06. Juni 2025
Rafał Trzaskowski hatte das perfekte Profil, um Polens proeuropäischer Präsident zu werden. Seine Niederlage gegen den rechten Karol Nawrocki zeigt, dass sich das liberale Establishment immer weniger in Mittelschicht und Arbeiterklasse halten kann.
Der scheidende polnische Präsident Andrzej Duda trifft den designierten Präsidenten Karol Nawrocki im Präsidentenpalast in Warschau, 3. Juni 2025.
Zur Überraschung von Kommentatoren sowohl in Polen als auch im Ausland ist der bevorzugte Kandidat von Ministerpräsident Donald Tusk – der hochgebildete, international angesehene Liberale Rafał Trzaskowski – nicht zum nächsten Präsidenten Polens gewählt worden.
Der ehemalige EU-Parlamentsabgeordnete, Kabinettsminister, Bürgermeister von Warschau und stellvertretende Vorsitzende der Bürgerplattform (PO) verkörpert alles, was westliche Eliten seit 1989 in der Region mit Wohlwollen beobachtet hatten. Trzaskowski steht für technokratische Kompetenz, gute transatlantische Referenzen und einen unerschütterlichen Glauben an die liberale Demokratie.
Sein Gegner Karol Nawrocki wurde während des gesamten Wahlkampfs hingehend weitgehend als Witzfigur betrachtet. Als Leiter des staatlichen Instituts für Nationales Gedenken (Instytut Pamięci Narodowej, IPN) hatte Nawrocki jahrelang seine obsessive antikommunistische Agenda vorangetrieben. Dabei glorifizierte er nicht selten rechtsextreme Widerstandsgruppen aus der Zwischen- und Nachkriegszeit Polens. Doch Nawrocki hat mehr zu bieten als nur Geschichtsrevisionismus: Er hat auch eine sehr bewegte persönliche Vergangenheit, mit mutmaßlichen Verbindungen zur Gdańsker Mafia in den 1990er Jahren, guten Kontakten zu Fußball-Hooligangruppen und der Beteiligung an illegalen Reprivatisierungen von Wohnraum.
Wie auch immer: In den Fernsehdebatten wirkte der tabakkauende Nawrocki wie die Antithese zur gepflegten liberalen professional class, die Trzaskowski repräsentiert. Und trotzdem gewann er die Wahl. Es war ein knapper, aber höchst bedeutender Sieg. Denn es war nicht nur eine Niederlage für Trzaskowski und seinen Wahlkampf. Vielmehr zerschlägt Nawrockis Erfolg einmal mehr die Vorstellung vom langen Reformmarsch der postkommunistischen Länder Mittelosteuropas in Richtung einer liberalen Zukunft.
Trotz Trzaskowskis größerer Wahlkampfmaschinerie und der Unterstützung der öffentlich-rechtlichen Medien konnte das liberale Lager die Wählerschaft nicht überzeugen. Die nationalkonservative Partei Recht und Gerechtigkeit (PiS) von Jarosław Kaczyński stellte mit Nawrocki einen katastrophal schlechten Kandidaten auf – und triumphierte dennoch. Allein diese Tatsache zeigt, wie sehr der Liberalismus in der Region lahmt.
Es ist schwer vorstellbar, wie sich dies wieder umkehren ließe. Selbst für Zentristen hoffnungsvolle Zeichen wie der Sieg des proeuropäischen Konservativen Nicușor Dan in Rumänien können den allgemeinen Trend in der Region nicht verhehlen: Ungarn, die Slowakei oder auch das Nicht-EU-Land Serbien gleiten weiter in den Autoritarismus ab. Darüber hinaus scheint der Einfluss Russlands immer größer: Mehr als 20 Prozent der polnischen Wählerinnen und Wähler haben in der ersten Wahlrunde Kandidaten mit expliziten oder impliziten Pro-Putin-Positionen unterstützt.
»Um den unerwarteten Sieg von Nawrocki bei den Präsidentschaftswahlen 2025 zu verstehen, muss man (wie immer) bei der Klasse ansetzen.«
Wer also ist Karol Nawrocki? Er ist ein Historiker, der zum politischen Strippenzieher wurde, Ex-Direktor des Danziger Museums für die Geschichte des Zweiten Weltkriegs und seit 2021 Präsident des IPN. Er steht für alles, was die liberalen Eliten verachten: Vulgarität, Vetternwirtschaft und reaktionäre Nostalgie. Nawrocki versucht kaum, dies zu verbergen. Sein Wahlslogan im Stile von »America First« lautete: »An erster Stelle Polen. An erster Stelle die Polen.« Er geriert sich als Selfmademan, als normaler Typ »aus echtem Fleisch und Blut«, der für das einfache Volk spreche. In einer letzten TV-Debatte zitierte er – offenbar aus Angst vor einer drohenden knappen Niederlage gegen Trzaskowski – aus der Bibel.
Am Ende gewann er. Und er siegte in erster Linie, weil Trzaskowski verlor. Tatsächlich haben die Liberalen in vielerlei Hinsicht versagt. Bei den letzten Parlamentswahlen hatte Tusks Team mit der Wiederherstellung von Demokratie und Rechtsstaatlichkeit Wahlkampf gemacht. Doch schon wenige Monate nach ihrer Machtübernahme im Oktober 2023 war die Regierung in diverse Skandale verwickelt. Über diese mag in der internationalen Presse nicht so viel berichtet worden sein, doch in Polen sind sie wohlbekannt.
Investigative Journalisten wie Szymon Jadczak (von Wirtualna Polska, einem der führenden Nachrichtenportale des Landes) hatten beispielsweise berichtet, die Staatsanwaltschaft habe die Akteneinsicht über Persönlichkeiten wie den Pro-Tusk-Politiker (und ehemaligen faschistischen Aktivisten) Roman Giertych verweigerte. Staatliche Stiftungen (beziehungsweise staatsnahe wie die Akcja Demokracja) wichen unangenehmen Fragen zur Verwendung öffentlicher Gelder aus. Berichte über potenzielle Wahlbeeinflussung wurden mit Verweis auf juristische Spitzfindigkeiten zurückgehalten. Selbst der neue öffentlich-rechtliche Rundfunk, der als Ersatz für die Propagandamaschine der vorherigen PiS-Regierung geschaffen worden war, verbreitete teils parteiische Fake News statt unabhängigen Journalismus zu bieten.
Für eine Koalition, die mit Versprechen von Rechtsstaatlichkeit und Transparenz gewählt worden war, war dies verheerend. Hinter verschlossenen Türen rechtfertigten regierungsnahe Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler die Vorgehensweise der Liberalen mit philosophischen Verrenkungen und verwiesen beispielsweise auf Giorgio Agambens »Theorie vom Ausnahmezustand«. Die implizite Botschaft: Das Recht kann durchaus ausgesetzt werden, um die Demokratie zu wahren.
Es gab keinerlei ernsthafte Reformen – weder Tusks neoliberales Versprechen einer »absoluten Deregulierung« noch andere tiefgreifende wirtschaftliche Veränderungen. Die »Schocktherapie 2.0«, die sich einige wirtschaftsfreundliche Liberale vorgestellt hatten, fand schlichtweg nicht statt. Letztendlich bekamen die Wählerinnen und Wähler, die radikale Veränderungen erwartet hatten, kaum mehr als leere Worte. Es überrascht nicht, dass Tusk innerhalb eines Jahres nach seinem Amtsantritt in den Beliebtheitsumfragen ähnlich schlecht dastand wie sein PiS-Vorgänger Mateusz Morawiecki auf dem Höhepunkt der Coronavirus-Krise.
Vor diesem Hintergrund konnte sogar ein schwacher Kandidat wie Nawrocki die Präsidentschaftswahl gewinnen. Mit seinem Sieg könnte der liberale Traum im Mitteleuropa nach 1989 endgültig ausgeträumt sein.
Um den unerwarteten Sieg von Nawrocki bei den Präsidentschaftswahlen 2025 zu verstehen, muss man (wie immer) bei der Klasse ansetzen. Der in den liberalen und internationalen Medien geäußerte Schock steht in krassem Gegensatz zu dem, was aus historisch-materialistischer Sicht absolut vorhersehbar war: Ein liberales Regime, das der breiten Masse keine materiellen Vorteile verschaffen kann, wird früher oder später unter dem Gewicht seiner eigenen Widersprüche zusammenbrechen. In dem daraus entstehenden Vakuum gedeiht die radikale Rechte, indem sie Ordnung, Identität und ein (falsches) Gefühl der nationalen Gemeinschaft verspricht.
Wie ich bereits zuvor (unter anderem in Jacobin) angemerkt habe, wird die öffentliche Meinung und Stimmungslage in Polen nicht konsistent und strukturell nach Klassenunterschieden erfasst. Es gibt keine Standardvariablen, mit denen sich die Klassenzugehörigkeit direkt erfassen ließe – insbesondere, wenn Klassen nicht nur anhand des Verhältnisses zu den Produktionsmitteln definiert werden, sondern auch anhand von Bildung und Identität (oder allgemeiner: anhand des Lebensstils). Dennoch lassen sich aus Berufsgruppen- und Bildungsdaten gewisse Muster ableiten.
»Wenn die Kleinbourgeoisie innerhalb der liberalen kapitalistischen Struktur keinen gangbaren Weg für den eigenen sozialen Aufstieg mehr sieht, und wenn ihr von einer fest verwurzelten Elite echte ökonomische Teilhabe verwehrt wird, dann wendet sie sich nach rechts.«
Die jüngste Ipsos-Umfrage für den Fernsehsender TVN24 ist diesbezüglich besonders erhellend. Die Daten zeigen einen auffälligen Klassenunterschied: Unter den Wählern mit lediglich einem Grundschulabschluss gewann Nawrocki beeindruckende 73,4 Prozent der Stimmen. In der Gruppe der sogenannten Berufsschulabsolventen lag er mit 68,3 Prozent ebenfalls deutlich vorn. Die Unterstützung für Trzaskowski steigt erst bei Personen mit höheren Schulabschlüssen – in dieser Gruppe lagen die beiden Kandidaten praktisch gleichauf – und nur bei den Hochschulabsolventen lag er tatsächlich klar vorn (62,6 Prozent). Das Muster ist bekannt: Je höher die formale Bildung, desto wahrscheinlicher wird für den liberalen Kandidaten gestimmt; je niedriger hingegen die Schulbildung, desto häufiger wird die autoritäre Rechte gewählt.
Die Aufschlüsselung nach Berufsgruppen ergibt ein ähnliches Bild. Nawrocki triumphierte bei den Landwirtinnen und Landwirten (84,6 Prozent) sowie den Industriearbeitern (68,4 Prozent). Er lag auch bei den Arbeitslosen (64,7 Prozent) und den Rentnern (50,5 Prozent) vorn. Trzaskowski schnitt dagegen bei der städtischen Mittelschicht besser ab: bei den Höhergebildeten, den Führungskräften und bei den Studierenden. Interessanterweise gewann Nawrocki sogar unter Kleinunternehmern (einer Gruppe, um die die Liberalen oft buhlen) mit 57,1 Prozent. Dabei zeigt sich die tatsächliche Basis seiner Anhängerschaft: Es handelt sich weniger um die »Arbeiterklasse« im klassischen Sinne, sondern um eine fragmentierte untere Mittelschicht, sprich: diejenigen, deren relativer sozialer Status bedroht ist und die sich vom liberalen System ausgeschlossen oder hintergangen fühlen.
Einige linke Intellektuelle in Polen, die einer nostalgisch verklärten »Volkspolitik« im Sinne von »Herrschaft des Volkes« nachtrauern, haben Nawrockis Sieg als demokratisches Korrektiv bejubelt. Ähnlich verwendet Kaczyńskis Partei eine populistische Anti-Eliten-Rhetorik (und ebenso verspüren Teile einer reaktionären Linken in Osteuropa sogar eine gewisse Sympathie für Donald Trump). Es gibt einen starken Vorbehalt – insbesondere unter denjenigen, die sich an die Übergangsphase der 1990er Jahre erinnern, die sie mitgestaltet haben – gegen Liberale, die allzu oft und allzu offen ihre Verachtung für das »gemeine Volk« zum Ausdruck bringen.
Doch das ist Illusion. Wir haben bei den jüngsten Wahlen nicht das Erstarken einer Macht des Volkes, sondern lediglich den politischen Ausdruck kleinbürgerlicher Ressentiments erlebt. Die Stimmen, die Nawrocki den Sieg bescherten, kamen nicht von Gewerkschaften oder anderen Arbeiterorganisationen, sondern von atomisierten Individuen auf dem Land, von Eigentümern, die um ihren Besitz bangen, und von Menschen, deren sozioökonomische Mobilität unter der neoliberalen Ordnung zumindest ins Stocken geraten ist.
Das ist der klassische Nährboden für autoritäre Erfolge: Wenn die Kleinbourgeoisie innerhalb der liberalen kapitalistischen Struktur keinen gangbaren Weg für den eigenen sozialen Aufstieg mehr sieht, und wenn ihr von einer fest verwurzelten Elite echte ökonomische Teilhabe verwehrt wird, dann wendet sie sich nach rechts. In diesem Sinne spiegelt Nawrockis Sieg Dynamiken wider, die wir auch anderswo beobachten können. Es handelt sich weniger um eine Revolte der Massen als um eine Panik unter provinziellen Klassenfraktionen. Es ist die Wahlentscheidung derjenigen Menschen, die sich »im Stich gelassen« fühlen – nicht vom früheren Sozialismus, sondern vom darauffolgenden Liberalismus, der seine Versprechen nie eingehalten hat.
Letztlich ging es im jüngsten polnischen Wahlkampf nicht um Themen oder Visionen. Nawrocki trat als Symbolfigur an – als Mann des Volkes, als streitlustiger Pöbler, als Nationalist, der »die Eliten« verachtet. Sein »An erster Stelle Polen« traf den Nerv vieler Menschen, die sich entmündigt fühlen. Trzaskowski hingegen schien trotz all seiner technokratischen Qualifikationen nichts als ein »Weiter so« zu verkörpern. Und für viele bedeutet »Weiter so« nun einmal Stagnation.
Trzaskowskis Wahlkampf war geprägt von Skandalen, Heuchelei und dem zynischen Einsatz juristischer Spitzfindigkeiten, um öffentliche Kontrolle und Transparenz zu verhindern. Wählerinnen und Wähler, denen nach den Jahren der PiS-Regierung ein Wiederherstellen der »Rechtsstaatlichkeit« versprochen worden war, erlebten stattdessen dieselbe Intransparenz, dieselben Taschenspielertricks und Ausflüchte – nur mit anderen Gesichtern.
»Das Endergebnis der Präsidentschaftswahl spiegelt nicht nur Entwicklungen innerhalb der polnischen Politik wider, sondern steht sinnbildlich für ein breiteres regionales Phänomen.«
Spätestens zum Zeitpunkt der zweiten Wahlrunde um die Präsidentschaft hatte die Tusk-Regierung einen Großteil ihrer Legitimität eingebüßt. Ihre Reformen waren ins Stocken geraten, ihre Versprechen gebrochen. Der liberale Traum eines europäischen Konstitutionalismus, einer von Sitte, Anstand und Konsens geprägten Regierungsführung, war auf die Probe gestellt worden – und gescheitert. Die Folge: eine Gegenbewegung, die nicht angeführt wurde von faschistischen Massen, sondern von Klassen, deren Loyalität gegenüber der liberalen Demokratie schon immer eine lediglich bedingte war.
Nawrockis Sieg wurde derweil von internationalen rechtsextremen Strömungen bejubelt. Donald Trump feierte das Wahlergebnis mit einem Tweet, in dem er lobte: »Herzlichen Glückwunsch, Polen, ihr habt einen GEWINNER gewählt!«
Bezeichnend für seine ideologischen Bezugspunkte war derweil auch, dass Nawrocki nach der Bekanntgabe der Ergebnisse eine Bibelstelle zitierte, die 2. Chronik 7,14: »Und dann mein Volk, über das mein Name genannt ist, sich demütigt, dass sie beten und mein Angesicht suchen und sich von ihren bösen Wegen bekehren, so will ich vom Himmel her hören und ihre Sünde vergeben und ihr Land heilen.« Für viele gläubige Christen mag dieser Ausspruch an Blasphemie grenzen, doch er traf den Nerv rechtsradikaler Politiker in der gesamten Region, die Nawrocki herzlich gratulierten.
Das Endergebnis der Präsidentschaftswahl spiegelt nicht nur Entwicklungen innerhalb der polnischen Politik wider, sondern steht sinnbildlich für ein breiteres regionales Phänomen. So deuten beispielsweise mit Blick auf die für diesen Herbst geplanten Parlamentswahlen in der Tschechischen Republik erste Anzeichen darauf hin, dass auch dort eine rechtsradikale, kleinbürgerliche Bewegung unter Andrej Babiš den Sieg davontragen könnte.
All dies verdeutlicht die tiefgehende Krise der liberalen Ordnung post-1989, die – unfähig, den Enttäuschten substanzielle ökonomische und soziale Zugewinne zu verschaffen – zunehmend durch radikale Alternativen untergraben wird.
Krzysztof Katkowski ist Publizist und Soziologe in Warschau. Er veröffentlicht unter anderem in OKO.press und der Dziennik Gazeta Prawna.