergrenzen auf, um ihre Mitglieder bei der Bewältigung der Krise zu unterstützen.

»Angesichts der aktuellen Lage der europäischen Haushalte könnte eine Verdopplung der Zinsen für Staatsschulden schnell zu einer außer Kontrolle geratenen Defizitspirale führen.«

Kurz nach der Pandemie kam es zur nächsten Notlage, als Russland Anfang 2022 in die Ukraine einmarschierte und dadurch die europäische Verteidigung ganz oben auf die Tagesordnung gesetzt wurde. Das während der Pandemie entwickelte Modell erwies sich dabei als nützlich: Erneut machte die Europäische Kommission weitgehende Zusagen und gestattete den Mitgliedstaaten, ihre Defizitgrenzen zu überschreiten, ohne dass deswegen Strafmaßnahmen ergriffen und »Verfahren bei einem übermäßigen Defizit« gestartet würden.

So kam es zum EU-Ausgabenpaket »ReArm Europe«, das von der Leyen im März 2025 ankündigte. Es wurde bald in »Readiness/Bereitschaft 2030« umbenannt. Das neue Paket läuft auf eine einmalige Finanzspritze in Höhe von 150 Milliarden Euro für die europäische Verteidigungsindustrie hinaus, verbunden mit einer Reihe komplexer Bedingungen, unter denen »übermäßige Defizite« zulässig sind. All das hat ein übergeordnetes Ziel: Es muss mehr Spielraum in den Haushalten geschaffen werden, damit die neuen NATO-Normen erfüllt werden können.

Diese Konstruktion soll den Mitgliedstaaten außerdem helfen, erneute Austeritätspolitik zu vermeiden, die die Eurozone damals erschüttert und für den Aufstieg »populistischer Monster« gesorgt hat. Doch es handelt sich um derart hohe Beträge, dass angloamerikanische Anleiheexperten erneut Sorgen ob der Tragfähigkeit der Verschuldung bekommen könnten (sei es mit oder ohne Zutun der EZB). Solche Bedenken hatten 2009–10 zur Eurokrise geführt. Wenn bedeutende EU-Mitgliedstaaten wie Deutschland, Frankreich, Belgien, Italien und die Niederlande sich ausschließlich auf Schulden verlassen würden, um das neue NATO-Ziel zu erreichen, würde dies – unter ansonsten gleichbleibenden Bedingungen – zu folgenden Haushaltsdefiziten führen: Deutschland 5,7 Prozent (statt derzeit 2,8), Frankreich 8,8 Prozent (statt 5,8), Belgien 8,2 Prozent (statt 4,5), Italien 6,9 Prozent (statt 3,4) und die Niederlande 3,9 Prozent (statt 0,4).

In dieser Hinsicht ist es von entscheidender Bedeutung, wie die Tragfähigkeit der Verschuldung eingeschätzt oder wahrgenommen wird. Höhere Defizite führen in der Regel zu einer höheren Staatsverschuldung, was wiederum höhere Zinssätze zur Folge hat. Nehmen wir eine große EU-Volkswirtschaft als Beispiel: Frankreich, das derzeit Zinsen von 3,5 Prozent für seine zehnjährigen Staatsanleihen zahlt, müsste in diesem Fall mit einer Verdopplung rechnen – ein Wert, der dem einer weniger starken Volkswirtschaft wie Rumänien ähnelt. Das mag zunächst nach technischen Spielereien klingen, aber angesichts der aktuellen Lage der europäischen Haushalte könnte eine Verdopplung der Zinsen für Staatsschulden schnell zu einer außer Kontrolle geratenen Defizitspirale führen.

Dies würde wiederum den haushaltspolitischen Spielraum für andere Maßnahmen weiter einschränken, der in Europa ohnehin stark begrenzt ist, wie Armin Schäfer und Wolfgang Streeck bereits in ihrem 2013 erschienenen Werk Politics in the Age of Austerity gezeigt haben: In etablierten Wohlfahrtsstaaten wie denen Europas seien die meisten Ausgaben festgeschrieben, da sie langjährige Programme und Verpflichtungen beinhalten. Das bedeutet aber auch, dass nur relativ geringe Beträge für flexible staatliche Ausgaben zur Verfügung stehen.

Blick auf die Niederlande

Betrachten wir das Beispiel des Heimatlandes von NATO-Chef Rutte, die Niederlande (wo im Oktober Neuwahlen stattfinden). Von den staatlichen Gesamtausgaben in Höhe von 461 Milliarden Dollar im Jahr 2024 gingen 51 Milliarden Dollar an (hauptsächlich ausländische) Anleihegläubiger, was dies zum drittgrößten Haushaltsposten machte. Nach Angaben des Internationalen Währungsfonds machen die jährlichen Zinszahlungen für Staatsverschuldung 0,7 Prozent des BIP aus. Wenn den neuen NATO-Forderungen entsprochen würde, würde das niederländische Defizit auf 3,9 Prozent steigen, wofür dann wohl Zinssätze gezahlt werden müssten, die mit den heutigen Sätzen Italiens vergleichbar sind. Ebenfalls laut IWF würde sich dies dann auf 3,7 Prozent des BIP belaufen. Das wäre eine Versechsfachung der niederländischen Zinszahlungen. Wenn die neuen Verpflichtungen zu Rüstungsausgaben eingehalten werden, würden sich die jährlichen zusätzlichen Ausgaben des niederländischen Staates im Großen und Ganzen verdoppeln.

Angesichts dieser finanziellen Realität könnte man heftigen Widerstand seitens der größten sozialdemokratischen Kraft des Landes, der von Frans Timmermans angeführten Allianz Groen-Links, erwarten. Eine solche politische Kraft würde doch die Argumente des Sicherheitsestablishments und seine Rechtfertigung immer höherer Verteidigungsausgaben sicherlich nicht akzeptieren – insbesondere angesichts der langen sozialdemokratisch-grünen Tradition des Pazifismus und der Ablehnung des amerikanischen Imperialismus. Oder? Verfügbare Daten zeigen darüber hinaus, dass die europäischen Arsenale nicht leer sind; dass Europa bereits mehr ausgibt als Russland; dass es keinen Grund zu der Annahme gibt, Russland sei bereit (oder in der Lage), die NATO ernsthaft herauszufordern; und dass die Vereinigten Staaten weder dabei sind, ihren nuklearen Schutzschild aufzugeben, noch ihre Truppen vom europäischen Kontinent abzuziehen.

Andere Daten zeigen, dass höhere Verteidigungsausgaben in den kommenden Jahrzehnten auch einen Kurs mit höheren Emissionen bedeuten. »Grüne« Ambitionen werden da zur Farce. Auch hier könnte man also Widerspruch von Grün-Links erwarten. Doch weit gefehlt: Die Begeisterung, mit der sich praktisch alle europäischen Grünenparteien für mehr Waffen einsetzen, wirft ernsthafte Fragen auf, wie wichtig grüne Anliegen eigentlich noch sind.

»Die Situation in den Niederlanden scheint zu veranschaulichen, inwiefern die europäische Linke die tatsächlichen haushaltspolitischen Konsequenzen der neuen NATO-Standards ignoriert oder leugnet.«

Gleichzeitig sind nach jahrzehntelanger Austeritätspolitik – an der in den Niederlanden sowohl die Grünen als auch die sozialdemokratische PvdA beteiligt waren – die niederländische Infrastruktur und die öffentlichen Dienstleistungen dringend sanierungsbedürftig (wie auch überall sonst im austeritätsgebeutelten Europa). Das sollte doch reichen, um den »Ottonormalwähler« zurückzugewinnen, der sich von der Timmermansschen Sozialdemokratie ab- und den Rechtspopulisten von Geert Wilders zugewendet hat.

Doch auch das ist fraglich. Bislang hat Timmermans Groen-Links vor allem als eine Allianz präsentiert, die über die Fähigkeiten, die Erfahrung und die Autorität verfügt, um das Land sicher durch die unruhigen Gewässer geopolitischer Turbulenzen zu steuern. Mit Blick auf die Wahlen am 29. Oktober hat seine Parteienallianz allerdings ein Programm vorgelegt, das die budgetären Auswirkungen der eigenen Kriegstreiberei völlig außer Acht lässt. Unter anderem möchte Timmermans’ Truppe Großviehhalter enteignen; 100.000 neue Wohnungen pro Jahr bauen; die Krankenkassenbeiträge senken; Sozialwohnungen besser isolieren; die Löhne anheben; mehr Lehr- und Krankenpflegepersonal einstellen; mehr Eisenbahnschienen verlegen; die Kosten für den öffentlichen Nahverkehr senken und einen Kreditfonds in Höhe von rund 20 Milliarden Euro für neue Industrien einrichten.

Berechnungen zufolge könnte dies zu zusätzlichen Ausgaben in Höhe von fünf Prozent des BIP führen. Dann sprächen wir von einem Defizit von neun Prozent oder mehr – vergleichbar mit dem Rumäniens, das diesbezüglich aktuell das schlechteste Ergebnis in der EU aufweist. Rumänien zahlt auf zehnjährige Staatsanleihen eine Rendite von nicht weniger als 7,35 Prozent, mehr als doppelt so viel, wie die niederländische Regierung unter den neuen Rahmenbedingungen des neuen NATO-Ziels zahlen müsste. Unterm Strich könnten sich die grün-linken Vorstellungen also zu einer weiteren Verdopplung der niederländischen Kreditkosten in Höhe von umgerechnet 86 Milliarden Dollar niederschlagen. Dies würde den ohnehin schon begrenzten Haushaltsspielraum noch weiter einschränken.

Keine Frage: Es sind allesamt sinnvolle progressive Ziele. Doch selbst unter den besten Umständen dürfte es ein schwieriger Kampf sein, im zersplitterten niederländischen Parlament eine Mehrheit für derartige Politikansätze zu finden. Angesichts der langjährigen Austeritätstradition der Niederlande bräuchte es in jedem Fall einer überzeugenden Erklärung, wie sich solche Pläne solide finanziell absichern lassen. Und es ist offensichtlich, dass wir aktuell nicht die besten Umstände vorfinden. Diese Erkenntnis macht die im Programm sogar zweimal wiederholte Zusicherung, dass »höhere Verteidigungsausgaben nicht zu Kürzungen bei den öffentlichen Dienstleistungen oder zu einer Beeinträchtigung der grünen Ambitionen führen werden«, eher zu unaufrichtigem Wunschdenken als zu einem politischen Versprechen, auf das man vertrauen kann.

Hinzu kommt: Um eine stabile Regierung zu bilden, sind in den Niederlanden Koalitionen aus zwei, drei oder vier Parteien die Regel. Nach drei Jahren massiver Pro-NATO-Propaganda von allen Seiten sind sich nahezu alle einig, dass die Verteidigungsausgaben erhöht werden müssen. Für den Rest des grün-linken Programms gibt es hingegen keinen Konsens. Daher ist leicht vorherzusagen, wie das Ergebnis der Koalitionsverhandlungen nach der Wahl aussehen wird: höhere Verteidigungsausgaben – und nicht viel mehr.

Mehr Wunschdenken lässt sich in den Aussagen von Groen-Links zur Rüstungsindustrie selbst beobachten. Um dem erwarteten Gewinnboom der Branche eine Obergrenze zu setzen, wird eine teilweise Verstaatlichung vorgeschlagen. Damit wolle man »sicherstellen, dass die Gewinne in die öffentliche Kasse zurückfließen«. Das klingt zunächst smart, wenngleich weitergehende Details im Programm fehlen. Doch dann muss man feststellen, dass das niederländische Militär mehr als 95 Prozent seiner Ausrüstung von US-Waffenherstellern wie Lockheed Martin bezieht. Es ist somit schwer vorstellbar, wie hier eine öffentliche Beteiligung oder gar Teil-Verstaatlichung funktionieren soll. Somit handelt es sich auch in diesem Fall eher um Wunschdenken als um einen ernstzunehmenden politischen Vorschlag.

Wunschdenken und unausgegorene Konzepte

Groen-Links ist bewusst, dass neue Schulden allein nicht ausreichen werden. Man baut daher auf ein gewisses Gemeinschaftsgefühl und Solidarität im Land – nicht etwa auf sozialistische Politik. Im Programm finden sich die Wörter »wir« und »gemeinsam« 300 beziehungsweise 202 mal; »Klasse« schafft es hingegen nur achtmal hinein – meist im Sinne von Schulklassen. Die Partei baut auf die vermeintlich Reichen, um Finanzmittel zu beschaffen, und will entsprechend den Hypothekenzinsabzug sowie explizite und implizite Subventionen für große Umweltverschmutzer abschaffen. Somit werden Unternehmen und (wohlhabende) Hausbesitzer ins Visier genommen. Durch die Hypothekenzinsen sollen sowohl Einnahmen generiert als auch jungen Erstkäufern (also neuen Hausbesitzern) der Zugang zum Wohnungsmarkt erleichtert werden, während mit dem zweiten Maßnahmenpaket Umweltverschmutzer zu umweltfreundlichem Handeln motiviert werden und dabei ebenfalls Einnahmen generiert werden sollen.

Bei genauerer Betrachtung zeigt sich jedoch, dass dies mehr Schein als Sein ist. Auf dem Papier würde die erste Maßnahme jährlich zwar rund 9 Milliarden Euro einbringen. Dies ist jedoch weniger als ein Zehntel des benötigten Betrags. Darüber hinaus würde die Maßnahme neuen Hausbesitzern wohl nicht im Geringsten helfen: Die Abschreibung würden nicht nur die Immobilienpreise erhöhen, sondern auch den verfügbaren Kreditraum, was bedeutet, dass die Initiative für neue Hausbesitzer netto keinen Gewinn bringt. Gleichzeitig würde dies die finanziellen Aussichten von mehr als 3,5 Millionen niederländischen Hypothekenschuldnern – also gut sieben Millionen von insgesamt 13,3 Millionen Wählerinnen und Wählern – ernsthaft beeinträchtigen, die darauf angewiesen sind, durchschnittlich knapp 8.000 Euro pro Jahr abschreiben zu können, um ihre Wohnkosten zu decken.

Der zweite Ansatz würde auf dem Papier noch mehr einbringen, nämlich 37,5 Milliarden Euro pro Jahr. Allerdings handelt es sich dabei größtenteils um ebenso illusorische wie implizierte Einnahmen, die nur durch die Einführung besonders hoher CO2-Steuern verbucht werden könnten – was in der Realität selbst unter den besten politischen Umständen kaum zu realisieren ist. Angesichts der starken Abhängigkeit der niederländischen Verbraucher von den Produkten dieser Umweltverschmutzer würden die daraus resultierenden Preissteigerungen sofort zu einer Lebenshaltungskostenkrise führen, insbesondere wenn beide Maßnahmen kombiniert werden. Das würde bei einem Großteil der Wählerschaft natürlich nicht gut ankommen, die viel beschworene Solidarität würde schnell auf die Probe gestellt und Politiker, darunter auch diejenigen von Groen-Links, sähen sich bald dazu gezwungen, die besagten Reichen (die eigentlich die Mittelschicht sind) erneut finanziell zu entschädigen. So funktioniert Politik angesichts einer stark finanzialisierten Wohnraumversorgung. Es ist daher schwer vorstellbar, wie ein solcher Ansatz die klaffende Finanzierungslücke schließen soll.

Zusammenfassend lässt sich sagen: Die Situation in den Niederlanden scheint zu veranschaulichen, inwiefern die europäische Linke die tatsächlichen haushaltspolitischen Konsequenzen der neuen NATO-Standards ignoriert oder leugnet. Timmermans’ Groen-Links ist eine gemäßigt reformerische Kraft, stellt sich aber als eine Partei dar, die die Welt in jeder Hinsicht verändern will – und zwar sofort: Die Niederlande sollen umfassend aufgerüstet, die Umwelt vor kapitalistischer Zerstörung bewahrt und die Schäden von dreißig Jahren neoliberaler Austeritätspolitik behoben werden.

Das ist bestenfalls Augenwischerei und schlimmstenfalls ein Patentrezept für noch mehr unzufriedene Wähler. Denn diese werden schlichtweg nicht bekommen, was ihnen versprochen wurde, und nur das, was sie garantiert nicht brauchen – nämlich ein prall gefülltes Waffenarsenal und die ständige Angst vor einer militärischen Eskalation. Wenn dies die Marschrichtung der europäischen Linken sein soll, sind die langfristigen Folgen nicht schwer vorherzusagen: weitere Niederlagen der grünen oder »progressiven« Kräfte in ganz Europa, mehr enttäuschte Wählerinnen und Wähler, geringere Wahlbeteiligung, mehr Ressentiments und Wut sowie langfristig eine noch stärkere Hinwendung zu Rechtspopulisten als wir sie ohnehin bereits erleben.

Es gibt nur einen Weg, all dies zu vermeiden: Diese Kräfte müssen anerkennen, dass eine »Wiederbewaffnung« Europas unweigerlich Tötungsmaterial für die Armeen und Austerität für den Rest von uns bedeutet. Da es sich hierbei um eine vermeintliche »Sicherheitskrise« handelt, die in einer objektiven geopolitischen Betrachtung nur eine schwache Grundlage hat, liegt der Ausweg auf der Hand: die neuen NATO-Forderungen ablehnen, die Kriegsparteien an den Verhandlungstisch bringen und eine breitere Diskussion darüber beginnen, wie eine eurasische Sicherheitsordnung aufgebaut werden kann. Tatsächlich hätte dies von Anfang an das Ziel der europäischen Linken sein müssen.

Ewald Engelen ist Professor für Finanzgeografie an der Universität Amsterdam. Er schreibt für »De Groene Amsterdammer« und arbeitet derzeit an einem Buch über Bauernproteste in Europa.